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Periphere Wahrnehmung und Stresserleben

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In meinem Artikel Mach es wie die Möwe schreibe ich über die Qualität der peripheren Wahrnehmung – also jener Form der Aufmerksamkeit, die nicht fokussiert, sondern weit, weich und aufnehmend ist. Die Möwe dient dabei als Metapher für eine offene, entspannte Wachsamkeit: Sie nimmt wahr, was um sie herum geschieht, ohne sich dabei in Details zu verlieren. Diese Form der Wahrnehmung steht im Kontrast zum Tunnelblick, den viele Menschen im Alltag – besonders in stressgeladenen Situationen – entwickeln. Ich beschreibe, wie eine bewusste Rückkehr zu einem weicheren, peripheren Sehen nicht nur die Sinne entlastet, sondern auch die innere Präsenz fördert. Es geht um eine Aufmerksamkeit, die nicht kontrollieren will, sondern sich einlässt – eine Haltung, die sowohl in der Selbstwahrnehmung als auch im Kontakt mit anderen eine heilsame Wirkung entfalten kann.

Im Artikel Augenstress und der wohltuende Wald gehe ich stärker auf physiologische und ökologische Aspekte der visuellen Wahrnehmung ein. Ich beschreibe, wie künstliches Licht, Bildschirmarbeit und monotone Reize unsere Augen überfordern und zu einem angespannten Sehverhalten führen – ein Zustand, der oft mit innerem Stress gekoppelt ist. Der Wald wirkt hier wie ein Gegenmittel: Die natürlichen Reize – weiche Grüntöne, wechselnde Lichtverhältnisse, Tiefenstaffelung, Bewegungen im Randbereich – aktivieren automatisch die periphere Wahrnehmung. Dadurch entspannen sich nicht nur die Augen, sondern auch das Nervensystem. Der Blick weitet sich, das vegetative System reguliert sich. Studien belegen, dass Aufenthalte in der Natur – besonders im Wald – das parasympathische Nervensystem aktivieren, Stresshormone senken und die visuelle Ermüdung reduzieren.

Beide Texte verbindet die zentrale Erkenntnis, dass unsere visuelle Aufmerksamkeit ein Schlüssel für unser Stresserleben ist – und dass die Fähigkeit, den Blick zu weiten, mehr ist als eine optische Entscheidung. Es ist eine Haltung: weniger Kontrolle, mehr Verbundenheit. Weniger Fokus auf das Problem – mehr Wahrnehmung für das, was sonst noch da ist.

Die unterschätzte Kraft der peripheren Wahrnehmung

Was wir sehen, ist oft nicht nur das, worauf wir direkt schauen. Periphere Wahrnehmung meint die Fähigkeit, Dinge zu bemerken, die außerhalb unseres direkten Blickfeldes liegen – rechts, links, oben, unten. Wir sehen sie nicht „direkt“, aber sie sind da. Und unser Körper reagiert darauf. Diese Art des Sehens wirkt oft wie ein Hintergrundrauschen – und ist doch zentral für Orientierung, Sicherheit und innere Ruhe.

Wenn der Blick eng wird

In stressigen Momenten verengt sich unser Blickfeld. Die Sehschärfe nimmt ab, wir sehen verschwommen, Details verschwinden. Das Scharfstellen wird mühsam, das binokulare Sehen – also die Zusammenarbeit beider Augen – gerät aus dem Gleichgewicht. Unsere Augen „frieren ein“. Und damit auch unsere Wahrnehmung. Der Tunnelblick ist kein Zufall, sondern eine uralte Stressreaktion. Doch was, wenn wir bewusst gegensteuern?

Weich schauen, weit werden

Ein einfacher erster Schritt: in die Natur schauen. Der weiche Blick in die Ferne, auf den Horizont oder in die Weite eines Waldes, lässt die Augenmuskulatur entspannen. Wir müssen nichts fixieren, nichts kontrollieren. Die Umgebung fließt uns zu. Die periphere Wahrnehmung wird aktiviert – und oft beruhigt sich dabei auch das Nervensystem.

Kleine Übung: Finger am Rand

Eine wirkungsvolle Übung: Strecke beide Arme seitlich aus, Daumen nach oben. Dann bewege langsam einen Finger von hinten ins Blickfeld – erst von rechts, dann von links. Sobald du ihn siehst, halte ihn an. Dein Blick bleibt geradeaus. Beide Finger sind nun am Rand deines Blickfelds sichtbar – ohne dass du sie direkt anschaust. Was nimmst du im Körper wahr? Wie ist deine Atmung? Deine Spannung? Deine Wärme? Oft wird uns genau hier bewusst: Wahrnehmung wirkt – bis tief in den Körper.

Nahfokus engt ein

Wenn wir ständig auf Bildschirme, Bücher oder Handys schauen, trainieren wir vor allem den Nahfokus. Die Linse des Auges stellt sich darauf ein – und verlernt zunehmend, in die Ferne zu schauen. „Use it or lose it“, sagt man. Wer die Ferne nicht nutzt, verliert sie. Einfache Gegenübung: Strecke deinen Arm aus, Daumen hoch. Wechsle nun langsam den Blick zwischen dem Daumen und der weiter entfernten Umgebung. Lass deine Augen arbeiten – ganz ohne Anstrengung. Und spüre danach: Wie fühlen sich deine Augen jetzt an?

Augen in Bewegung: Sprünge trainieren

Noch eine Übung: Strecke beide Arme aus, Daumen hoch. Springe nun mit deinem Blick von einem Daumen zum anderen – bewusst, aber ohne Hektik. Lass die Augenmuskeln arbeiten, wie bei einem sanften Workout. Mach das für 3 bis 5 Minuten – und beobachte dann: Wie ist die Klarheit deines Sehens? Hat sich etwas in deiner Präsenz verändert?

Wenn Stress auf die Augen schlägt

Stress betrifft nicht nur Herz und Kopf – sondern auch die Augen. Viele Menschen erleben unter Anspannung:

  • trockene, müde Augen
  • verschwommenes Sehen
  • vermehrtes Lichtempfinden
  • Lidzucken oder nervöse Zuckungen rund ums Auge

Das liegt auch daran, dass sich bei Stress die Pupillen erweitern, die Augenmuskulatur verspannt und die Blinzelfrequenz abnimmt. Besonders bei dauerhaftem Stress zeigt sich das schnell – vor allem bei Bildschirmarbeit und wenig Bewegung.

Eine Geschichte aus der Praxis

Die Optometristin Roshni Patel berichtet von einer Patientin, die mit hartnäckigem Lidzucken zu ihr kam. Die Frau war verunsichert, befürchtete etwas Ernstes – und hatte gar nicht bemerkt, wie stark sie unter Druck stand. Erst in der Untersuchung wurde deutlich: Es war der Stress. Mit mehr Schlaf, bewusster Entspannung und einfachen Hausmitteln wie kalten Kompressen konnte sie sich selbst helfen. Der Blick auf das Auge wurde so zu einem Blick auf das Leben.

Fazit: Peripher sehen, zentral spüren

Die periphere Wahrnehmung ist mehr als ein optischer Trick – sie ist eine Einladung an das ganze Nervensystem. Wenn wir unseren Blick weiten, weitet sich oft auch unser Erleben. Wir kommen raus aus dem Tunnel – hinein in ein Gefühl von Verbundenheit, Präsenz und innerer Weite. Und das beginnt mit einem einfachen Schritt: bewusst hinschauen – auch auf das, was wir nicht direkt ansehen.

Selbsttest: Wie weit ist dein Blick?

Nimm dir zwei Minuten Zeit und beantworte die folgenden Fragen spontan – ohne zu lange zu überlegen:

  1. Wie oft schaust du tagsüber in die Ferne?
    A) Mehrmals bewusst
    B) Nur ab und zu
    C) Fast nie – ich bin meistens im Nahbereich (z. B. Bildschirm, Buch, Handy)
  2. Was passiert mit deinem Blick, wenn du gestresst bist?
    A) Er bleibt ruhig und weit
    B) Ich bemerke eine gewisse Verengung
    C) Ich merke, wie mein Blick „einfriert“ oder flackert
  3. Fällt dir auf, was im Randbereich deines Blickfeldes geschieht?
    A) Ja, oft – ich nehme Bewegung oder Lichtveränderungen wahr
    B) Manchmal, wenn ich bewusst darauf achte
    C) Nein, eigentlich nicht
  4. Wie fühlen sich deine Augen am Ende eines Tages an?
    A) Wach und entspannt
    B) Müde, aber ok
    C) Überreizt, trocken oder verspannt
  5. Spürst du, dass dein Sehverhalten deine Stimmung beeinflusst?
    A) Ja – ein weiter Blick macht mich ruhig
    B) Manchmal – aber ich achte nicht bewusst darauf
    C) Eher nicht – ich nehme da keinen Zusammenhang wahr

Auswertung:

  • Überwiegend A: Du hast bereits ein gutes Gespür für deine visuelle Selbstregulation – weiter so!
  • Überwiegend B: Du bist auf einem guten Weg. Vielleicht lohnt es sich, gezielt Übungen zur peripheren Wahrnehmung in deinen Alltag zu integrieren.
  • Überwiegend C: Dein Blick ist oft angespannt – das kann sich auf dein gesamtes Stresssystem auswirken. Eine kleine tägliche Übung kann bereits einen großen Unterschied machen.

Und hier noch kurz eine Audioübung. Ich nenne sie mal den weichen Blick. Du kannst diese Übung drinnen oder draußen machen – ideal ist ein ruhiger Ort mit etwas Weite.

Bilder: