Ja, warum eigentlich. Den Atem beobachten, die Atmung zu trainieren, ist ja sooooo stinklangweilig. Jedenfalls habe ich das bis jetzt von so vielen Menschen gehört. Für andere ist es wiederum zu anstrengend, obwohl es doch nur eine Sache ist: Beobachten und eventuell kurz eingreifen. Es scheint doch nicht so eine einfache Sache zu sein. Warum absolviert ein Mensch dennoch Atemtrainings? Das kann verschiedenste Gründe haben. Was als erstes einleuchtet, ist die Stressreduktion, die Regulation des autonomen Nervensystems. Somit ist Atemtraining auch Entspannungstraining.
Es gibt verschiedenste Gründe warum ein Mensch sich mit seiner Atmung auseinandersetzt. Schauen wir uns doch mal ein paar Dinge an, weshalb dies der Fall sein könnte.
Ich möchte entspannter sein
Wenn ein Mensch entspannter ist, hat dies meist mit Stress zu tun. Und zwar mit der Abwesenheit von Stress. Die Entspannungsreaktion steht der Stressreaktion diametral entgegen (Benson, 1976). Durch Entspannung, hergestellt durch die Atmung, kann das autonome Nervensystem sich besser regulieren. Es kommt somit zu einem Gleichgewicht zwischen dem Nervenast, der sich Sympathikus nennt (Stressreaktion) und dem Nervenast, der sich Parasympathikus nennt (Entspannungsreaktion). Eine tiefe und vor allem bewusste Atmen aktiviert den Parasympathikus und fördert einen Zustand der Ruhe.
Wie komme ich da hin? Du könntest Techniken wie die 4-7-8-Atmung von Dr. Andrew Weil anwenden. Ok und wie funktioniert das?
Lege deine Zungenspitze hinter den oberen vorderen Zähnen. Atme einmal komplett aus, dann atme über die Nase 4 Sekunden lang ein. Halte die Atmung für 7 Sekunden und versuche dabei entspannt zu bleiben. Atme dann 8 Sekunden lang durch den Mund aus. Mache davon 4 Atemzüge.
Du könntest auch Kohärentes Atmen nach Wilfried Ehrmann (2016) anwenden. Mehr dazu findest du hier: Was ist kohärentes Atmen?
Ich möchte fitter sein
Atemtraining kann die Sauerstoffaufnahme optimieren und steigert die Leistungsfähigkeit, insbesondere bei Sportlern. Es kann zudem die Erholungszeiten verkürzen. Wenn du Laufen absolvierst, atmest du dabei über den Mund oder bekommst Seitenstechen? Geht dir regelrecht die Puste aus? Wenn du Krafttraining absolvierst, wie lange sind deine Pausen wirklich, bist du einen weiteren Satz machen kannst? Das hat viel mit Atmung zu tun.
Eine Methode hierfür wäre die Buteyko-Atmung (Skuban, 2022). Sie zielt darauf ab, die Lungenkapazität und die Effizienz der Sauerstoffnutzung zu erhöhen. Dies funktioniert darüber, die Ausatmung zu verlängern und den Mund zu halten, also über die Nase zu atmen und zwar nur über die Nase. Da ich selbst Sportler bin, kann ich bestätigen, dass dies funktioniert. Es mag am Anfang etwas ungewohnt sein und vielleicht sogar kontraintuitiv ein, doch mit ein wenig Übung, wird es von Mal zu Mal besser und deine Leistung wird steigen.
Ich habe eine Atemwegserkrankung
Menschen mit Asthma, COPD oder anderen Atemwegserkrankungen profitieren oft von Atemübungen, die Atemmuster regulieren, die Atemnot reduzieren und die Sauerstoffversorgung verbessern. Menschen mit Atemwegserkrankungen sind sehr oft in der Überatmung. D.h. sie atmen zu viel Luft ein und sie atmen meist zu schnell. Dies kann zu einem Ungleichgewicht im Körper führen, insbesondere in Bezug auf den Kohlendioxidgehalt (CO₂) im Blut.
Die Buteyko Atemmethode (Skuban, 2022) basiert auf der Annahme, dass eine chronisch erhöhte Atemfrequenz oder -tiefe den natürlichen CO₂-Spiegel senkt. Dies hat dann verschiedene physiologische Auswirkungen.
Reduzierter CO₂-Spiegel: CO₂ ist nicht nur ein Abfallprodukt, sondern spielt eine entscheidende Rolle bei der Regulation der Sauerstofffreisetzung von Hämoglobin. Ein Mangel an CO₂ kann die Sauerstoffversorgung der Zellen beeinträchtigen. Dies führt dann zu einer sogenannten Vasokonstriktion, d.h. zu einer Verengung der Blutgefäße, was die Durchblutung und Sauerstoffversorgung weiter reduziert. Und dies beeinträchtigt die Zellfunktion. Es entstehen Müdigkeit, Angst, Schwindel, Schlafstörungen und natürlich chronische Atemwegserkrankungen.
Ziel der Buteyko-Methode ist es über die Nasen zu atmen. Dies auch nachts. Die Ausatmung zu verlängern. Schließlich das Atemvolumen zu reduzieren.
Ich möchte mental klarer und konzentrierter sein
Eine bewusste Atmung kann die Durchblutung und Sauerstoffversorgung des Gehirns steigern, was die kognitive Funktion verbessert. Ok, und wie mache ich das jetzt. Meditiere! Für Shunryu Suzuki (1983) spielt die Atmung eine zentrale Rolle, besonders im Kontext der Zen-Meditation. Suzuki beschreibt die Atmung nicht nur als physiologischen Prozess, sondern als Weg, Geist und Körper zu harmonisieren.
Die Atmung sollte entspannt und natürlich sein, ohne erzwungen oder kontrolliert zu werden. Es geht darum, den Atem fließen zu lassen, wie er von selbst kommt. Eine ruhige, tiefe Atmung, die aus dem Hara kommt, fördert Konzentration und Stabilität. Hara steht für den Unterbauch und bedeutet das Zentrum der Energie (Dürckheim, 1975). Diese Atmung verbindet Körper und Geist. Wenn der Atem ruhig ist, beruhigt sich der Geist. Umgekehrt spiegelt ein aufgewühlter Atem oft einen unruhigen Geist wider. Die Beobachtung des Atems hilft, im Moment präsent zu sein und den Geist von Ablenkungen zu befreien. Sowohl Suzuki (1983) und auch Dürckheim (1975) betonen die Bedeutung der Atmung aus dem Hara. Diese Art zu atmen wird als natürlicher und zentrierter empfunden und unterstützt geistige Ruhe.
Bei der Zen-Meditation ist Atmung mehr als nur Atmung. Atmung kann als eine Manifestation des Lebens selbst gesehen werden – ein ständiges Geben (Ausatmen) und Empfangen (Einatmen), ein rhythmischer Fluss, der uns mit allem Lebendigen verbindet.
Ich möchte besser schlafen
Atemübungen können helfen, das Nervensystem zu beruhigen und die Einschlafzeit zu verkürzen. Sie sind besonders bei Menschen mit Schlaflosigkeit oder unruhigem Schlaf hilfreich. Du könntest die 4-4-4-4-Methode anwenden. In anderen Worten die Box-Atmung
Dabei hast du gleich mehrere positive Effekte:
- Du aktivierst deinen Parasympathikus. Diese Form der Atmung hilft, das Nervensystem zu beruhigen, indem es den Parasympathikus stimuliert (Porges, 2011). Dadurch sinken Herzfrequenz und Blutdruck.
- Dein CO₂-Spiegel verbessert sich (Skuban, 2022). Die Atempausen erhöhen den CO₂-Gehalt im Blut, was die Sauerstofffreisetzung in die Zellen verbessert.
- Du förderst eine gleichmäßige Atmung, d.h. du bringst deine Atmung in einen harmonischen, rhythmischen Fluss, was Verspannungen abbaut (Ehrmann, 2016).
- Dadurch kannst du Stress und Angst reduzieren (Porges, 2011) durch einen strukturierten Atemrhythmus. Diese Struktur vermittelt ein Gefühl von Kontrolle und Sicherheit und hilft dir, deine Emotionen besser regulieren zu können. Somit springen diese nicht mehr wahllos hin und her und lassen dich daher besser schlafen.
Die Anwendung ist kinderleicht. Du atmest 4 Sekunden lang ein, hältst 4 Sekunden lang die Atmung, atmest 4 Sekunden lang aus und hältst wieder 4 Sekunden lang die Atmung. Das ganze machst du mindestens 3 Minuten, gerne auch länger, z.B. 10-15 Minuten. Oder genau so lange, bis du eingeschlafen bist. Probiere es mal aus. Ich habe es ausprobiert an einem stressigen Tag. Ich weiß nicht mehr, wie viele Minuten es waren. Ich glaube, ich bin eingeschlafen.
Ich möchte resilienter werden
Atemtraining kann auch in der psychologischen Therapie angewandt werden, um die emotionale Regulation zu fördern. Es hilft Menschen, besser mit stressigen oder herausfordernden Situationen umzugehen.
Hier würde ich PEP (prozess- und embodimentfokussierte Psychologie) nach Michael Bohne empfehlen. Bei PEP nutzen wir den Atem als Anker und Regulationstool. Insbesondere bei starken emotionalen Reaktionen neigen Menschen zu flacher oder beschleunigter Atmung. PEP nutzt Atemtechniken (ruhig, tief, in den Bauch, über die Nase), um das Nervensystem zu beruhigen, die Körperwahrnehmung zu stärken und die Selbstregulation zu fördern. Die Atemtechnik wird mit der Klopftechnik kombiniert. Während spezifische Akupressurpunkte am Körper geklopft werden, wird die Atmung bewusst wahrgenommen, um die Wirkung zu verstärken. Diese Form der Bauchatmung aktiviert den Parasympathikus und fördert Entspannung (Porges, 2011).
Neben der Atmung arbeiten wir in PEP auch mit der Selbstakzeptanz. Das bedeutet, du atmest, du klopfst und du sprichst einen Satz aus, z.B. “Auch wenn gerade alles schief läuft, akzeptiere ich mich so, wie ich bin”. Die bewusste Atmung begleitet diesen Prozess und vertieft die Selbstwahrnehmung.
Du möchtest mehr zu PEP lesen, dann klicke hier: Was ist PEP?
Ich möchte meine Schmerzen regulieren
Atmung kann immer bei der Behandlung von chronischen Schmerzen helfen. Das liegt daran das ein Atemtraining den Fokus weg von Schmerzen lenkt und die Schmerzwahrnehmung durch Entspannung des Körpers verringern. Lese bitte hierfür den folgenden Artikel, in welchem ich über Schmerzen und Wahrnehmung schrieb: Schmerzen und Wahrnehmung. Denn Schmerzen sind zu einem großen Teil von der Wahrnehmung abhängig...
Ich möchte einfach nur gesund sein
Gesund sein, gar nicht erst krank werden. Tja, das höre ich sehr gerne. Da fangen wir mal mit der Atmung an, denn ich wüsste nicht was wichtiger wäre. Für mich persönlich ist Atmung der Anker schlechthin. Alles andere kommt danach.
Du könntest regelmäßiges Atemtraining absolviere, in welcher Form auch immer oder den Fokus auf Mitgefühl legen. Die Metta-Meditation (Germer, 2009) kommt aus der buddhistischen Tradition. Bei dieser Meditation liegt der Fokus auf liebevoller Güte, Wohlwollen und Mitgefühl mit mir und auch mit anderen.
Du könntest dir jeden Tag 10 Minuten Zeit nehmen und meditieren, dabei eine Hand auf die Brust legen, die andere auf den Bauch legen, die Augen schließen, deinen Atem beobachten, kommen und gehen lassen und dabei an:
- Inneren Frieden denken oder
- Selbstakzeptanz oder
- Liebe oder
- Ruhe und Kraft
Dabei entwickelt sich über Zeit eine liebevolle und mitfühlende Haltung dir selbst gegenüber. Ich wünsche Dir:
Mögest du glücklich sein.
Mögest du gesund sein.
Mögest du sicher sein.
Mögest du in Frieden leben.
Diese Sätze kannst du beim Atmen leise oder laut aussprechen, oder auch nur denken. Du kannst diese Sätze gerne anpassen, sodass sie sich für dich passen.
Schlussgedanken
Ich denke, das wäre so einige Gründe, warum Atmung etwas wichtiges ist, warum atmen toll sein kann und wie du dort hinkommst. Wenn du nicht weiter weißt, nicht verzagen, Christian fragen. 😉
“Das Erste, was der Mensch zu lernen hat, ist Atmen. Die Atmung steht am Anfang und am Ende des Lebens. Mit dem ersten Atemzug erblicken wir das Licht der Welt, mit dem letzten hauchen wir das Leben aus.” Gautama Buddha
Literatur:
- Benson, Herbert (1976). The Relaxation Response. New York: Avon
- Bohne, Michael (2022). Psychotherapie und Coaching mit PEP. Prozess- und Embodimentfokussierte Psychologie in der Praxis. Heidelberg: Carl-Auer Verlag
- Dürckheim, Karlfried Graf (1975). Hara. Die Erdmitte des Menschen. München: Otto Wilhelm Barth Verlag
- Ehrmann, Wilfried (2016). Kohärentes Atmen. Atmung und Herz im Gleichklang. Bielefeld: J. Kamphausen Mediengruppe GmbH
- Germer, Christopher K. (2009). The mindful path so self-compassion. Freeing yourself from destructive thoughts and emotions. New York: Guilford Press
- Porges, Stephen W. (2011). The Polyvagal Theory: Neurophysiological foundations of emotions, attachment, communication, and self-regulation. New York: W. W. Norton.
- Skuban, Ralph (2022). Die Buteyko Methode. Amerang: Crotona Verlag GmbH & Co. KG
- Suzuki, Shunryu (1983). Zen Mind, Beginnes Mind. Informal Talks on Zen Meditation and Practice. New York: Weatherhill
Bilder:
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