Vor mehr als einem Jahr machte ich Bekanntschaft mit dieser Methode. Es dürfte Ende 2022 gewesen sein. Ich hörte mir ein Video an zu "coherent breathing" auf YouTube und machte mit. Anfangs wurde ich noch bei den gleichen Ein- sowie Ausatemzyklen leicht aus der Bahn geworfen, doch schon gegen Ende der 10 Minuten näherte ich mich dem Gong an, d.h. meine Ein- sowie Ausatmung betrug jeweils 5.5 Sekunden gegen Ende der 10 Minuten. Seitdem habe ich mehrere Bücher dazu gelesen, die Ausbildung gemacht. Ich praktiziere die Atmung mindestens zwei mal am Tag, manchmal sogar bis zu fünf mal. Und ich unterrichte diese Methode für Menschen mit chronischen Schmerzen und chronischen Stress mit großem Erfolg. Was verbirgt sich hinter dem kohärenten Atmen?

Kohärentes Atmen: Einfach und bewusst

Kohärentes Atmen ist zum einen einfach zu erlernen. Es hat große Auswirkungen, auf das vegetative/autonome Nervensystem, sowie die Herztätigkeit und den Blutkreislauf. Es sorgt langfristig grundsätzlich für ein ausgeglichenes Nervensystem. Durch diese Ausgeglichenheit arbeitet unser Körper mit einer höheren Effizienz. Und wenn das Nervensystem ausgeglichen ist, sind wir ausgeglichener, physisch sowie psychisch. 

Kohärentes Atmen ist zum anderen eine bewusste Methode. Eine bestimmte Atemfrequenz  steht für Harmonie bzw. Gleichgewicht. Dieses Gleichgewicht überträgt sich auf das vegetative/autonome Nervensystem. Und zwar, wenn ich bewusst bei der Sache bin und nicht an die to do´s von Morgen denke. Und genau hier sprechen wir in der Fachwelt von autonomer Balance. Damit soll das Gleichgewicht von Sympathikus und Parasympathikus angesprochen sein.

Braucht es einen Paradigmenwechsel

Steht die Medizin bzw. das Gesundheitssystem vor einem Paradigmenwechsel? Eine grundlegende Veränderung ist die Selbstverantwortung. Es wäre hilfreich selbst Experte für die eigene Gesundheit zu werden und externe Experten als Partner anzusehen. Es braucht die Verbindung von der dritten-Person-Perspektive (Behandlung von Symptomen von außen) durch die erste-Person-Perspektive (Erforschung der Symptome von innen).

“Der Mensch ist auf dem Weg, der als Gesundheits-Krankheits-Kontinuum mit vielen verschiedenen Betrachtungsdimensionen zu sehen ist und der sich von der dichotomen Sicht Gesundheit vs. Krankheit abwendet. Dabei konzentrieren wir uns auf die Frage, welche Faktoren, welche Coping-Ressourcen das Leben bewältigen helfen, und wenden uns zugleich ab von der negativ besetzten Sicht über Stressoren, die sehr wohl als hilfreiche Signale im Leben eines Menschen aufgefasst werden können. Es geht bei der Auseinandersetzung mit Stressoren, um deren Charakter und wie dem Individuum im Umgang mit ihnen die Auflösung der Anspannung gelingt.” (Lorenz, S. 26)

Die zwei Säulen der Gesundheit sind Eigenvorsorge (erste-Person-Perspektive) und Unterstützung (dritte-Person-Perspektive). Die Eigenvorsorge sollte die Erst- und Letztverantwortung sein. Dazu zählen: Einholen von Informationen, Verbesserung des eigenen Lebensstils, Aufbau von gesundheitsfördernden Ressourcen, Aufmerksamkeit auf das Innenleben. 

Kohärentes Atmen geht in beide Richtungen: Übererregung und Untererregung

Die Eigenvorsorge sollte die Erst- und Letztverantwortung sein. Sie kann, mit der Atmung zusammen, beide Erregungszustände regulieren. Wenn du gestresst bist, aufgeregt bist, überfordert bist, mit starken Emotionen zu kämpfen hast, dann hilft kohärentes Atmen, entspannter und ruhiger zu werden.
Wenn du dich platt fühlst, keine Energie hast, du total erschöpft bist, dann hilft kohärentes Atmen, wieder mehr Energie zu bekommen.

Wo kann kohärentes Atmen eingesetzt bzw. für was kann es genutzt werden

  • bei Stress, innerer Unruhe bis hin zu Burnout
  • bei Atemschwierigkeiten, einer verminderten Atemfunktion
  • Bluthochdruck, Herzschwäche und Herzrhythmusstörungen
  • Stimmungsschwankungen, Angstzuständen und depressiven Verstimmungen
  • bei Schlafstörungen
  • bei Stoffwechselproblemen
  • bei mangelnder Vitalität und Konzentrationsstörungen

Was bewirkt die regelmäßige Anwendung von kohärenten Atmen?

  • du reduzierst deinen Stress und somit auch Angstzustände. (Fincham et al., 2023)
  • du arbeitest aktiv an deinem Blutdruck und dies ohne Blutdrucksenker (Mori et al., 2005). Das hat viel den Barorezeptoren zu tun. Barorezeptoren sind Mechanorezeptoren in der Wand von Blutgefäßen. Dort registrieren sie fortlaufend den Blutdruck und tragen zu einer gelungen Hömöostase bei.
  • du unterstützt dein Herz-Kreislauf-System durch eine gesteigerte Herzratenvariabilität. Und die HRV ist der Schlüsselfaktor für Wohlbefinden und Integrität des menschlichen Organismus. (Elliot, 2006)
  • du trägst aktiv zu einem höheren Wohlbefinden bei, insbesondere aufgrund einer leichteren Emotionsregulation. Das hat mit einem ausgeglichenen vegetativen Nervensystem zu tun. Während einer 12-wöchigen Intervention mit Yoga und kohärenter Atmung, konnte eine Abnahme depressiver Symptome aufgezeigt werden. (Streeter et al., 2017)
  • du schaffst es durch die Ruhe und Entspannung klarer zu denken.
  • durch die Arbeit mit dem Vagus-Nerv erhöhst du deine Fähigkeit zur Empathie und somit auch zur soziale Verbundenheit, d.h. du arbeitest mit dem kohärenten Atmen an deiner Ausgeglichenheit des Nervensystems. Die Ausgeglichenheit führt zu einem Gefühl des Wohlbefindens, aber auch der Sicherheit und dadurch kommt es zu tiefergehenden sozialen Kontakten. (Dana, 2018)
  • du kannst besser ein- sowie auch durchschlafen (Tsai et al., 2015) und du wachst morgens auf und fühlst dich erholter.
  • du hast tagsüber mehr Energie und gefühlt weniger Durchhänger, wobei ich hinzufügen möchte, ein Mittagstief ist immer noch normal und muss nicht unbedingt wegoptimiert werden.

Die Elemente des kohärenten Atmens

Worauf kommt es denn nun an beim kohärenten Atmen? Wie wird es ganz genau ausgeführt? Dies bringt uns zu den Elementen des kohärenten Atmens:

  1. Regelmäßigkeit

    Die Atmung ist regelmäßig, d.h. Einatmen und Ausatmen brauchen die gleiche Zeit. Es gibt keine Pausen nach dem Ein- sowie dem Ausatmen. “Die wechselnden Druckverhältnisse im Blutkreislauf, die durch die kohärente Atembewegung verstärkt werden, machen den Brustkorb zu einer Pumpe, der Thoraxpumpe. Sie unterstützt das Herz und das Gefäßsystem bei der Dynamik des Blutflusses und gibt ihr eine Rhythmik, die als Wellenbewegung den ganzen Oberkörper durchfließt. Der Begriff der Valsalva-Welle bezeichnet das ganze Phänomen des Druckanstieges und -abfalls im Blutkreislauf, initiiert vom Nervensystem.” (Ehrmann, 2016, S. 62). Der Effekt der Valsalva-Welle kann nur erzielt werden, wenn Einatemlänge und Ausatemlänge gleich lang sind. Verlängertes Ausatmen aktiviert zwar die vagale Bremse, trainiert jedoch nicht die Herzratenvariabilität, da keine Valsalva-Welle entsteht.

  2. Frequenz

    Die optimale Frequenz liegt zwischen drei und sechs Atemzüge pro Minute. Ein gleichbleibender Rhythmus zwischen drei und sechs ist für die respiratorische Sinusarrhythmie (RSA) am optimalsten. Atmet man schneller, also mehr als sechs Atemzüge, dann kommt es zu mehr Sympathikus Aktivierung und die HRV geht sukzessive zurück. Atmet man langsamer, also weniger als drei Atemzüge, sinkt die Regelmäßigkeit der RSA und es wird chaotischer. Zudem kommt der Sympathikus wieder ins Spiel um den inneren Druck aufrechtzuerhalten beim langsamen Ausatmen.

  3. Mittlere Tiefe

    Die Atmung ist von mittlerer Tiefe, d.h. 50 % des Atemvolumen werden genutzt. Hier ist das Zwerchfell aktiv. Das Zwerchfell hat einen Bewegungsspielraum von maximal 10-12 cm. Dies wäre die Vitalkapazität. Ist das Zwerchfell weniger trainiert, so übernehmen die Atemhilfsmuskeln viel von der Atemarbeit, was zu Verspannungen führen kann. 50 % entspricht die Hälfte der Vitalkapazität. Die Vitalkapazität ist das maximale Atemvolumen, welches unter Anstrengung genutzt wird. Eine flache Atmung bedeutet weniger Zwerchfellatmung und kann manchmal zu Atmungsstörungen führen.

  4. Entspannung in der Ausatmung

    Die Ausatmung ist entspannt, d.h. beim Einatmen brauchen wir Muskelaktivität, was der Sympathikus übernimmt. Nutzen wir diese Muskelaktivität auch beim Ausatmen, was einem forcierten Ausatmen gleichkommt, so brauchen wir wieder den Sympathikus. Entspannung in der Ausatmung bedeutet so viel wie loslassen, sich der Erdanziehung hingeben. Aber auch die Einatmung ist entspannt, im Sinne eines Zulassens des Einströmens der Luft.

  5. Nasenatmung

    Stickstoffmonoxid (NO) wird im menschlichen Körper gebildet und reguliert den Tonus der Blutgefäße. Es wird in den Wänden der Blutgefäße gebildet und erweitert dort die Blutgefäße, was die Durchblutung verbessert. Zudem ist das Niveau der Bildung von NO in den Nasennebenhöhlen sehr hoch. Es gelangt über die Einatmung in die Lunge, dies nur bei der Nasenatmung. Dies hilft die Alveolen (Alveolen sind Lungenbläßchen, die kleinsten Verästelungen der Luftwege in der Lunge) zu erweitern, was so viel bedeutet wie, das mehr Blut mit Sauerstoff angereichert ist, weil dies die Lungengefäße passiert. Zudem kommen über die Nasenatmung weniger Viren und Allergene in die unteren Atemwege.

Funktioniert das kohärente Atmen?

Aus eigener Erfahrung, würde ich diese Frage mit Ja beantworten. Das vegetative Nervensystem reguliert unter anderen den Blutdruck, den Stoffwechsel, die Verdauung, den Herzschlag und die Atmung. Die Atmung hat jedoch eine Sonderrolle. Sie wird reguliert und wir können sie auch regulieren. Das macht die Atmung einzigartig. Reguliere deine Atmung, reguliere alle anderen vegetativen Funktionen gleich mit. Das ist der Fall, dass vegetative Funktionen ein Gleichgewicht anstreben, eine Homöostase. Dieses Gleichgewicht hat viel dem Sympathikus und dem Parasympathikus zu tun.

Der Sympathikus kann als Gaspedal verstanden und der Parasympathikus als Bremse. In der Tat heißt es in polyvagaler Sprache auch die vagale Bremse. Was bremst denn da? Der Vagus Nerv bremst den Sympathikus aus. Den Vagus Nerv trainieren wir durch die kohärente Atmung. Wenn jetzt die Einatmung, was der Sympathikus übernimmt und die Ausatmung, was der Parasympathikus übernimmt, gleich lang sind, dann sprechen wir von Gleichgewicht, welches sich auf den ganzen Körper auswirkt. Häufig ist es in unserer heutigen Welt jedoch so, dass wir von einem Projekt zum nächsten rennen und wenn die Projekte dann alle beendet sind, rennen wir weiter in unseren Gedanken. Mit Entspannung hat dies wenig zu tun, und daher tun diese zwei mal 10 Minuten ziemlich gut. Fast am Ende angekommen, noch ein paar Worte zur Herzratenvariabiliät.

Kohärentes Atmen und die Herzratenvariabilität

Kohärentes Atmen wirkt sich auf die Herzratenvariabilität (HRV) aus. Zwischen jedem einzelnen Herzschlag besteht ein gewisser Abstand. Dieser Abstand variiert mit der Zeit, mal ist er länger, mal kürzer. Dieser Abstand wird Herzratenvariabilität genannt. Und je höher diese ist, desto besser steht es mit deiner Gesundheit und Leistungsfähigkeit. Stress in jeglicher Form ist eine Angelegenheit des sympathischen Nervensystems. Das Gaspedal ist nun an. Wenn der Stress anhält, kommen wir in den Kampf- oder Fluchtmodus. Die Herzfrequenz nimmt zu, aber die HRV nimmt ab. Die HRV nimmt dann zu, sobald das Herz langsamer schlägt. Das Herz schlägt langsamer, wenn der Parasympathikus, alias die Bremse, an ist. Herzratenvariabilität ist somit “die Fähigkeit unseres Herzens, auf unterschiedliche Anforderungen angemessen und flexibel zu reagieren.” (Ehrmann, 2016)

Wie schnell das Herz schlägt, hängt mit dem vegetativen Nervensystem zusammen. Je variabler der Herzschlag, desto besser kann unser Herz mit Belastungen umgehen. Die Variabilität sagt somit die Anpassungsfähigkeit des Herzens voraus, d.h. wie leistungsfähig es in Stresssituationen ist und wie entspannungsfähig es in Phasen der Ruhe ist. Die Variabilität gibt somit Aufschluss über den Zustand des Parasympathikus. Ein überlastetes Herz kommt schwer mit Veränderungen klar und schafft somit auch ein Umfeld, in welchem Bluthochdruck, Diabetes und Herzinfarkte keine Ausnahmen mehr darstellen.

Üben, Üben, Üben

Du kannst kohärentes Atmen im Liegen, im Sitzen und auch in der Bewegung ausführen. Anfangs würde ich mit dem Liegen anfangen, der Kopf leicht erhöht mit einer Unterlage und evt. einer Knierolle. So kann das Becken leicht nach hinten kippen und der untere Rücken mehr entspannen. Wenn du schon ein wenig Übung hast, kannst du gerne im Sitzen auf einem Lotuskissen weitermachen. Oder auf einen ganz einfach harten Holzstuhl mit gerader Sitzfläche. Irgendwann einmal kannst du die Methode auch in der Bewegung anwenden, vielleicht erst mal beim Spazierengehen mit externen Taktgeber, z.B. Insight Timer auf deinem Smartphone, bis du schließlich den Rhythmus verinnerlicht hast und den Timer nicht mehr brauchst. Was die Zeit betrifft, empfehle ich mit 2x 10 Min. pro Tag, morgens und abends. Wenn 10 Minuten zu viel, mache 5 Minuten draus. 

Gehab dich wohl mit deinem Atem.

Literatur:

  • Dana, Deb (2018). The Polyvagal Theory in Therapy. Engaging the rhythm of regulation. New York: W. W. Norton & Company, Inc.
  • Ehrmann, Wilfried (2016). Kohärentes Atmen. Atmung und Herz im Gleichklang. Bielefeld: J. Kamphausen Mediengruppe GmbH
  • Elliot, Stephen (2006). The new science of breath. Allen: Coherence Press
  • Fincham, G. W., Strauss, C., Montero-Marin, J., & Cavanagh, K. (2023). Effect of breathwork on stress and mental health: A meta-analysis of randomised-controlled trials. Scientific reports, 13(1), 432. https://doi.org/10.1038/s41598-022-27247-y  
  • Lorenz, Rüdiger (2005). Salutogenese: Grundwissen für Psychologen, Mediziner, Gesundheits- und Pflegewissenschaftler. München: Reinhardt Verlag
  • Mori, H., Yamamoto, H., Kuwashima, M. et al. How Does Deep Breathing Affect Office Blood Pressure and Pulse Rate?. Hypertens Res 28, 499–504 (2005). https://doi.org/10.1291/hypres.28.499
  • Streeter, C. C., Gerbarg, P. L., Whitfield, T. H., Owen, L., Johnston, J., Silveri, M. M., Gensler, M., Faulkner, C. L., Mann, C., Wixted, M., Hernon, A. M., Nyer, M. B., Brown, E. R., & Jensen, J. E. (2017). Treatment of Major Depressive Disorder with Iyengar Yoga and Coherent Breathing: A Randomized Controlled Dosing Study. Journal of alternative and complementary medicine (New York, N.Y.), 23(3), 201–207. https://doi.org/10.1089/acm.2016.0140 
  • Tsai, H. J., Kuo, T. B., Lee, G. S., & Yang, C. C. (2015). Efficacy of paced breathing for insomnia: enhances vagal activity and improves sleep quality. Psychophysiology, 52(3), 388–396. https://doi.org/10.1111/psyp.12333

Bilder:

  • Bild von RoadLight auf Pixabay