“Viele halten die eigene Perspektive für die einzig mögliche, aber sie allein kann nie die ganze Wahrheit sein. Sinnvoll wäre, sich für alle anderen Perspektiven zu interessieren, um ein vollständigeres Bild zu erhalten, Grundlage für eine Beziehung zur Welt im weiteren Sinne” (Schmid, 2013, S. 351).
Gesehen zu werden – wirklich gesehen – ist eines der tiefsten menschlichen Bedürfnisse. Es ist mehr als Anerkennung. Es ist das stille Sehnen danach, im Blick eines Anderen als jemand zu existieren: eigenständig, nicht bloß Projektionsfläche, sondern Wesen mit Licht, Schatten, Wunden und Würde.
Für mich ist dieses Bedürfnis nicht als sentimentale Schwäche zu sehen, sondern als ontologisches Fundament des Menschseins. Wilhelm Schmid erinnert mich in seinem Zitat daran, wie begrenzt unsere Einzelperspektive ist. Was wir für „die Wirklichkeit“ halten, ist oft nur ein winziger Ausschnitt – wie das Schlüsselloch in einer Tür, die sich nur gemeinsam öffnen lässt. Erst wenn wir versuchen, die Welt auch durch die Augen anderer zu sehen, beginnt sich das Bild zu vervollständigen. Und: Der Andere fühlt sich gesehen.
Sehen und Gesehenwerden – das ist keine Einbahnstraße, sondern ein Wechselspiel, das Beziehung schafft. Nicht als Besitz, sondern als Einladung. Nicht perfekt, aber wahr. Fragil, fragmentarisch, menschlich.
Kopf und Körper: Ein innerer Perspektivwechsel
Im Artikel „Aufstehen und dann? – Zwei Hirne“ geht es um genau solch einen Perspektivwechsel – aber diesmal nach innen. Zwischen Kopf und Körper entfaltet sich ein oft überhörter Dialog. Der Körper wird nicht als Gegenspieler des Denkens verstanden, sondern als sein Ursprung.
Wahres Verstehen geschieht nicht nur im Denken, sondern im Zusammenspiel von Fühlen, Spüren, Begreifen. So wie wir mit zwei Augen Tiefe sehen, braucht es auch zwei innere Perspektiven – Kopf und Körper –, um die Wirklichkeit mit Tiefe zu erfassen.
Schmid lädt ein, die Welt durch fremde Augen zu betrachten. Ich meine, dass auch in uns selbst verschiedene Augen wohnen. Beide Perspektiven fordern heraus, aber sie bereichern. Und wenn wir sie verbinden, wird daraus etwas Drittes: ein fühlendes Denken, ein denkendes Spüren – ein Mehr an Wirklichkeit.
Beziehung als wechselseitige Anerkennung
Die Feldenkrais-Methode – wie sie etwa im Artikel „Feldenkrais und die menschliche Würde“ beschrieben wird – bringt diese Haltung auf den Boden, ins Erleben. Hier geht es nicht ums Funktionieren, sondern um Beziehung. Um eine achtsame, nicht-objektifizierende Begegnung – körperlich, emotional, relational.
Auch Schmids Zitat passt hier wie ein philosophisches Echo: Erst wenn wir bereit sind, unsere Perspektive nicht absolut zu setzen, wird Beziehung möglich – im therapeutischen Raum genauso wie im gesellschaftlichen Miteinander.
Was könnte diese Ansätze unterscheiden? Die Anerkennung der Anderen – nicht als Funktionsträger, sondern als Subjekte mit eigenem Recht auf Wirklichkeit. Was unterscheidet sie? Der eine argumentiert erkenntnistheoretisch, der andere beschreibt gelebte Begegnung. Der eine spricht über Denken, der andere über Spüren. Doch beide meinen dasselbe: Würde.
Ein nächster Entwicklungsschritt? Die Integration beider Ebenen. Eine Kultur der Würde braucht sowohl das Einsehen der eigenen Begrenztheit als auch körperlich verkörperte Praktiken der Achtsamkeit. Feldenkrais wäre dann nicht nur Methode, sondern ethische Lebenskunst.
Von der Bindung zur Möglichkeit
“Seit den Anfängen der Moderne beschleunigt sich der Prozess einer Befreiung von Bindungen” (Schmid, 2013, S. 351).
Zygmunt Bauman spricht von der „flüchtigen Moderne“, in der traditionelle Bindungen durch Mobilität, Konsum und Individualisierung erodieren. Freiheit wächst – und mit ihr das Unbehagen. Charles Taylor, Ulrich Beck, Michel Foucault – sie alle beschreiben, wie der moderne Mensch sich aus alten Deutungsmustern löst, dabei aber auch neue Unsicherheiten erschafft. Die Befreiung von Bindung ist nicht nur Gewinn, sondern auch Verlust.
Erich Fromm spricht von der „Furcht vor der Freiheit“, Carl Rogers vom Bedürfnis nach einem Klima bedingungsloser positiver Zuwendung. Jessica Benjamin betont: Ohne Anerkennung wird Autonomie zur Leere. Was hat das mit Perspektiven zu tun? Alles. Denn sobald Bindung zerfällt, braucht es umso mehr Beziehung – nicht als Klammer, sondern als Resonanzraum. Perspektivwechsel wird dann zur Überlebenskunst. Ein Mittel, um nicht zu vereinsamen in der eigenen Sichtweise.
Möglichkeit denken, Wirklichkeit gestalten
“Welt ist keineswegs nur das, was der Fall ist, sondern auch das, was der Fall sein kann... nie nur Gegenwart, immer auch Zukunft” (Schmid, 2013, S. 362).
Und hier schließt sich der Kreis: Perspektivenwechsel bedeutet nicht nur, das Andere zu sehen – sondern auch das Noch-nicht. Das Mögliche. Die Utopie.
Der Artikel „Feldenkrais und Imagination – Bilder können sehr mächtig sein“ zeigt, wie innere Bilder unsere Realität formen können. Was wir uns vorstellen können, können wir auch in Bewegung bringen. Ein weiterer Artikel „Langeweile und der Weg zu mehr Lebendigkeit – Eine neue Perspektive“ macht deutlich: Auch vermeintliche Leere kann ein Möglichkeitsraum sein – wenn wir den Mut haben, ihn nicht vorschnell zu füllen.
Perspektiven wechseln – wie geht das?
Manchmal genügt ein Perspektivwechsel des Körpers: Sich auf den Boden legen, die Welt aus der Froschperspektive betrachten. Oder sich fragen: Wie würde ein Kind das sehen? Ein Fremder? Mein zukünftiges Ich?
Manchmal hilft das Spielen: Eine Situation überzeichnen, parodieren, um ihre Ernsthaftigkeit zu entlarven. Oder eine Haltung verkörpern, die man sonst vermeidet: weich statt stark, neugierig statt kontrollierend.
Manchmal braucht es Begegnung: echte, wackelige, neugierige Gespräche. Nicht um zu überzeugen, sondern um zu verstehen. Denn vielleicht ist die Welt am Ende genau das: ein vielstimmiger Chor von Perspektiven. Je mehr wir hören, desto reicher wird sie.
Literatur:
- Schmid, Wilhelm (2013). Dem Leben Sinn geben. Berlin: Suhrkamp
Bilder:
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