Tagged: Achtsamkeit · Embodiment

Bei sich sein (vierter Teil) – die Mitte

Featured Image

Im dritten Teil der Reihe „Bei sich sein“ stand der Boden im Zentrum – als äußere Realität und innere Erfahrung. Während wir im ersten Teil Bei sich sein (erster Teil) – Zentrieren die grundlegenden Konzepte von Zentrierung und Erdung eingeführt und im zweiten Teil Bei sich sein (zweiter Teil) – Aufrichtung die Aufrichtung als Ausdruck innerer Reife und vertikaler Selbstverbindung beleuchtet haben, wurde nun deutlich: Ohne den Boden fehlt der Halt. Dies war eine Erkenntnis aus dem dritten Teil: Bei sich sein (dritter Teil) – der Boden.

Der Boden ist nicht einfach nur eine Fläche, auf der wir stehen oder liegen. Er ist ein kinästhetischer Spiegel, ein stiller Lehrer für Selbstwahrnehmung, ein Symbol für Getragensein. In der Auseinandersetzung mit dem Boden erfahren wir, wie sehr unsere Körperhaltung, unser Atem und unsere Emotionen miteinander verwoben sind. Wir entdecken, dass Erdung kein statischer Zustand ist, sondern ein lebendiger Prozess – ein fortwährendes Sich-Einlassen auf die Schwerkraft, auf das Getragenwerden und auf das Spüren.

Die vielen beschriebenen Methoden – von Feldenkrais bis Bioenergetik – zeigen: Erdung ist vielfältig und individuell erfahrbar. Sie kann uns helfen, emotionale Zustände zu regulieren, Spannungen zu lösen und ein Gefühl von Sicherheit und Präsenz zu entwickeln. Ob im Stehen, Sitzen oder Liegen, ob alleine oder im Kontakt mit anderen – immer geht es um die Verbindung zum tragenden Grund.

Und doch reicht der Boden allein nicht aus. Um wirklich bei sich zu sein, braucht es mehr als äußere Stabilität. Es braucht eine innere Verankerung. Eine Mitte. Der vierte Teil dieser Reihe widmet sich deshalb der Frage, was uns innerlich zentriert: Wo liegt unsere Mitte – physisch, psychisch, spirituell? Wie finden wir dorthin zurück, wenn das Leben uns aus der Bahn wirft? Und wie lässt sich diese Mitte kultivieren, nähren und schützen – als Quelle von Kraft, Orientierung und Integrität?

Wir begeben uns nun auf die Suche nach dem, was in uns ruht, während alles andere in Bewegung ist: unserer Mitte.

Der Boden, die Schwerkraft und das Gefühl der Mitte

In meiner Feldenkrais-Ausbildung in Seattle lernte ich: Der Boden und die Schwerkraft sind keine Gegenspieler, sondern arbeiten als Kräftepaar zusammen – auf eine Weise, die unser Selbstgefühl und unsere Körperorganisation tief beeinflusst. Die Schwerkraft zieht uns nach unten, unaufhörlich. Doch anstatt gegen sie anzukämpfen, zeigt uns Feldenkrais einen anderen Weg: die intelligente Kooperation mit dem Boden. Der Boden wirkt nicht nur als Begrenzung nach unten, sondern als Antwortfläche, die elastisch reagiert, wenn wir in gesunder Ausrichtung stehen. Wie bei einem Gewölbebogen übernimmt das Becken die Funktion des Schlusssteins – es ruht in der Mitte zweier tragender Beine. Diese Analogie führt zu einer tiefen Erkenntnis: Unsere Mitte entsteht nicht im Rückzug aus der Schwerkraft, sondern in der gelungenen Integration von Schwerkraft und Bodenkontakt.

Wenn die Beine unter dem Becken stehen – nicht zu weit, nicht zu eng – ergibt sich eine natürliche Aufrichtung, die kaum muskuläre Anstrengung erfordert. Die Schwerkraft wird nicht zum Gegner, sondern zur Lehrmeisterin: Sie zeigt uns, wo wir uns unnötig verspannen, wo wir zu viel halten oder zu wenig vertrauen. In dem Moment, wo wir uns genau so auf den Boden stellen, wie es unserem Skelett entspricht, entsteht eine ganz besondere Qualität: Wir wachsen von unten nach oben – nicht durch Spannung, sondern durch Loslassen in eine strukturierte Form. Und genau aus dieser Erfahrung erwächst das Gefühl von „in der Mitte sein“: weil wir nicht mehr kämpfen, weil wir uns tragen lassen, weil wir mit dem Boden verbunden sind, und weil wir der Schwerkraft nicht mehr ausweichen, sondern mit ihr tanzen. Diese Art von Mitte ist keine feste Position – sie ist ein lebendiger Gleichgewichtszustand. Sie entsteht zwischen den Polen: oben und unten, Loslassen und Aktivität, Stabilität und Bewegung. So wird der Boden zur Grundlage nicht nur für Aufrichtung, sondern für ein fühlbares, verkörpertes Zentrum – ein Mittelpunkt, der aus der Beziehung zur Erde geboren wird.

Die Mitte als Ort der Selbstanbindung

Zum Verwurzeln im Boden tritt das Verankern in sich selbst. Wer wirklich geerdet und zentriert ist, hat beides: Halt von unten und Verbindung nach innen. Die Mitte lässt sich zunächst als Gravitationszentrum im Unterbauch begreifen – eine physische Mitte, wie sie in vielen körpertherapeutischen und fernöstlichen Traditionen beschrieben wird (Schmid-Bergmann, 2011).

Doch diese körperliche Mitte wirkt auch im übertragenen Sinn: als Ort der Selbstanbindung. Harms (2008, 2016) beschreibt damit die Fähigkeit, an den Fluss des inneren Geschehens und an die eigenen Empfindungen angebunden zu sein. Wer so angebunden ist, kann besser spüren, was er wirklich braucht – wie im Focusing beim Erschließen des „felt sense“. Selbstanbindung ist dabei keine egozentrische Selbstbespiegelung, sondern im Gegenteil Voraussetzung für Bindungsfähigkeit: Wer mit sich in Verbindung ist, ist bereit für Verbindung mit anderen – und mit der Welt.

Innere Mitte und personale Ganzheit

Auch Karlfried Graf Dürckheim (1978) sieht die Mitte als einen Zustand, in dem alle Kräfte des Menschen situationsgerecht zur Verfügung stehen – körperlich, geistig, emotional. Die Mitte ist dabei nicht nur ein funktionales Zentrum, sondern ein Ort der Essenz: ein Gefühl von Ankommen in der eigenen leiblich-geistigen Existenz, eine Gewissheit, wer man ist.

Diese Vorstellung einer tiefen Mitte findet sich auch in C. G. Jungs Konzept des Selbst oder in Pierrakos' Idee eines spirituellen Kerns (1987). Die Mitte ist also nicht nur funktional, sondern auch existenziell und spirituell – ein innerer Ort der Identität, Klarheit und Ganzheit.

Balance finden – zwischen Atem, Haltung und Aufmerksamkeit

Zentrierung ist ein dynamisches Zusammenspiel verschiedener Ebenen:

  • vegetativ zwischen Aktivierung und Deaktivierung,
  • muskulär zwischen Spannung und Entspannung,
  • geistig zwischen dem Bei-den-Dingen-Sein und dem Bei-sich-selbst-Sein.

Der Atem durchzieht all diese Ebenen und wird so zu einem zentralen Mittel der Zentrierung (Geuter, 2015). Für Boadella (1991) liegt unsere Mitte sogar genau zwischen Ein- und Ausatmen. Extreme Atemmuster – wie bei hysterischer Überbetonung des Ausatmens oder masochistischer Fixierung aufs Einatmen – zeigen, wie sehr wir uns aus der Mitte bewegen können. Wer in seine Mitte will, muss lernen, in diesem Atemzwischenraum präsent zu sein – weder festzuhalten noch zu flüchten.

Zentrierung durch Achtsamkeit und Meditation

Eine bewährte Methode, um in die Mitte zu finden, ist die innere Achtsamkeit. Sie lässt sich durch Meditation kultivieren – ob pragmatisch im Sinne einer Verhaltensmedizin (Kabat-Zinn, 1999) oder initiatisch als Weg zur inneren Mitte (Dürckheim, 1978).

Doch Meditation kann auch in die Irre führen, wenn sie zur Umgehung ungelöster Themen wird. Dürckheim warnt davor, über innere Konflikte hinweg zu meditieren – das könne zwar oberflächlich beruhigen, verhindere aber tiefere Bewusstwerdung. Auch Boadella (1991) spricht davon, dass Meditation zur Unterdrückung verkommen kann, wenn sie nicht mit offenem Zentrum geschieht. Wirkliche Mitte entsteht erst dann, wenn wir auch das Unangenehme, das Verdrängte zulassen – und mit einem offenen Herzen gegenwärtig bleiben.

Einfach sein

Was wir letztlich suchen, wenn wir unsere Mitte finden wollen, ist oft ganz schlicht: ein Zustand von Sein. Da sein dürfen, ohne etwas leisten zu müssen. Einfach spüren, wie sich der Atem bewegt, wie der Boden trägt, wie der Körper sich ausrichtet. Diese Erfahrung von einfachem, gegenwärtigem Sein ist vielleicht der tiefste Ausdruck von Mitte – und der Ort, an dem wir wirklich bei uns sind.

Literatur:

  • Boadella, D. (1991). Befreite Lebensenergie. Einführung in die Biosynthese. München: Kösel.
  • Dürckheim, K. Graf (1978). Übung des Leibes auf dem in- neren Weg. München: Martin Lurz.
  • Geuter, U. (2015). Körperpsychotherapie. Grundriss einer Theorie für die klinische Praxis. Berlin: Springer.
  • Harms, T. (2016). Körperpsychotherapie mit Säuglingen und Eltern. Grundlagen und Praxis. Gie- ßen: Psychosozial.
  • Kabat-Zinn, J. (1999). Stressbewältigung durch die Praxis der Achtsamkeit. Freiburg: Arbor.
  • Pierrakos, J. (1987). Core-Energetik. Essen: Synthesis.
  • Schmid-Bergmann, I. (2011). Hara – die Erdmitte des Menschen. Theorie des Erdens im Taiji Quan. Energie & Charakter, 42, Nr. 35, 79–90.

Bilder: