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Bei sich sein (erster Teil) – Zentrieren

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Gefühle springen manchmal hin und her. Manchmal ist das so extrem, dass einer denkt, was soll denn das, die machen ja mit mir was sie wollen. Ich würde mal einbringen, das es doch ganz klar eine Frage der Regulation ist, wie ein Mensch mit den Gefühlen umgeht. Sie zu unterdrücken, keine gute Idee. Sie komplett auszuleben, auch nicht gut. Sie zu regulieren, da geht die Reise hin. Was bei dieser Regulation enorm helfen kann, ist die Fähigkeit bei sich zu sein, sich auszuhalten, sich zu ertragen, sich so zu nehmen, wie man nun mal ist. Zentriert und geerdet fällt dies natürlich viel leichter. Das Gefühl guter oder mangelnder Erdung hat mit der Beziehungserfahrung und der Bindungsqualität in der frühen Kindheit zu tun. Wie schon öfters erwähnt, Leben ist Bewegung und Bewegung ist immer im Fluss. Somit ist es möglich die Vergangenheit, bzw. die Muster, die dadurch entstanden sind, zu ändern. Zentrieren wäre eine Möglichkeit, mehr bei sich zu sein. Doch was genau bedeutet dies nun wieder: Zentrieren?

Was ist Zentrieren?

Zentrieren ist eine Metapher dafür, „in seinem Zentrum anzukommen“ oder „seine Mitte zu finden“. Diese Mitte kann sowohl physisch als auch gefühlt verstanden werden. Es bedeutet, mit den inneren Kräften in Verbindung zu bleiben und sie zu nähren, statt sie zu verlieren (Davis, 1999). Zentrieren ist ein Sich-Sammeln: ein bewusster Akt, bei dem sich der Mensch innerlich ausrichtet, fokussiert, ausbalanciert. Es ist eine Fähigkeit zur Selbstregulation und Ressourcennutzung: Wer zentriert ist, ist weniger anfällig für äußere Belastungen. Zentrieren bedeutet, den eigenen Schwerpunkt und die eigene Mitte zu fühlen und sich an sich selbst anzubinden. Das ist eine Qualität des Verbundenseins und eine Fähigkeit.

Verschiedene Blickwinkel führen zum gleichen Ziel: sich an sich selbst anbinden. Für Wilma Davis (1999) heißt Zentrieren, mit den eigenen Kräften verbunden zu bleiben und sie zu nähren. Nach Aposhyan (2004) ist Zentrierung eine energetische Durchlässigkeit, bei der Energie frei nach oben und unten fließen kann. Zentrierung ist ein emotional-vegetatives Gleichgewicht, Erdung ein muskuläres Gleichgewicht (Boadella, 1991). So sei ein Mensch auf einer vegetativen Ebene zentriert, wenn er mit dem Rhythmus seiner Atmung verbunden ist.

Fuchs (1989) mein, wer sich zentriert, kommt in sich selbst an; wer sich erdet, findet Bezug zur Wirklichkeit. Dürckheim (1973) verortet die Mitte des Menschen im Hara – dem Bauchzentrum als Erdmitte. Dort findet für ihn Zentrierung statt. Rolef Ben-Shahar (2014) betont zusätzlich die Verwurzelung in Beziehungen – „intersubjective grounding“ – als dritten Grund.

Die Feldenkrais-Methode zeigt eindrucksvoll, dass Zentrierung nicht nur ein innerer Zustand, sondern auch eine Frage der Bewegungsorganisation ist. Eine zentrierte Bewegung ist effizient, umkehrbar und folgt dem Prinzip des geringstmöglichen Aufwands – ein Prinzip, das Feldenkrais aus dem Judo übernommen hat (Aberle, 2010). Anstatt gegen die Schwerkraft zu arbeiten, nutzt der Körper sie intelligent. Das Gehirn, so Feldenkrais, bringt Ordnung in die Bewegung, die Knochen tragen das Gewicht, und die Muskeln führen die Bewegung aus. Wer in dieser Trias harmonisch agiert, bewegt sich aus der Mitte heraus, mit Leichtigkeit, Koordination und innerem Bezug.

„Nur wenn wir wissen, was wir tun, können wir tun, was wir wollen“, schrieb Moshé Feldenkrais. Dieser Satz bringt auf den Punkt, wie sehr körperliche Zentrierung mit Bewusstheit und Selbstwahrnehmung zusammenhängt. Denn ohne differenzierte Wahrnehmung keine Regulation – und ohne Regulation keine Mitte.

Beim Zentrieren geht es um das Innen im Verhältnis zum Außen, die Mitte im Verhältnis zur Peripherie, um die zentripetale Kraft, die seelische Energie nach innen lenkt. Wenn Menschen sich erden und zentrieren, sind sie eher in der Lage, physische und psychische Dysbalancen selbst zu regulieren. Da wäre es wieder, das Wort Erden. Was bedeutet das nun?

Was ist Erden?

Erden meint die bewusste Verbindung zur Schwerkraft, zur Realität, zum Boden unter den Füßen – sowohl konkret als auch symbolisch. Es ist ein physisches und psychisches Sich-Verwurzeln in der Welt. Aalberse (1990) beschreibt Erdung als die Mitte zwischen oben und unten, die Verbindung zur Mutter Erde als verlässlichem Grund – zwischen Sich-Erheben und Versinken. Erden bedeutet, die eigene Schwerkraft und den Bezug zum Boden zu spüren, sich zu verwurzeln und sich in sicherem Stand mit der Wirklichkeit zu verbinden. Auch die Dialektik der Schwerkraft (Gindler, 1926) zeigt: Je mehr Gewicht wir an den Boden abgeben, desto leichter und ruhiger können wir sein. Sich der Schwerkraft und dem Boden zu überlassen, ist genauso eine Voraussetzung für Leichtigkeit wie die Zentrierung in der Mitte. Was den Boden und die Mitte betrifft, hierzu wird es gesondert einen Artikel geben. Mit dem Erden tragen wir daher zu der Verlangsamung bei, die für ein bewusstes Erleben hilfreich ist. Mit Erden meint Boadella (1991), ein Gleichgewicht von Spannung und Entspannung auf der muskulären Ebene zu erreichen. Wer sich zentriert, kommt in sich selbst an. Wer sich erdet, findet den angemessenen Bezug zur Wirklichkeit.

Aber indem er sich dem eigenen Gewicht überlässt, begegnet der Mensch auch sich selbst (M. Fuchs, 1989). Erden und Zentrieren sind daher hilfreich, wenn Patienten zu wenig mit sich und der Welt verbunden sind. Sie stiften Verbindung. Wir zentrieren uns im „inneren Grund” und erden uns im „äußeren Grund” (Boadella, 1991). Erden bedeutet, die eigene Schwerkraft und den Bezug zum Boden zu spüren, sich zu verwurzeln und sich in sicherem Stand mit der Wirklichkeit zu verbinden.

Warum ist Zentrieren und Erden wichtig?

Zentrieren und Erden helfen, sich in sich selbst und im Leben zu verankern. Wer zentriert ist, ist mehr mit seinen Potenzialen und Ressourcen verbunden und weniger beeinflussbar durch äußere Reize oder Belastungen. Diese Fähigkeiten fördern:

  • Ruhe bei innerer Unruhe
  • Selbstregulation in emotional aufgeladenen Prozessen
  • Verbundenheit mit sich selbst und der Umwelt
  • Präsenz im Hier und Jetzt

Wer sich zentrieren kann, schießt weder über sich hinaus noch sackt in sich ein. Wer durch Zentrierung Bewusstheit in den Körper bringt, kann aus der Mitte heraus leben. Das ist eine autoregulatorische Fähigkeit (Aposhyan, 2004).

Zentrieren ist mehr als nur ein psychologisches oder körperliches Phänomen – es ist auch ein neurobiologischer Prozess. Die bewusste Lenkung der Aufmerksamkeit erfordert einen aktiven Eingriff in das „freie Fließen“ unserer Gedanken (Restak, 1995). Sie aktiviert spezifische Netzwerke im Gehirn: die posterioren Aufmerksamkeitsnetzwerke richten unsere Wahrnehmung aus, während die anterioren Netzwerke – darunter der anteriore Gyrus cinguli – Erlebtes in einen bewussten Zusammenhang bringen. So entsteht das, was wir als „gegenwärtiges Spüren“ bezeichnen: das Einrasten ins Hier und Jetzt, in Kontakt mit dem Körper, dem Atem, dem Boden.

Neurowissenschaftlich betrachtet ist unsere bewusste Wahrnehmung kein statisches Phänomen, sondern das Ergebnis eines fein abgestimmten Netzwerks von Gehirnaktivität. Richard Restak (1995) beschreibt ein faszinierendes Modell, bei dem eine 40-Hz-Schwingung über den Cortex zieht – ein rhythmischer Taktgeber, der alle sensorischen Informationen synchronisiert. So entsteht das Gefühl eines einheitlichen Erlebens – nicht als Summe der Teile, sondern als zentriertes Ganzes. Zentrierung, in diesem Sinne, ist ein neurologisch eingebetteter Zustand von Integration, Gegenwärtigkeit und Ich-Bewusstsein.

Wozu führt es?

Erden und Zentrieren wirken:

  • Beruhigend, wenn Prozesse zu schnell oder heftig werden
  • Regulierend, bei psychischen Dysbalancen
  • Verbindend, mit sich selbst, dem Körper und der Welt
  • Angstlösend, indem sie Sicherheit im Innen und Außen stiften; Mit dem Bewusstsein in den Füßen zu sein, sah Selver, die das Sensory Awareness begründete, als ein Antidot zur Angst (Rand, 2004).

Erdung und Zentrierung sind Mittel gegen Angst, weil sie das Gefühl einer Sicherheit in der Realität und in sich selbst unterstützen. Denn Angst wird vielfach so erlebt, dass etwas von außen den Menschen in den Griff nimmt, ihn beherrscht und ihm den Boden unter den Füßen wegzieht. Das Gegenteil davon ist, zu sich selbst zurückzukehren, Selbstkontrolle zu erleben und den Boden unter den Füßen zu spüren. Zu lernen, dass der Boden einen trägt, bedeutet auch zu erfahren, dass es Halt gibt. Erden und Zentrieren können daher zur Korrektur von Schemata beitragen, die durch Angst geprägt sind (Geuter, 2019). Ein Mensch, der beispielsweise Angst hat, sich fallen zu lassen, wird seinen Körper mit angespannten Muskeln gegen die Schwerkraft halten. Das Haltemuster selbst kann wiederum die Angst zu fallen verstärken (Pohl, 2010).

Zentrierung und Erdung fördern die Selbstkontrolle und korrigieren erlernte Muster, die durch Angst oder Kontrollverlust geprägt sind. Wer gelernt hat, dass der Boden trägt, erfährt auch: Es gibt Halt.

Was ist dafür zu tun?

Du kannst dafür verschiedene Dinge tun. Hier mal ein paar Ideen:

  • Die Aufmerksamkeit nach innen in die Mitte lenken
  • Die Bewegung des Atems im Bauch spüren (Hin- und Wegströmen)
  • Im Stehen den Kontakt der Füße zum Boden wahrnehmen. Die Arbeit im Stehen, im Unterschied zum Liegen, wirkt eher progressiv. Sie weckt leichter die Bereitschaft, Ressourcen in der Verbindung mit dem Boden und mit sich selbst aufzuspüren.
  • Im Sitzen: das Gesäß auf dem Sessel spüren
  • Im Liegen: die Körperkontaktfläche bewusst spüren. Wer sich erdet, findet einen Boden, einen tragenden Grund, auf dem er steht, sitzt oder liegt, eine Steh-, Sitz- oder Liegefläche. Die jeweilige Kontaktfläche im Körper zu spüren, wirkt erdend. 

Und was deine Haltung betrifft, so kannst du mal versuchen die Schwerkraft zulassen statt gegen sie arbeiten. Dies schaffst du in dem achtsamer mit deinem Körper und seinen Empfindungen umgehst, dich somit zunehmend im Körper verankerst und dich somit immer mehr auf innere Ruhequellen ausrichtest.

„Sich der Schwerkraft und dem Boden zu überlassen, ist eine Voraussetzung für Leichtigkeit“ (Gindler, 1926).

Besonders hilfreich kann es sein, sich wie in einer Feldenkrais-Lektion dem differenzierten Spüren der Bewegung zuzuwenden: Welche Muskeln arbeiten? Wie verteilt sich das Gewicht? Wie reagieren Kopf und Becken aufeinander? In der Feldenkrais-Methode wird empfohlen, Bewegungen langsam, mit möglichst wenig Anstrengung auszuführen – denn je geringer die Kraft, desto höher ist unsere Sensitivität (Aberle, 2010). So kann das Nervensystem neue Bewegungsoptionen entdecken und selbstschädigende Muster nach und nach loslassen.

Verwurzelt-Sein in Beziehungen

Nicht nur mit der Erde, auch mit anderen Menschen braucht es eine Verbindung. Beziehungen tragen, stützen und geben Orientierung. Sie sind ein sozialer Boden, der uns hält. In diesem Sinne ist Verwurzelung auch ein relationales Phänomen. Verwurzelt ist man dort, wo die bedeutsamen anderen sind (Rolef Ben-Shahar, 2014).

Abschluss – Rückkehr zur Mitte

Vielleicht ist das, worum es letztlich geht, gar nicht so kompliziert. Bei sich zu sein, heißt vielleicht nur: anzukommen in dem, was gerade ist. Nicht woanders hinwollen. Nicht höher, schneller, besser. Sondern stiller, näher, tiefer.

Zentrieren und Erden sind keine Techniken, die man „kann“ oder „nicht kann“. Sie sind Haltungen. Innere Gesten. Ein leises Ja zu sich selbst. Und manchmal ist es dieses Ja, das uns rettet – aus der Zerrissenheit, der Überforderung, dem Gefühl, nicht mehr zu wissen, wo oben und unten ist.

Die Mitte ist kein Punkt, den man findet und nie mehr verlässt. Sie ist ein Ort, zu dem man immer wieder zurückkehrt. Wie der Atem. Wie der Schritt auf dem Boden. Wie ein stilles Gebet.

Wer in sich wohnt, muss nirgendwo hin.
Wer in sich ruht, kann sich bewegen.
Wer sich verwurzelt, kann wachsen.
Wer sich erdet, kann vertrauen.

In einer Welt, die uns so oft nach außen zieht, ist es ein Akt der inneren Würde, bei sich zu bleiben. Nicht um sich abzugrenzen, sondern um sich zu öffnen – aus der eigenen Mitte heraus. Das ist vielleicht das Spirituellste, was wir tun können: ganz da sein. Ganz Mensch sein.

Literatur:

  • Aalberse, M. (1990). Erdungsangst und die schwarze Nacht der Seele. Energie & Charakter, 21. Nr. 2, 63–75.
  • Aberle, N. (2010). Ein paar grundlegende Prinzipien der Feldenkrais Methode. Nach Vorträgen von M. Feldenkrais, A. Baniel und N. Aberle. Zürich.
  • Aposhyan, S. (2004). Body-Mind Psychotherapy. Principles, Techniques, and Practical Application. New York, NY: Norton.
  • Boadella, D. (1991). Befreite Lebensenergie. Einführung in die Biosynthese. München: Kösel.
  • Davis, W. (1999). Instroke und Neuordnung. In H. Lassek, Wissenschaft vom Lebendigen (S. 169–191). Berlin: Leutner.
  • Dürckheim, K. Graf (1973). Hara – Die Erdmitte des Menschen. München: Barth.
  • Fuchs, M. (1989). Funktionelle Entspannung. Theorie und Praxis einer organismischen Entspannung über den rhythmisierten Atem. Stuttgart: Hippokrates.
  • Geuter, Ulfried (2019). Praxis der Körperpsychotherapie: Grundhaltungen, Prinzipien und Methoden. Berlin: Springer
  • Gindler, E. (1926). Die Gymnastik des Berufsmenschen. Gymnastik, 1, 82–89.
  • Pohl, H. (2010). Unerklärliche Beschwerden? Chronische Schmerzen und andere Leiden körpertherapeutisch verstehen und behandeln. München: Knaur.
  • Rand, M. L. (2004). Experiencing: A memoir. The USA Body Psychotherapy Journal, 3(1), 69–74.
  • Restak, R. (1995). Brainscapes. An Introduction to What Neuroscience Has Learned about the Structure, Function, and Abilities of the Brain. New York: Hyperion Books.
  • Rolef Ben-Shahar, A. (2014). Touching the relational edge. Body psychotherapy. London, GB: Karnac.

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