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Bei sich sein (dritter Teil) – der Boden

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Sich bei sich selbst zu verankern ist ein Prozess. Im ersten Teil Bei sich sein (erster Teil) – Zentrieren dieser Reihe ging es darum, wie Zentrierung und Erdung helfen können, inmitten des Lebens Halt zu finden: in sich selbst, im eigenen Körper, im Kontakt zur Realität. Diese inneren und äußeren Bezugspunkte – die Mitte und der Boden – sind nicht nur Ausgangspunkt für Regulation, sondern auch Voraussetzung für die Bewegung, die daraus folgt: Aufrichtung.

Aufrichtung ist mehr als nur eine Haltung. Sie ist Ausdruck einer somatischen und seelischen Reife, die aus dem inneren Gleichgewicht erwächst. Wer gut geerdet ist, kann sich aufrichten – mit Rückgrat, mit Würde, mit Präsenz. Hier der Link zum zweiten Artikel: Bei sich sein (zweiter Teil) – Aufrichtung. In diesem Artikel widmen wir uns daher dem Körper als Träger dieses aufrechten Moments und zeigen, wie die Erfahrung von Vertikalität das Selbstbild, die Stimmung und den Kontakt zur Welt verändern kann.

Doch woraus wächst diese Aufrichtung? Was gibt ihr Halt? Was trägt sie – im wörtlichen wie im übertragenen Sinn? Diesen Fragen widmen wir uns im nächsten Teil, wenn wir den Blick vertiefen: auf den Boden, auf seine symbolische und funktionale Bedeutung – und auf die Beziehung, die wir zu ihm haben. Denn der Boden ist nicht einfach da – wir müssen ihn spüren lernen.

Der Boden als kinästhetischer Spiegel

Meine persönliche Erfahrung aus der Feldenkrais-Praxis hat mir den Boden als dritten Spiegel der Selbsterkenntnis näher gebracht – neben der Introspektion und der sozialen Beziehung. Während Introspektion durch Schreiben und Reflexion Ordnung in innere Prozesse bringen kann und soziale Begegnungen unsere Haltung im Zwischenmenschlichen spiegeln, bietet der Boden einen unmittelbaren, körperlichen Spiegel. In Feldenkrais-Lektionen liegt man bewusst auf dem Boden und erfährt: Wo liegt mein Körper auf? Welche Teile haben Kontakt? Welche nicht?

Diese körperliche Selbstbeobachtung geschieht jenseits von Bewertungen. Sie eröffnet eine neue Bewusstheit für Muster, Spannungen und blinde Flecken. Der Boden wird so zum Lehrer – zu einem stillen Begleiter der Selbstwahrnehmung. In dieser Haltung gibt es kein Ziel, nur den Moment: das Liegen, das Atmen, das Spüren.

Der Boden entzieht sich jedem Leistungsdenken. Indem wir loslassen und uns der Schwerkraft hingeben, können wir subtile Empfindungen wahrnehmen – etwa beim Rollen des Kopfes oder beim Hören auf die Stimme des Nackens. In dieser Ruhe entsteht eine Atmosphäre der Erkundung. Das ist gemeint mit „organisch“: Der Körper antwortet nicht auf Druck, sondern auf Aufmerksamkeit. Und in dieser Aufmerksamkeit bildet sich eine ganzheitliche Wahrnehmung – ein Gefühl von Einheit, getragen von der Erde.

Emotionale Zustände und der Boden

Wie wir auf dem Boden stehen – oder liegen – spiegelt unseren emotionalen Zustand wider. Die Beine können zittern vor Wut, schlottern vor Angst oder schwer sein von Trauer. Aalberse (1990) beschreibt die sogenannte Erdungsangst: Das Erleben einer existenziellen Leere, einer bedrohlichen Bodenlosigkeit. Menschen mit solcher Angst ziehen sich buchstäblich von ihren Füßen zurück. Es gelingt ihnen nicht, sich tragen zu lassen – weder vom Boden noch von Beziehungen. Er mag versuchen, sich im übertragenen Sinne an andere Menschen anzulehnen, und wenn ihm das nicht gelingt, versackt oder versinkt er kraftlos im Boden (Schmid-Bergmann, 2011). Wenn es jedoch gelingt, zu spüren, dass der Boden trägt, kann dies ein Tor öffnen zur Erfahrung, existenziell gehalten zu sein.

Vielfalt der Erdung – Techniken und Übungen

Es gibt nicht die eine Form von Erdung, die für alle gleich wirkt. Uwe Sollmann (1988) und Stephen Johnson (1993) stellen unterschiedliche Zugänge vor – etwa durch Atmung, kleine Gewichtsverlagerungen, Druckvariationen in den Füßen oder rhythmische Bewegungen. Auch auf einem Bein zu stehen, zu hüpfen oder sich gegen eine Wand zu stemmen kann Erdung erfahrbar machen.

Eine besonders bekannte Technik ist der bioenergetische Bogen (Lowen & Lowen, 1988; Röhricht, 2000). Hierbei wird Spannung im Körper aufgebaut – durch Haltung und muskuläre Aktivierung, in dem man die Fäuste über den Beckenkamm am Rücken stützt und sich dann nach hinten überstreckt – und anschließend gelöst, etwa durch die Übung Der Elefant, bei der der Oberkörper langsam in die Tiefe sinkt und über den Atem der Kontakt zum Boden bewusst erfahren wird. Dieses Wechselspiel von Spannung und Entspannung hebt das Vitalniveau und weckt das Gefühl eines festen, lebendigen Standes.

Die Übungen lassen sich mit inneren Sätzen verbinden, etwa: „Hier bin ich.“ – gesprochen im Moment des Auftretens. Solche Kopplungen von Bewegung, Sprache und Empfindung vertiefen die Integration der Erfahrung.

Horizontale Erdung und das Sitzen

Erdung ist nicht an das Stehen gebunden. Auch im Sitzen kann Erdung erfahren werden – über den Kontakt der Sitzhöcker zur Unterlage und das bewusste Abgeben von Gewicht. Aus dem Becken heraus lässt sich selbst im Sitzen Aufrichtung entwickeln. Brown (1988) spricht beim Liegen von einer horizontalen Erdung, die eher beruhigend, unterstützend und aufbauend wirkt – im Gegensatz zur aktivierenden Wirkung des Stehens.

Beide Formen – vertikal wie horizontal – ermöglichen einen realen Kontakt zum tragenden Grund, der zugleich symbolisch erlebt werden kann: als Kontakt zur Welt, zur Realität und zur eigenen Substanz. Sowohl beim vertikalen als auch beim horizontalen Erden geht es um einen realen Kontakt zu dem den Menschen tragenden Grund. Diese Erfahrung kann sehr tragend sein, denn das Leben wechselt zwischen Sich-wacklig-Fühlen und Sich-standfest-Fühlen. Ein lebendiger Zustand ist ein Zustand, der die Wechsel erlaubt. Moshé Feldenkrais sprach von einem dynamischen Gleichgewicht. Genau dieses Gleichgewicht ist seit meiner Ausbildung ein fester Bestandteil meiner Körperarbeit.

Interaktionelles Grounding

Grounding muss nicht immer alleine stattfinden. Auch im Kontakt mit anderen Menschen kann Erdung erlebt werden – etwa, wenn sich ein Mensch physisch anlehnt oder in kindlicher Angst Schutz sucht. Diese Form der intersubjektiven Erdung verweist auf frühe Beziehungserfahrungen, in denen der Körper eines Elternteils der erste „Boden“ war. Auch dies ist eine Form von Getragensein, die später durch somatische Selbstbeobachtung aktualisiert und verwandelt werden kann.

Der Boden als äußere Realität und innere Mitte

In der Körperpsychotherapie ist Grounding (Erdung) eines der zentralen Konzepte – sowohl im wörtlichen als auch im symbolischen Sinn. Der Boden spielt dabei eine tragende Rolle, da er die äußere Realität verkörpert, auf die sich das Selbst regulierend beziehen kann. Die Fähigkeit, sich mit dem Boden zu verbinden, ist somit grundlegend für Selbstregulation, Sicherheit und Präsenz. Geuter (2020) beschreibt, dass die Verbindung zum tragenden Grund nicht nur eine physische, sondern auch eine psychische Funktion hat: „Grounding wird wörtlich und metaphorisch verstanden. Es meint‚ die Tragfähigkeit des Bodens und des eigenen Stützapparates zu spüren‘“ (Geuter, 2020).

In dieser Verbindung kommt der Mensch zur Ruhe – im Gleichgewicht mit der Schwerkraft, mit sich selbst und mit der Welt. Geuter verweist auf das Konzept von David Boadella, wonach sich Erdung und Zentrierung gegenseitig bedingen:

  • Erdung ist die Verbindung zum äußeren Grund
  • Zentrierung ist die Rückbindung an den inneren Schwerpunkt, meist im Unterbauch lokalisiert

„Sich in sicherem Stehen mit der äußeren Wirklichkeit und dem tragenden Grund zu verbinden, ergänzen wir durch das Zentrieren“ (Geuter, 2020). Zentrierung bedeutet also, dass sich das Selbst nicht nur in sich sammelt, sondern auch in das Getragensein durch den Boden hinein entspannt. Beide Prozesse – die Verbindung zur Erde und zur eigenen Mitte – stärken das Ich und erhöhen die Resilienz.

Ein besonders eindrücklicher Aspekt ist die psychodynamische Verankerung: „Der erste Boden, auf dem das kleine Kind ruht ist nämlich der Körper der Mutter oder des Vaters“ (Geuter, 2020). Der Boden ist somit auch Beziehungserfahrung – eine intersubjektive Grundlage. Später wird die physische Erde zum Symbol für das, was ursprünglich durch menschlichen Halt gegeben war.

Die Art, wie ein Mensch körperlich steht, gibt Hinweise auf seine psychische Struktur: stabil oder unsicher, aufrecht oder eingesackt, in Kontakt oder vermeidend. Diese Körperhaltung ist symbolisch lesbar und kann gezielt verändert werden. Durch Übungen im Stand lassen sich Spannungsmuster verändern, sodass ein Mensch mehr ins Lot kommen kann – sowohl körperlich als auch emotional (Geuter, 2020).

Geuter betont, dass Erdung nur dann psychotherapeutisch wirksam wird, wenn sie mit innerer Aufmerksamkeit geschieht. Der Atem spielt dabei eine zentrale Rolle: „Ein gehaltener Atem steht der Verbindung zum tragenden Grund im Wege“ (Geuter, 2020). Nur durch einen freien Atemfluss kann sich die Verbindung zur inneren Mitte entfalten – was wiederum Erdung vertieft und das Gleichgewicht fördert.

Den Boden unter den Füßen finden

Der Boden ist mehr als eine Fläche, auf der wir stehen. Er ist eine Erfahrung, die sich einstellt, wenn wir bereit sind, uns tragen zu lassen. Wer den Boden wirklich spürt, spürt auch sich selbst – in seiner Schwere, in seinem Sein, im Kontakt mit der Welt. Erdung ist kein Zustand, den man einmal erreicht. Sie ist ein immer neues Sich-Hineinlehnen in die Schwerkraft, ein Sich-Anvertrauen an das, was trägt.

In einer Welt, die uns oft in die Geschwindigkeit zieht, ist es ein Akt der Selbstfürsorge, langsamer zu werden und dem Boden wieder zu begegnen – mit den Füßen, dem Atem, der Aufmerksamkeit. Erdung schenkt uns die Möglichkeit, uns selbst zu spüren, ohne uns erklären zu müssen. Sie lädt ein, den eigenen Platz einzunehmen – mit allem, was ist.

Wer den Boden spürt, steht nicht nur besser – er lebt bewusster. Denn wer gut steht, kann gehen. Wer sich tragen lässt, kann sich aufrichten. Und wer in sich ruht, kann sich verbinden – mit anderen, mit sich selbst, mit dem Leben.

Literatur:

  • Aalberse, M. (1990). Erdungsangst und die schwarze Nacht der Seele. Energie & Charakter, 21. Nr. 2, 63–75.
  • Brown, M. (1988). Die heilende Berührung. Die Methode des direkten Körperkontakts in der körperorientierten Psychotherapie (2. Aufl.). Essen: Synthesis.
  • Geuter, U. (2020). Grounding. Von äußerem Grund und innerer Mitte. körper – tanz – bewegung, 8(1), 26–29. https://doi.org/10.2378/ktb2020.art04d
  • Johnson, S. M. (1993). Charakter-Transformation. Erken- nen – Verändern – Heilen. Oldenburg: Transform.
  • Lowen, A., & Lowen, L. (1988). Bioenergetik für jeden. Das vollständige Übungshandbuch. München: Peter Kirchheim.
  • Röhricht, F. (2000). Körperorientierte Psychotherapie psy- chischer Störungen. Göttingen: Hogrefe.
  • Schmid-Bergmann, I. (2011). Hara – die Erdmitte des Menschen. Theorie des Erdens im Taiji Quan. Energie & Charakter, 42, Nr. 35, 79–90.
  • Sollmann, U. (1988). Bioenergetik in der Praxis. Reinbek: Rowohlt.

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