Tagged: Achtsamkeit · Embodiment

Bei sich sein (zweiter Teil) – Aufrichtung

Featured Image

Im ersten Teil Bei sich sein (erster Teil) – Zentrieren ging es darum, bei sich selbst anzukommen: sich zu zentrieren, sich zu erden, sich innerlich zu sammeln und dem eigenen Gewicht zu vertrauen. Wir haben gesehen, wie bedeutsam diese Fähigkeiten sind, um sich selbst zu regulieren, sich sicher zu fühlen und inmitten der Anforderungen des Lebens innerlich Halt zu finden. Zentrierung bringt uns in unsere Mitte. Erdung verbindet uns mit dem Boden, mit der Realität, mit dem Hier und Jetzt.

Doch der Weg hört dort nicht auf. Aus der Mitte heraus entsteht Bewegung. Aus der Erdung wächst etwas empor. Wer bei sich ist, kann sich neu zur Welt hin ausrichten – mit Rückgrat, mit Würde, mit Präsenz. In diesem Sinne ist Aufrichtung der nächste Schritt: eine somatische und seelische Geste, die Ausdruck davon ist, dass jemand in seiner Mitte ruht und bereit ist, in Beziehung zu treten – nicht als Reaktion, sondern aus einer inneren Kraft heraus.

Während Erdung nach unten verbindet und Zentrierung nach innen führt, öffnet die Aufrichtung den Raum nach oben und außen. Sie ist die körperliche und geistige Bereitschaft, sich zu zeigen, zu stehen, zu wirken. Und sie bringt eine neue Qualität mit sich: Würde.

Die Trias: Zentrieren, Erden, Aufrichten

Zentrieren und Erden kommen im Aufrichten zusammen, wenn der innere Halt im eigenen Skelett und der äußere Halt auf dem Boden gemeinsam gefunden werden (von Arnim, 2001). Aufrichtung ist Arbeit am Stand, an der Achse, an Statik, Balance und Schwerkraft (Aposhyan, 2004). Das lässt sich funktional und emotional verstehen. Sich aufzurichten ist eine Grundtendenz des Menschen. Babys sind bestrebt, ihren Kopf nach oben zu bringen – zunächst im Liegen, dann beim Robben und Krabbeln, später im Stehen. Aufrichtung erweitert den Lebensraum.

Doch sie kann auch Angst machen, weil sie uns in eine exponierte Position bringt, in der wir gegenüber-stehen – ein Zustand, in dem das Gleichgewicht leichter zu stören ist (Frank, 2001).

Aufrichtung als Ausdruck von Standpunkt und Konfliktfähigkeit

Eine funktionale Arbeit an der aufrechten Haltung ist auch eine Arbeit an der Konfliktfähigkeit. Wer nicht aufrecht stehen kann, kann sich nicht wehren. Wer sich nicht wehren kann, tut gut daran zu lernen, aufrecht zu stehen und aus einem inneren Gleichgewicht den Blick nach vorn in die Konfrontation zu richten.

Aufrichtung ist kein Dauerzustand, sondern eine fortwährende Aktivität. In dieser Dynamik ähnelt sie sehr der Feldenkrais-Methode. Die grundlegende körperpsychotherapeutische Technik zur Förderung der Vertikalität ist die Arbeit am Stand (Downing, 1996).

Stand und Selbstwahrnehmung

Eine Arbeit am Stand beginnt damit, den Kontakt zum Boden zu erkunden: Wie spüre ich meine Füße? In welchen Bereichen der Fußsohle nehme ich Kontakt wahr? Wie ist die Gewichtsverteilung, wie zeigen sich Spannungen im Körper (Röhricht, 2000)? Empfindet man den Stand als wacklig, angespannt, elastisch, sicher oder instabil (Lowen & Lowen, 1988)? Schon diese Fragen öffnen den Raum für somatische Selbstbeobachtung.

Bevor direkt am Stand gearbeitet wird, kann auch die Symbolik der Begegnung von Fuß und Boden erkundet werden (Gräff, 2000). 

Im Idealfall symbolisiert die Beziehung zum Boden eine haltgebende Objektbeziehung. Die Wahrnehmung des Skelett- und Gelenksystems steht für Autonomie und Selbstbewegung; die körperliche Hautgrenze für Schutz und Abgrenzung; die inneren Räume für vegetative Autonomie; und rhythmische Vorgänge für ein Gleichgewicht zwischen Geben und Empfangen (von Arnim, 1998).

Diagnostik über den Stand

Ehrensperger (1996) schlägt vor, mithilfe einer Balancierscheibe die typischen Spannungsmuster zu diagnostizieren. Wie jemand auf der Scheibe steht, sich hält, atmet – all das kann Aufschluss über grundlegende Haltungs- und Beziehungsmuster geben. Auch Übungen auf einem Seil unterstützen die vestibuläre Orientierung und zeigen symbolisch, welches Gleichgewicht jemand im Leben hat (Clauer, 2009).

Die physiologische Grundstellung

Um einen balancierten Stand einzunehmen, empfiehlt sich folgende Haltung:

  • Die Füße schulter- und beckenbreit parallel stellen
  • Das Gewicht gleichmäßig auf beide Füße verteilen – auf Ballen und Fersen
  • Spüren, wie die Füße Gewicht an den Boden abgeben
  • Die Knie leicht beugen
  • Schultern über dem Becken, Becken über den Füßen
  • Das Becken leicht nach vorn rotieren – wie im afrikanischen Tanz
  • Die Arme locker neben dem Rumpf hängen lassen
  • Sich vorstellen: am Hinterkopf zieht ein Faden zum Himmel, am Steißbein hängt ein Lot zur Erde
  • Der Kopf ruht locker in der Mitte
  • Der Atem strömt tief bis ins Becken und kehrt wieder zurück

Diese Haltung unterstützt die innere und äußere Aufrichtung. Danach kann die Frage folgen: „Was ist jetzt anders?“

Verkörperung verändert Stimmung

Eine Veränderung der Haltung beeinflusst die emotionale Grundstimmung. Wenn der Körper im Lot ist, benötigt er weniger Muskelspannung – was oft unmittelbar entlastet (Pohl, 2010).

Das Experimentieren mit dem Stand erzeugt eine körperliche Bewusstheit, die emotionale Tiefe annehmen kann. Denn Haltungsveränderungen beeinflussen das Selbstbild und das Erleben der Welt. Diagnostisch kann dies aufzeigen, wie ein Mensch „im Leben steht“ (Röhricht, 2000): fest, beweglich, unsicher, eingesackt oder rigide?

Arbeiten mit Imagination: Bottom-up und Top-down

Die Bewusstheit für den Stand lässt sich durch Imagination vertiefen – sowohl bottom-up (von der Empfindung zum Bild) als auch top-down (vom Bild zur Empfindung):

  • Bottom-up: „Wie fühlst du dich in diesem Stand? Welches Bild entsteht?“
  • Top-down: „Stell Dir vor, du bist ein Baum – welcher Baum wärst du?“

Im Qigong wird beispielsweise mit dem Bild gearbeitet, dass aus der Mitte der Fußballen Wurzeln sieben Meter tief in den Boden wachsen. Auch die Vorstellung, dass die Schwerkraft die Füße zum Erdmittelpunkt zieht, unterstützt die Verkörperung von Verwurzelung (Rytz, 2010).

Haltung wirkt auf das Selbstbild

Studien zeigen: Schon eine kleine Veränderung von gebeugter zu aufrechter Haltung kann bei depressiven Menschen dazu führen, dass ihnen eher positive Begriffe zu sich selbst einfallen (Michalak, Mischnat & Teismann, 2014). Aufrichtung hat also nicht nur eine körperliche, sondern auch eine psychologische Wirkung.

Grounding und Beweglichkeit

Grounding heißt nicht: festbetoniert stehen. Es bedeutet: beweglich verwurzelt sein. Wie ein Baum, der dem Sturm standhält, indem er sich biegt, aber nicht bricht. Bewegliche Verwurzelung macht es möglich, sich im Fluss der Gefühle zu halten. Festgehaltene Gefühle hingegen erzeugen Steifheit (Pohl, 2010).

Vertikalität in Bewegung

Aus dem Stand lässt sich die Vertikalität in Bewegung erleben – etwa durch folgende Pendelübung:

  • Stelle dir ein Pendel vor, das vom Steißbein zum Boden hängt
  • Lass das Pendel nach vorne und hinten schwingen (von Zehen zu Ferse), die Füße bleiben stehen
  • Alternativ: von links nach rechts schwingen, dann zur Mitte kommen

Diese Übungen stärken die Wahrnehmung der Mitte und der Senkrechten.

Gehen in der Vertikalen

Vom Stand aus kann in das Gehen übergeleitet werden – mit bewusster Zentrierung im Becken. Stelle dir vor, das Becken schiebt dich nach vorn. So entsteht ein Gehen aus der Mitte: in der Vertikalen und der Horizontalen zugleich – zwei Achsen, die sich im Zentrum kreuzen. Wer diesen Gang verkörpert, kann ihn auch im Alltag innerlich abrufen – als Ausdruck von Selbstwirksamkeit.

Aufrichten als Ressource

Über das Aufrichten – wie auch über das Erden – werden Ressourcen geweckt und die gesunden Anteile gestärkt (Ehrensperger, 1996). Gut zu stehen, bedeutet, den Körper neu zu organisieren – mit all der Kraft und Vitalität, die in der aufrechten Haltung liegt (Boadella, 1991).

Verankerung durch Wiederholung

Eine einzelne Übung verändert nicht das Leben. Doch sie kann einen anderen Zustand erfahrbar machen. Um ihn zu verankern, braucht es Wiederholung: dreimal täglich eine kurze Übung reicht, um mit der Haltung vertrauter zu werden. So wird sie Teil des Selbsterlebens. Die häufige Wiederholung schafft auch die Möglichkeit, die innere Haltung aus der Vorstellung heraus abzurufen.

“Sich aufzurichten weckt Kraft, Vitalität und das Gefühl, einen sicheren Stand im Leben zu haben” (Geuter, 2019).

Aufrecht durch das Leben

Aufrichtung ist mehr als eine körperliche Haltung. Sie ist eine Geste der Selbstbehauptung, der Würde und des Kontakts zur Welt. Wer sich aufrichtet, zeigt sich. Wer gut steht, kann sich bewegen – innerlich wie äußerlich.

Aufgerichtet zu sein bedeutet nicht, sich hart zu machen. Es bedeutet, elastisch zu sein – verbunden mit dem Boden, genährt aus der Mitte, offen für das, was kommt.

In einer Welt, die uns oft nach außen zieht, ist es ein Akt der Selbstfürsorge, im eigenen Lot zu bleiben. Die Aufrichtung ist dabei kein Ziel, sondern ein Weg: eine Praxis, eine Haltung, eine Erfahrung – immer wieder neu.

Literatur:

  • Aposhyan, S. (2004). Body-Mind Psychotherapy. Principles, Techniques, and Practical Application. New York, NY: Norton.
  • Arnim, A. von (1998). Funktionelle Entspannung als Therapie bei Autodestruktion. In J. Wiesse, & P. Joraschky (Hrsg.), Psychoanalyse und Körper (S. 27– 51). Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.
  • Arnim, A. von (2001). Frühes Trauma und körperbezogene Psychotherapie (am Beispiel der Arbeit mit Funktioneller Entspannung). In W. E. Milch, & H.- J. Wirth (Hrsg.), Psychosomatik und Kleinkindforschung (S. 199–215). Gießen: Psychosozial.
  • Boadella, D. (1991). Befreite Lebensenergie. Einführung in die Biosynthese. München: Kösel.
  • Clauer, J. (2009). Zum Grounding-Konzept der Bioenergetischen Analyse. Psychoanalyse & Körper, 8, Nr. 15, 79–102.
  • Downing, G. (1996). Körper und Wort in der Psychotherapie. München: Kösel.
  • Ehrensperger, T. (1996). Zwischen Himmel und Erde. Beiträge zum Grounding-Konzept. Basel, CH: Schwabe & Co.
  • Frank, R. (2001). Body of awareness. A somatic and developmental approach to psychotherapy. Cambridge, MA: Gestalt Press.
  • Geuter, Ulfried (2019). Praxis der Körperpsychotherapie: Grundhaltungen, Prinzipien und Methoden. Berlin: Springer
  • Gräff, C. (2000). Konzentrative Bewegungstherapie in der Praxis (3. Aufl.). Stuttgart: Hippokrates.
  • Hausmann, B., & Neddermeyer, R. (1996). Bewegt Sein. Integrative Bewegungs- und Leibtherapie in der Pra- xis. Paderborn: Junfermann.
  • Lowen, A., & Lowen, L. (1988). Bioenergetik für jeden. Das vollständige Übungshandbuch. München: Peter Kirchheim.
  • Michalak, J., Mischnat, J., & Teismann, T. (2014). Sitting posture makes a difference – Embodiment effects on depressive memory bias. Clinical Psychology and Psychotherapy, 21, 519–524.
  • Pohl, H. (2010). Unerklärliche Beschwerden? Chronische Schmerzen und andere Leiden körpertherapeutisch verstehen und behandeln. München: Knaur.
  • Röhricht, F. (2000). Körperorientierte Psychotherapie psy- chischer Störungen. Göttingen: Hogrefe.
  • Rytz, T. (2010). Bei sich und in Kontakt. Anregungen zur Emotionsregulation und Stressreduktion durch acht- same Wahrnehmung (3. Aufl.). Bern, CH: Huber.

Bilder: