Angst, Autonomie, Wut und Grenzen sind zentrale Aspekte unseres Erlebens, die tief in unserer biologischen und psychologischen Struktur verankert sind. Obwohl sie auf den ersten Blick getrennte Phänomene zu sein scheinen, sind sie in Wirklichkeit eng miteinander verknüpft. Angst kann uns erstarren lassen oder zu einem tieferen Verständnis unserer eigenen Bedürfnisse führen. Autonomie gibt uns das Gefühl, unser Leben selbst zu gestalten. Wut ist eine natürliche Reaktion auf Verletzungen unserer Grenzen, und eben diese Grenzen sind essenziell für ein gesundes Miteinander. In diesem Artikel versuche ich verschiedene Perspektiven, insbesondere von Deci & Ryan, Gabor Maté, Joann Peterson sowie Stephen Porges, zusammen zu bringen und aufzuzeigen, wie diese Kräfte zusammenwirken.

Angst als Ressource

In meinem Artikel "Angst als Ressource zum Gegenüber" beschreibe ich, wie Angst nicht nur ein lähmendes Gefühl, sondern auch eine Quelle für Verbindung sein kann. Angst schärft unsere Aufmerksamkeit, lässt uns Gefahren wahrnehmen und kann, wenn wir sie richtig nutzen, uns helfen, unsere eigenen Bedürfnisse besser zu verstehen. Ein besonderes Augenmerk liegt dabei auf nonverbaler Kommunikation, die in zwischenmenschlichen Beziehungen eine Schlüsselrolle spielt. Tiere, wie Pferde, können als Mediatoren dienen, indem sie Angst spiegeln und damit Menschen helfen, sie bewusster wahrzunehmen und zu regulieren. Angst stellt nicht nur ein Hindernis dar, sondern kann uns auch dabei unterstützen, neue Perspektiven einzunehmen und emotionale Enge in Weite zu verwandeln.

Autonomie: Ein menschliches Grundbedürfnis

Nach der Selbstbestimmungstheorie von Deci & Ryan (2000) sind Autonomie, Kompetenz und soziale Eingebundenheit die drei fundamentalen psychologischen Bedürfnisse des Menschen. Autonomie beschreibt das Erleben von Selbstbestimmung und persönlicher Kontrolle über das eigene Handeln. Wenn dieses Bedürfnis frustriert wird, erleben wir Ohnmacht und Unsicherheit, was wiederum Angst verstärken kann.

Studien zeigen, dass Autonomie stark mit subjektivem Wohlbefinden korreliert. Menschen, die ihre Entscheidungen als selbstbestimmt erleben, berichten über mehr Vitalität und eine bessere psychische Gesundheit (Sheldon, Ryan & Reis, 1996). Gleichzeitig führt ein Mangel an Autonomie zu erhöhtem Stress und negativen Emotionen. Besonders in zwischenmenschlichen Beziehungen kann das Fehlen von Autonomie zu Spannungen und Konflikten führen, die sich in Form von Wut manifestieren können. Und spätestens jetzt wird es richtig spannend, wenn wir von Wut sprechen, denn Wut wird leider sehr oft als unangenehme Emotion gehandhabt, was dazu führt, sie unterdrücken zu wollen. Ist dies nun hilfreich?

Wut: Eine verkannte Kraft

Gabor Maté (2019) beschreibt in "When the Body Says No", wie unterdrückte oder unregulierte Wut langfristig gesundheitliche Folgen haben kann. Wut ist eine natürliche Reaktion, die uns signalisiert, dass unsere Grenzen verletzt wurden. Gesunde Wut ist jedoch nicht zerstörerisch oder impulsiv, sondern eine Form von Selbstbehauptung. Sie hilft uns, unsere eigenen Bedürfnisse zu artikulieren und fördert ein Gefühl von Klarheit und Entspannung, wenn sie angemessen ausgedrückt wird. Maté betont, dass sowohl die Unterdrückung als auch das unkontrollierte Ausleben von Wut Zeichen von Angst sind – Angst vor der eigenen Kraft, vor Zurückweisung oder vor Konflikten. Wer gelernt hat, Wut als Werkzeug der Selbstbestimmung zu nutzen, kann sie als Energiequelle für konstruktive Veränderung einsetzen. Was mit dieser Energie bestimmt wird, ist letztlich eine Grenze, zwischen dem Ich und der Welt.

Grenzen: Die Schnittstelle zwischen Ich und Welt

Joann Peterson (2006) beschreibt Grenzen als unsichtbare, aber energetisch spürbare Markierungen unseres Selbst. Grenzen sind nicht nur physisch, sondern auch emotional und psychologisch. Sie definieren, was wir wollen, was wir ablehnen und welche Werte uns wichtig sind. Ein gesunder Umgang mit Wut erfordert klare Grenzen, die sowohl uns selbst als auch anderen Orientierung geben. Peterson argumentiert, dass Grenzen nicht starr oder abweisend sein sollten, sondern flexibel genug, um in verschiedenen Kontexten angepasst zu werden. Wer seine Grenzen klar formulieren kann, braucht weniger Wut, um sie zu verteidigen.

Das Zusammenspiel von Angst, Autonomie, Wut und Grenzen

Wie hängen diese Konzepte nun zusammen? Angst entsteht oft, wenn unsere Autonomie bedroht ist oder wenn wir nicht in der Lage sind, unsere Grenzen zu schützen. Ein autonomes Leben erfordert jedoch die Fähigkeit, Wut als gesunde, regulierende Kraft zu nutzen, um Grenzen zu setzen und zu verteidigen. Fehlt uns diese Fähigkeit, kann Angst in destruktive Wut umschlagen oder sich in Form von chronischem Stress und Krankheit manifestieren, wie Maté (2019) beschreibt.

Deci & Ryan (2000) zeigen, dass das Erleben von Autonomie eng mit dem Gefühl der sozialen Eingebundenheit verknüpft ist. Menschen, die ihre Autonomie innerhalb stabiler Beziehungen ausleben können, haben eine bessere emotionale Resilienz. Umgekehrt können enge Beziehungen erdrückend wirken, wenn sie die Autonomie einschränken. Hier entsteht oft unterschwellige Wut, die sich entweder in Rückzug oder in Konflikten entlädt.

Ein bewusster Umgang mit Angst, Autonomie, Wut und Grenzen bedeutet daher, dass wir lernen, unsere Emotionen wahrzunehmen und sie in eine konstruktive Richtung zu lenken. Angst kann uns helfen, wichtige Bedürfnisse zu erkennen, Autonomie gibt uns die Kraft zur Selbstbestimmung, Wut zeigt uns, wo unsere Grenzen liegen, und gesunde Grenzen fördern Klarheit und Sicherheit in unseren Beziehungen. Und so schließt sich der Kreis. Wo fangen wir nun an? Persönliche Meinung?!? Ich würde bei der Sicherheit ansetzen. Hmm, warum?

Regulation durch die Polyvagal-Theorie

Stephen Porges' Polyvagal-Theorie (2022) zeigt, dass unser autonomes Nervensystem in sozialen Kontexten zwischen Zuständen von Sicherheit, Kampf/Flucht und Erstarrung wechselt. Durch gezielte Strategien wie bewusste Atmung, soziale Interaktion und achtsame Berührung kann der Vagusnerv stimuliert und ein Zustand der Sicherheit gefördert werden. Dies hilft, Angst zu reduzieren, Autonomie zu stärken, Wut konstruktiv zu nutzen und gesunde Grenzen zu etablieren. Wer seinen Körper und seine Reaktionen versteht, kann bewusst in die Selbstregulation gehen und damit zu einem stabileren, resilienteren Leben finden.

Wenn du dich an die Bedürfnispyramide nach Maslow erinnerst, Sicherheit kommt direkt nach den physiologischen Bedürfnissen wie Nahrung, Schlaf, Atmung und Homöostase. D.h. in anderen Worten, ich erlaube mir ausreichend Schlaf, ernähre mich gesund und praktiziere Meditation bzw. eine regelmäßige Atempraxis. Dann wäre die Basis schon mal gesetzt. Wenn ich dann noch Übungen zur Atmung und Interaktion aus der Polyvagal Theorie oben drauf setze, komme ich meiner Autonomie schon einen erheblichen Schritt näher. Letztlich ist das Ziel nicht, Angst oder Wut zu vermeiden, sondern sie als Signale zu verstehen, die uns auf dem Weg zu einem selbstbestimmten, authentischen Leben leiten.

Und dann, genau dann, stelle dir mal die Frage, wo du nun die Linie ziehst (siehe Eingangsbild). Vielleicht ändert sich ja die Linie, vielleicht. 😉

Literatur:

  • Maté, Gabor (2019). When the body says no. The cost of hidden stress. London: Penguin
  • Peterson, Joann S. (2006). Anger, Boundaries and Safety. Wilmington: The Haven Institute Press
  • Porges, Stephen. (2022). Polyvagal Theory: A Science of Safety. Frontiers in Integrative Neuroscience. 16. 10.3389/fnint.2022.871227. 
  • Ryan, R. M., & Deci, E. L. (2000). Self-determination theory and the facilitation of intrinsic motivation, social development, and well-being. American Psychologist, 55(1), 68–78. https://doi.org/10.1037/0003-066X.55.1.68
  • Sheldon, K. M., Ryan, R., & Reis, H. T. (1996). What Makes for a Good Day? Competence and Autonomy in the Day and in the Person. Personality and Social Psychology Bulletin, 22(12), 1270-1279. https://doi.org/10.1177/01461672962212007

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