“Die Bedingungen für Stille zu schaffen, ist ein nobles Unterfangen, aber es ist umständlich, wenn man das Auto nehmen muss, um an einen Ort zu gelangen, an dem man sich ausruhen, Yoga praktizieren oder wandern kann. Oder ein Flugzeug besteigen, um in einem Retreat abzuschalten. Die besten Dinge im Leben sind manchmal umsonst. Die Stille, die mir vorschwebt, findest du dort, wo du bist und wenn du es willst, in deinem Kopf. …, man kann Stille auch zu Hause in der Badewanne erleben.” (Kagge, 2018)
Ich lese diese Zeilen und denke mir: “Ja, genau, das ist es, in der Badewanne, auf dem Fußboden oder dem Balkon”. Jetzt ist es allerdings so, das du und ich, wir alle in einer Leistungsgesellschaft leben. Stille hat da scheinbar wenig zu suchen, denn nur wer tut, kommt voran. Stille scheint hier eher einen negativen Beigeschmack zu haben. Und doch bin ich der Meinung, sie ist gerade heute sehr wichtig. Stille gibt es im Außen oder im Innen. Ich spreche hier von der inneren Stille, von der Stille im Kopf, wie Erling Kagge es nennt, oder von der Stille im Nervensystem, wie Deb Dana es nennt.
Wie ist das bei dir, wenn es im Außen komplett still ist? Und kommt es auch vor das es manchmal im Innen komplett still ist? Sind in diesen beiden Momenten andere Menschen anwesend. Sind es gewisse Zeiten oder bestimmte Orte, wo du Stille besonders wahrnimmst? Wie nimmst du dich in solchen Momenten wahr? Was macht das mit dir? Wenn du magst, halte kurz inne und spüre in dich hinein, bevor du weiterliest.
Stille und Einsamkeit
Mit sich alleine sein, ohne einsam zu sein, ohne kribbelig zu werden, ohne sich in Beschäftigungen zu stürzen, sich einfach nur selbst auszuhalten, gar keine so leichte Sache. Und dennoch möchte ich anmerken, eine lohnenswerte Sache.
“Das ganze Unglück der Menschen rührt allein daher, daß sie nicht ruhig in einem Zimmer zu bleiben vermögen.” (Bordt, 2017)
Dieses Zitat ist von Blaise Pascal (1623 - 1662), einem französischen Philosophen. Was kann damit gemeint sein? Bordt unterscheidet zwischen agieren und reagieren. Statt agieren könnte ich leben sagen und das Wort reagieren lässt sich mit funktionieren übersetzen. Maschinen funktionieren, Menschen leben. Leben mit voller Lebendigkeit ist sozusagen das Ziel. Leiden ist dabei der Ausgangspunkt. Also, aus dem Leiden, durch das Lieben hin zum Leben. Gibt es dabei etwas zu beachten?
Es fängt mit der Freiheit an. Manchmal hat ein Mensch eine starke Tendenz zu jammern, zu meckern, das Außen zu beschuldigen. Das Außen mag nicht immer perfekt sein, umgeben von Leistungsdruck, Oberflächlichkeit und Schnelllebigkeit, doch hindert es den Menschen wirklich? Der größte Feind ist nicht das Außen, sondern das Innen. Der größte Feind bin ich selbst. Wie siehst du das? Stelle Dir dies mal vor, das du dein größter Feind bist. Wie fühlt sich das an? Was ist dein erstes Gefühl, welches du wahrnehmen kannst?
Regt sich da eventuell Widerstand? Magst du das Wort Feind nicht? Wie wäre es stattdessen mit dem Wort Hindernis oder, noch besser, mit dem Wort Herausforderung. Wenn du dir die Frage jetzt noch mal stellst, was passiert dann?
Zurück zur Freiheit. Das bedeutet nun: keine Bevormundung von Außen, mögen dies Parteien sein, Arbeitgeber, Mitmenschen. Das bedeutet auch: keine Krankheit und Armut. Dieses Leben, frei von äußeren Zwängen, bedarf natürlich moralischer Regeln für die Gemeinschaft, Regeln, welche die soziale Identität definieren, denn ohne diese wäre keine Würde und kein Glück möglich. Zudem bedeutet es aber auch die innere Selbständigkeit, d.h. Einfluß nehmen auf mein Denken, Fühlen und Erleben. In anderen Worten bedeutet es Autor meines Lebens zu sein, sowie zugleich auch Subjekt (Bieri, 2011).
Leidensvoll wird es genau dann, wenn ich mich selbst verleugne, oder mich selbst verneine (Koch-Kersten, 2021), um mich ganz und gar ans Außen anzupassen. Was ich dabei verpasse, ist mein eigenes Leben. Es scheint als würde alles miteinander verschwimmen. Es scheint, als würden sich alle Grenzen auflösen. Haben Grenzen eventuell etwas mit dem Selbst zu tun? Laut Koch-Kersten zeichnet sich der Weg von der Selbstverneinung zur Selbstbejahung über die Bejahung aller Gefühle sowie aller Abwehrmechanismen. Abwehrmechanismen sind Fluchtmöglichkeiten laut Bordt: ein Termin jagt den nächsten, shoppen, komplett verplant sein, süchtig sein, nicht ruhig sitzen können. Ich flüchte sozusagen vor mir selbst. Ich kenne das. Kennst du das auch? Warum ist das der Fall?
Die Antwort von Bordt ist Einsamkeit. Allein sein ist die eine Sache, aber alleine zu sein, konfrontiert mich mit meiner Einsamkeit. Doch gibt es hier einen fundamentalen Unterschied. Alleine wurde ich geboren und alleine werde ich sterben und alleine werde ich die meiste Zeit meines Lebens sein. Alleine sein ist noch kein Problem, einsam sein ist das Problem. Doch in der Einsamkeit steckt ein Potential. Das Potential bin ich. Dafür benötige ich laut Bordt Mut, Kraft und Überwindung, mich selbst zum Thema zu machen, oder mich selbst zu beachten (Koch-Kersten, 2021), oder mich eben selbst auszuhalten.
Jetzt kann es passieren Kritik einzufahren, genau dann wenn du dich auf den Weg machst, auf den Weg zu Dir, um Verbindung zu Dir, zur Welt und zum Leben herzustellen. Vielleicht kommt diese Kritik von Menschen, welche der Leistungssucht bzw. der Geschäftigkeit (Fromm, 1999) nachgehen. Es sind Menschen, die nicht bei sich sind, sich nicht eingrenzen können, sich selbst nicht aushalten können. Geschäftigkeit ist laut Fromm das Gegenteil von Aktiv sein. Aktiv sein wäre ein Synonym von Leben, oder von Agieren (Bordt, 2017) oder von Selbstbejahung (Koch-Kersten, 2021). Wer es allerdings mit sich aushält, ist überhaupt fähig mit anderen sein zu können, also wirklich in Resonanz zu gehen, wirklich beim Gegenüber zu sein, ohne ständig über noch offene Rechnungen, den nächsten Urlaub, die Nachbarn, etc. nachzudenken. Menschen, welche dies nicht können, nicht abschalten können, nicht loslassen können, scheinen andere Menschen nur zu brauchen, oder zu gebrauchen, um der Einsamkeit zu entfliehen. Eine tiefe Beziehung scheint hier schwer möglich und Gefühle der Leere machen sich bemerkbar, die dann eventuell erstickt werden in einer Sucht, welche auch immer das ist.
Laut Cacioppo (2008) ist Einsamkeit verbunden mit Egozentrismus, nicht mit Egoismus. Egozentrismus wäre demnach: Ich drehe mich nur um mich. Im Gegensatz dazu wäre Egoismus: Ich kümmere mich um mich. Dieser Egoismus ist für mich das Lieben, aus dem Leiden heraus und hinein ins Leben. Cacioppo schreibt, dass subjektiv wahrgenommene Einsamkeit wichtiger ist als objektive Einsamkeit. Sinn der Einsamkeit ist es, sich um den sozialen Körper zu kümmern, genau so wie der Sinn von Hunger und Durst ist, sich um den physischen Körper zu kümmern (Cacioppo, 2008).
Biologisch betrachtet, nach der Polyvagal Theorie, ist Stille in zwei Bereichen des Nervensystems zu finden. Im dorsalen vagalen Ast und im ventralen vagalen Ast des Parasympathikus. Der dorsale Ast hat mit Dissoziation, mit Kollaps zu tun, aufgrund einer lebensbedrohlichen Überforderung. Der ventrale Ast hat mit Verbindung, Lebendigkeit und Ruhe zu tun. Wenn wir jetzt allerdings diese beiden Äste kombinieren, so können wir Stille ohne Angst erleben (Dana, 2021). Deb Dana gibt sehr viele Anregungen und Übungen dazu in ihrem Buch, was ich sehr empfehlen kann.
Ich möchte diesen Artikel mit einem Zitat schließen.
“Einsicht braucht Ruhe. Wenn wir uns ständig belabern, uns mit Unwichtigem belasten, dann können wir uns nicht in unserer Schönheit wahrnehmen und sind nicht imstande, unser Leben entsprechend zu gestalten.” (Lehofer, 2019)
Literatur:
- Bieri, Peter (2011). Wie wollen wir leben? Salzburg: Residenz Verlag
- Bordt, Michael SJ (2017). Die Kunst sich selbst auszuhalten. Ein Weg zur inneren Freiheit. Hamburg: ZS Verlag
- Cacioppo, John T. & Patrick, William (2008). Loneliness. Human nature and the need for social connection. New York: W.W. Norton
- Dana, Deb (2021). Anchored. How to befriend your nervous system using Polyvagal Theory. Boulder: Sounds True
- Fromm, Erich (1999). Haben oder Sein. Die seelischen Grundlagen einer neuen Gesellschaft. Band II Gesamtausgabe. Analytische Charaktertheorie. Stuttgart: DTV
- Kagge, Erling (2018). Stille. Ein Wegweiser. Berlin: Insel Verlag
- Koch-Kersten, Brigitte (2021). Personenzentrierte Traumatherapie: Heilung durch Selbstbejahung. Kröning: Asanger Verlag
- Lehofer, Michael (2019). Mit mir sein. Selbstliebe als Basis für Begegnung und Beziehung. Wien: Braumüller