Im Artikel "Hamster oder Sisyphos?" schrieb ich über den Unterschied zwischen der Lebensweise des Hamsters und der von Sisyphos. Diese Lebensweisen beziehen sich natürlich auf den Menschen. Der Hamster, sich im immer gleichen Trott abstrampelnd, fristet ein mehr oder weniger leidvolles Da-Sein. Demgegenüber hat sich Sisyphos von äußeren Zwängen befreit und verfolgt aus Selbstzweck ein tiefgründiges und sinnhaftes Leben. Der Hamster könnte einem ja schon fast wie ein Dopaminsüchtiger vorkommen, hingegen der Sisyphos als jemand, welcher sich seiner Begrenzungen bewusst ist und mehr im Moment ist. Jetzt sieht dies wie ein Schwarz-Weiß Bild aus, zwei Endpunkte auf einem Kontinuum. Gäbe es auch eine Mitte, oder vielleicht sogar eine leicht verschobene Mitte in Richtung von Sisyphos? Ich denke, die gibt es. Diese Mitte, oder diese leicht verschobene Mitte ist auch der eigenen Erkenntnis, dem eigenen Handeln und der Eigenverantwortung geschuldet. Und, wie komme ich jetzt dort hin? Das hat sehr viel mit Möglichkeiten, sowie auch deren Begrenzung zu tun.

Freiheit, Möglichkeiten und Sucht

Wir leben heute in einer Kultur, welche viel mehr ermöglicht als noch vor hundert Jahren. Wir könnten von Freiheit sprechen. Dafür haben wir alle, mehr oder weniger, viel getan. Diese Freiheit, welche mit einem starken Wachstum von Möglichkeiten einhergeht, immer und überall, alles haben zu können, hat auch ihre Nachteile. Vor hundert Jahren gab es z.B. noch keinen Fernseher, keine Mikrowelle, keinen Kühlschrank, kein Haartrockner, keine Mobiltelefone, etc. Flugzeuge für Reisen, daran war gar nicht zu denken. Nun ja, es ist heute so wie es ist und wir alle lernen daraus, hoffe ich zumindest. Es wird mehr werden, mehr an Möglichkeiten. Diese Möglichkeiten wirken fast wie eine Sucht. Von Begrenzung kann hier keine Rede sein.

Anna Lembke (2021) spricht vom Massenkonsum und vom Spielen. Spielen, eine wahrhaft tolle Angelegenheit, denn dabei denke ich zuallererst an Kinder und als zweites an Feldenkrais. Spielen wird hier jedoch in einen anderen Zusammenhang gebracht. Die Umgebung scheint einem Spielplatz, einem Vergnügungspark zu gleichen. Vieles muss ganz besonders sein, die Art und Weise wie wir essen; die Online Plattformen, die wir nutzen; wie wir uns in der Öffentlichkeit verkaufen. Es folgt dabei einem einfachen Reiz-Reaktions-Schema. Der Reiz soll möglichst eine große Reaktion auslösen, wie dies unter anderem bei Drogenkonsum der Fall ist. Frau Lembke spricht in diesem Zusammenhang auch vom limbischen Kapitalismus, d.h. immer mehr, immer höher, immer schneller, immer mehr “sensation” (sensation = Empfindung). Doch leider verfliegen diese Empfindungen sehr schnell, weswegen wir auch von “sensation seeking” sprechen können. Wir sprechen hier eindeutig von Sucht, welche ein Ungleichgewicht im Nervensystem auslöst. Auf Dauer nicht wirklich gut. Gibt es da einen Weg raus? Ja, es gibt Wege.

Spannung und Freiheit

Es hat viel mit Wahrnehmung zu tun. Wahrnehmung meiner Gedanken, meiner Gefühle, meiner Empfindungen. Wahrnehmung von Außen und von Innen. Vor allem Wahrnehmung von Impulsen, d.h. einen sofortigen Reiz nachgehen zu wollen, ihn erfüllen zu wollen. Wenn ich aber in der Lage bin, diese Spannung zu ertragen, sie auszuhalten, ohne ihr gleich nachzugehen, sprechen wir von einer inneren Freiheit (Bordt, 2017). Zwischen Reiz und Reaktion besteht eine Lücke. Genau diese Lücke gilt es anzusehen. Laut Bordt kann es nicht das Ziel sein, nicht zu handeln, sondern bewusst zu handeln, dass schließt auch ein Nichthandeln mit ein. Keine Passivität, sondern eine Aktivität, ein Agieren, kein Reagieren. Aber auch keine Flucht. Flucht wovon? Flucht vor der Freiheit.

Flucht und Freiheit

Erich Fromm (1966), Psychoanalytiker, Philosoph und Sozialpsychologe, unterscheidet drei Formen von Flucht. Die erste Flucht bezieht sich auf das Autoritäre. Diese hat einen Doppelaspekt. Es bedeutet auf der einen Seite, andere zu unterdrücken. Das kann in der Familie, der Arbeit oder im öffentlich sozialen Leben der Fall sein. Die andere Seite stellt die Unterwürfigkeit dar, was so viel bedeutet wie, Ideologien zu folgen, aufgrund eines Fehlens der eigenen Stimme bzw. der eigenen Meinung. Dies passiert laut Fromm, um sich stark zu fühlen. Es gibt noch eine weitere Form der autoritären Macht, die subtile Macht des gesunden Menschenverstandes. Nicht allzu oft ist zu hören, “Mensch, das weiß doch jedes Kind, das ist doch gesunder Menschenverstand”. Ich frage mich dann immer, was genau meint diese Person wohl damit. 

Die zweite Flucht bezieht sich auf das Destruktive. Inhalt dieser Flucht ist die Zerstörung, als Resultat eines ungelebten Lebens. Das bedeutet wieder, ich lebe nicht mein Leben, sondern übernehme Glaubenssätze, von wem auch immer, und lebe diese. Damit beschneide ich mich allerdings nur selbst. Ich leibe mir eine andere Stimme ein, da ich selbst meine noch nicht entdeckt habe, bzw. sie gar nicht entdecken möchte.

Eine dritte Flucht wäre der Konformismus. Dies hat nichts mehr mit Selbstwerdung zu tun. Diese wird zugunsten der Gemeinschaft, bzw. der Gesellschaft aufgegeben. Alle gleichen sich an. Auch hier findet sich keine eigene Stimme, sondern hier werden die Erwartungen anderer gelebt. Was der Vorteil hier wäre, ist die Flucht vor der Einsamkeit. Einsamkeit kann eine Herausforderung darstellen und da kann die Gemeinschaft helfen. Vielleicht eine andere Gemeinschaft, die nicht den Konformismus frönt. 

Mit Freiheit haben diese Fluchttendenzen nichts zu tun. Diese Fluchttendenzen sind jedoch auch nicht in Stein gemeißelt. Sie unterliegen der Veränderung, sofern ich das möchte. Womit kann diese Veränderung nun zu tun haben?

Die Anderen, Eingrenzung und Sicherheit

Freiheit kann also nicht bedeuten, immer mehr Möglichkeiten auszuschöpfen. Freiheit kann auch nicht bedeuten, Macht über andere auszuüben, sich unterzuordnen oder zerstörerisch zu werden. Freiheit hat auch viel mit Eingrenzung und auch mit Abgrenzung zu tun. Freiheit besteht nicht nur auf das Schielen der Verwirklichung des eigenen Ichs, sondern geht auch mit einer Blickerweiterung einher und zwar auf das engere Umfeld, in dem ich mich eingegrenzt befinde. Diese Eingrenzung auf das engere Umfeld schafft einen Rahmen, der Entwicklung ermöglicht. Entwicklung hin zur eigenen Stimme, denn eine Stimme braucht auch immer einen Widerhall von außen, um nicht im eigenen Echo zu ersticken. Wie kann die Polyvagal Theorie dabei behilflich sein?

In der Polyvagal Theorie sprechen wir von Neurozeption. Unser autonomes Nervensystem reagiert auf Hinweise (Sicherheit, Gefahr und Lebensgefahr). Diese können von innerhalb unseres Körpers kommen, der Umwelt und anderen Menschen. All das passiert unterhalb unserer Wahrnehmungsschwelle. Das war wir uns dann erzählen ist eine Geschichte. Diese Geschichte ist immer nachgelagert. “Story follows State”. Zuerst waren Zustände da, dann Geschichten, dann schaffen diese Geschichten wiederum Zustände.

Durch wechselseitige Regulation fühlen wir uns sicher und bewegen uns hin in eine Verbindung zu uns und anderen. Durch Beziehungen lernen wir über die Welt bezüglich des Verhaltens von Verbindung und Sicherheit oder Schutz (Dana, 2018). Daher kann ein Mensch alleine zwar schnell vorankommen, aber ob er weit kommen wird, steht auf einem anderen Blatt. Jetzt müssten wir schnell und weit definieren. Das tue ich hier mal absichtlich nicht. Noch einmal, diese Eingrenzung kann Verbindung schaffen, eine Entwicklung der eigenen Stimme schaffen, sofern die notwendige Sicherheit in dieser Gemeinschaft gegeben ist.

Freiheit und Abgrenzung

Die psychische Grenze bestimmt unser Leben, entscheidet über unser Wohlbefinden, schützt uns vor ungewünschten Eindringlingen, spezifiziert den Austausch von außen nach innen und von innen nach außen. Eine psychische Grenze stellt die Größe und Form unseres Innenlebens dar, welches aus Gefühlen, Gedanken, Erfahrungen, Bildern besteht. Eine psychische Grenze hilft uns vor allem dabei, unsere Gefühle von den denen anderer zu unterscheiden. Diese Unterscheidung hilft uns dabei mehr in Verbindung zu sein mit unserem Selbst, der Welt um uns herum und dem Leben. So kann Selbstbewusstsein entstehen, durch eine klare Grenze. In dem wir mehr in Verbindung mit uns sind und unseren Gefühlen Berechtigung schenken gibt uns das Selbstvertrauen. 

Laut Klaus Blaser (2015) gibt uns diese psychische Grenze zwei Dinge: Freiheit, denn wir können uns nun in unserem psychischen Raum frei aufhalten, unsere Gefühle und Verhaltensweisen beobachten und damit Freiheit, Entscheidungen zu treffen. Diese Entscheidungsfreiheit macht es uns auch erträglicher ein NEIN von außen zu bekommen, denn dann sehen und verstehen wir, dass ein anderer Mensch auch ein Recht auf seine psychische Grenze hat.

Diese psychische Grenze gibt uns auch Sicherheit, welche über das Wohlbefinden hinausgeht. Diese Geborgenheit innerhalb der Grenze löst Zuversicht und Gelassenheit aus. Nun können Entscheidungen im Einklang mit dem eigenen Selbst getroffen werden. Unsere Grenze ist die Verbindung nach außen, zur Umwelt. Sie bestimmt wie ich die Außenwelt wahrnehme und wie diese mich wahrnimmt. Ändere ich meine Grenze, so ändere ich auch die Wahrnehmung dieser, von außen betrachtet.

Eingegrenzt und abgegrenzt - es fehlt noch die Mäßigung

Es bedarf also einer Eingrenzung, einer Abgrenzung und einer Mäßigung. Jeden Reiz nachzugehen stellt kein Mäßigung dar. Die berühmte Lücke zwischen Reiz und Reaktion zu beachten, wäre ein Anfang. Sich selbst dabei ernst zu nehmen, sich selbst zu ermächtigen, im Sinne von einer gesunden Abgrenzung gegenüber äußeren Reizen sowie inneren Impulsen, wäre ein guter Start in Richtung Autonomie, in Richtung der Entwicklung der eigenen Stimme. Diese eigene Stimme könntest du, laut Anna Lembke (2021) mit “self binding” und radikaler Ehrlichkeit einüben.

Eine Übung wäre dabei sich irgendeine Lust zu nehmen, z.B. den chronischen Gebrauch von Social Media (ich rede von 4, 5 Stunden und mehr pro Tag), oder obsessives Kaffeetrinken, oder oder oder und sich eine Grenze setzen, diese zu beobachten und die Spannung zu ertragen. Self Binding wäre demnach ein absichtsvolles und gewolltes Setzen von Grenzen zwischen uns und der Sucht. Diese Sucht kann eine Substanz oder ein Verhalten betreffen. Wichtig dabei ist die Grenze des freien Willens zu akzeptieren und uns trotzdem an unser Ziel zu binden. Radikale Ehrlichkeit produziert Bewusstheit über unsere Aktionen, schafft Intimität zu anderen, kreiert eine wahrhaftige Biographie. Wie das denn? In dem ich mir antworte und auch andere in mein Vorhaben einweihe. Diese anderen gehen dann diesen Weg mit mir und das schafft Verbindung (Dana, 2018). 

Was wäre noch zu sagen?

Ganz ohne Selbst geht dies natürlich nicht. Denn was möchte ich denn abgrenzen, wenn ich kein Selbst habe, bzw. noch nicht entwickelt habe. Dieses Selbst unterliegt dem Wachstum, der Entwicklung. Das ist die berühmte Flußmetapher “du kannst niemals in den gleichen Fluß steigen”. So ist es auch mit dem Selbst. In diesem Fluß lässt du eine Überidentifikation hinter dir. Es ließe sich auch Identität dazu sagen zugunsten einer Integrität. Du integrierst alle Teile, jedenfalls die bewussten Teile in dir.

Und, wie ist es jetzt, wie gehts dir, möchtest du ein wenig mehr den Weg des Sisyphos gehen? In ganz anderen Worten, möchtest du einfach nur du sein und Spannungen aushalten? Wenn ja, drücke ich dir beide Daumen. 😉

Literatur:

  • Blaser, Klaus (2015). In mir und um mich herum. Ich-Grenzen dreidimensional visualisieren. Basel: Synergia Verlag
  • Bordt, Michael SJ (2017). Die Kunst sich selbst auszuhalten. Ein Weg zur inneren Freiheit. Hamburg: ZS Verlag
  • Dana, Deb (2018). The Polyvagal Theory in Therapy. New York: W.W. Norton & Company
  • Fromm, Erich (1966). Die Furcht vor der Freiheit. Berlin: Deutsche Buch Gemeinschaft
  • Lembke, Anna (2021). Dopamine Nation. London: Headline

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