Willenskraft, eine alltagssprachliche Bezeichnung für einen Fachbegriff aus der Motivationspsychologie (Brandstätter et al., 2013). Dieser Begriff heißt Volition und steht für Attribute wie Tatkraft, Zielstrebigkeit, Entschlossenheit und Ausdauer. Ist Willenskraft nun etwas gutes oder hat diese eventuell auch Nachteile? Gute Frage. Viel Spaß beim Lesen. Moshé Feldenkrais würde sich ja direkt gegen das Konzept Willenskraft aussprechen. Ein bekannter Sozialpsychologe in den Bereichen Motivation und Selbstkontrolle, Roy Baumeister, prägte den Begriff “Ego Depletion” (Baumeister & Tierney, 2012). Ego Depletion ist laut Baumeister das Erklärungsmodell, dass die Fähigkeit zur Selbstkontrolle limitiert ist, somit scheitert ein Individuum daran, größere Änderungen vorzunehmen. Mehr dazu gleich.
Nicht Streben - Erreichen
In der fernöstlichen Philosophie heißt es nicht umsonst, dass der, der nicht strebt, erreicht. Dies ist ein Satz mit sehr viel Tiefe. Bedeutet “nicht streben” etwa keine Ziele zu haben, in den Tag hinein zu leben, alles mit Leichtigkeit zu tun? Für Feldenkrais (Feldenkrais, 2013) war Willenskraft nicht unbedingt etwas schlechtes, sondern ist eher ein Zeichen dafür, das eine Person die notwendigen Fähigkeiten für die Ausführung einer Handlung noch nicht ins Detail herausgearbeitet hat. Deswegen versuchte die Person die Tätigkeit mit noch mehr Anstrengung und Willenskraft zu erreichen. Willenskraft wäre somit ein Indikator dafür, das eine Handlung noch einiges an Optimierung bräuchte, um dann ohne Willenskraft ausgeführt werden könnte. In anderen Worten sprechen wir hier von der gut-koordinierten Aktion, wie sie z.B. bei Profisportlern oder Tänzern zu sehen ist. Jeder, der versucht diese Bewegungen nachzumachen, wird eventuell feststellen, das einiges an Willenskraft dazu benötigt wird und natürlich auch Zeit. Talent hin oder her. Mehr zum Thema Talent findest du hier: Was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmermehr.
Ok, wir brauchen und Motivation, Disziplin, Persistenz, ein festes Ziel vor Augen. In der Feldenkrais Arbeit versuchen wir Kraft zu reduzieren, um an den Feinheiten von Bewegungen und Handlungen zu arbeiten. Der Weg stellt hierbei das Ziel dar, also nicht ein “in den Tag hinein zu leben”, sondern ein “sich voll einer Sache hingeben”. Der achte Vers aus dem Buch “Tao te King”, übersetzt von Richard Wilhelm, beschreibt in einer Analogie, wie gute Taten erreichbar sind, anhand der höchsten Güte des Wassers.
“Höchste Güte ist wie das Wasser.
Des Wassers Güte ist es,
allen Wesen zu nützen ohne Streit.
Es weilt an Orten, die alle Menschen verachten.
Drum steht es nahe dem SINN.
Beim Wohnen zeigt sich die Güte an dem Platze.
Beim Denken zeigt sich die Güte in der Tiefe.
Beim Schenken zeigt sich die Güte in der Liebe.
Beim Reden zeigt sich die Güte in der Wahrheit.
Beim Walten zeigt sich die Güte in der Ordnung.
Beim Wirken zeigt sich die Güte im Können.
Beim Bewegen zeigt sich die Güte in der rechten Zeit.
Wer sich nicht selbst behauptet,
bleibt eben dadurch frei von Tadel.” Laotse (1978)
Gute Taten entstehen durch Vergleich, zu wissen von deren Zuträglichkeit und Abträglichkeit. Ein Verständnis von den Konsequenzen der Taten ist von ausschlaggebender Wichtigkeit. Laotse nimmer Wasser als Symbol, welches im Überfluss vorhanden ist und allen Menschen nutzt. Es kann nicht falsch liegen, denn Wasser gibt immer nach. Es fließt immer stromabwärts zu den tiefsten Plätzen und das mit minimalen Aufwand, ohne einen Schaden zu hinterlassen, solange man es nicht in einen unnatürlichen Lauf zwingt. Alles Leben entstand aus dem Wasser, somit kann Wasser als Lehrer des Laufes der Dinge gesehen werden. Es gibt immer einen Weg für die gute Tat. Wenn dieser nicht ersichtlich ist, sind wir schon zu lange auf dem falschen Weg unterwegs. Obwohl Laotse von der guten Tat gegenüber anderen spricht, füge ich die gute Tat gegenüber einem selbst mit hinzu. Wenn der Weg das Ziel ist und es darum geht, voll in einer Sache aufzugehen, ist es hilfreich von Zeit zu Zeit dem Wasser zu folgen, in anderen Worten, der Selbstregulation. Selbstkontrolle bzw. ein zu viel an Willenskraft deutet darauf hin, dass der Weg nicht mehr stimmen kann, denn Wasser gibt nach, so auch die Selbstregulation. Auf der Suche nach der besten individuellen Lösung. Was gut für die eine Person ist, muss nicht notwendigerweise gut für jemanden anderes sein.
Wenn du mehr zum Thema Willenskraft und Imagination lesen möchtest, klicke gerne hier: Willenskraft und Imagination.
Willpower von Baumeister und Tierney
Ich erinnere mich an einem Aufenthalt am Flughafen in Atlanta. Ich lief an einem Büchergeschäft vorbei und ein Buch mit Aphorismen bat mich, gelesen zu werden. Nach dem Zufallsprinzip schlug ich dieses Buch auf und fand folgenden Spruch:
“Zuerst triffst du deine Entscheidungen, dann drehen sich diese herum und erschaffen dich”
Doch was wenn ich keine Entscheidungen treffen kann, weil ich einfach zu müde bin, oder einen Mangel an Informationen habe oder oder oder? Sind manche Entscheidungen schwerer zu treffen als andere? In Ihrem Buch “Willpower” gehen Roy Baumeister und John Tierney näher auf die Zusammenhänge von Entscheidung, Willenskraft, Selbstkontrolle und Handlung ein.
Morgens ist der Tank noch voll
Zum einen ist die Willenskraft endlich. Wir wachen zwar morgens auf, mit vollen Tanks an Willenskraft, doch diese Tanks werden über den Tag verteilt entleert, manchmal schneller, manchmal langsamer. Genug Schlaf und eine gesunde Ernährung bieten große Vorteile, doch auch eine gewisse mentale Klarheit ist nicht zu vernachlässigen. Versuchungen lauern ja überall, der Schokokuchen in der netten Cafeteria nebenan, ein erfrischendes Bier oder zwei mit Arbeitskollegen, oder einfach nur in der Sonne liegen und vor sich hin dösen. Diesen Versuchungen zu widerstehen kostet eine Menge Selbstkontrolle. Diese Selbstkontrolle wird durch die Willenskraft gestärkt. Aber auch der Unlust zu strotzen, morgens aufzustehen, um zur Arbeit zu gehen, die Steuererklärung zu machen, die Wohnung zu putzen etc. brauchen Willenskraft. Diese verschiedenen Herausforderungen speisen sich alle aus derselben Quelle. Es gibt keine verschiedenen Tanks an Willenskraft.
Ego Depletion
Die zentrale Aussage des Ego-Depletion-Modells ist, dass die Fähigkeit zur Selbstkontrolle von der Willenskraft einer Person abhängt. Kurz: Ego Depletion bedeutet so viel wie Selbsterschöpfung, um einen deutschen Begriff zu verwenden. Die Willenskraft wird von den Selbstregulationsressourcen genährt. Das Selbst muss Energie aufwenden (also die Ressourcen nutzen) um Selbstkontrolle auszuüben. Je mehr Selbstkontrolle benötigt wird, desto schneller ist die Energie verbraucht. Dann sprechen wir von Ego-Depletion. Das Fällen von Entscheidungen, aktives Agieren und die Kontrolle von Impulsen, Gedanken und Emotionen entleeren die Energie. Was sind die grundliegenden Annahmen des Modells?
Annahmen des Ego-Depletion Modells
Es gibt drei Annahmen zum Ego-Depletion-Modell:
- Universalität bedeutet, das es egal ist, welche Aufgabe Selbstkontrolle erfordert, denn die Selbstkontrolle wird immer aus der gleichen Ressource genährt.
- Beschränktheit bedeutet, wie oben schon erwähnt, das Ressourcen endlich sind, also über den Lauf eines Tages aufgebracht werden.
- Abhängigkeit bedeutet, das die Fähigkeit zur Selbstkontrolle ausschließlich von der Ressource abhängt.
Willenskraft als Muskel
Wird durch aktives willentliches Handeln die Energie teilweise oder vollständig verbraucht, so ist bei einer darauffolgenden Aufgabe die Selbstregulationsperformanz vermindert oder nicht mehr vorhanden. Nach dem Modell ähnelt die Willenskraft einem Muskel, welcher nach Anwendung kurzfristig erschöpft ist, sich langfristig jedoch trainieren lässt, so dass die Fähigkeit zur Selbstkontrolle wächst. Das Modell der Energie, hat natürlich auch mit dem Verbrauch von Glukose im Gehirn zu tun. Glukose im Blut ist bei Tätigkeiten, die Selbstkontrolle erfordern, ausschlaggebend.
Replikationsprobleme
Dieses Modell wurde versucht zu replizieren, also von anderen Versuchsleitern unter ähnlichen bzw. gleichen Bedingungen, um an einem anderen Ort, auf gleiche bzw. ähnliche Ergebnisse zu stoßen. Die Effekte von Baumeister konnten nicht nachgewiesen werden. Manche Versuchsleiter fanden sogar das Gegenteil heraus. Ob die Annahmen des Ego-Depletion-Modells gültig sind bleibt weiterhin Forschungsgegenstand.
Kategorien der Willenskraft
Interessant finde ich hierbei auch die Einteilung der Willenskraft in vier Kategorien:
- Kontrolle der Gedanken
Erfolg hat mehrere Qualitäten, unter anderem Intelligenz und Selbstkontrolle. Wir wissen nicht wie wir Intelligenz erhöhen, jedoch wie wir Selbstkontrolle verbessern können. Darwin sagte einst, das es die höchste mögliche Stufe in unserer Kultur ist, wenn wir schließlich realisieren das wir unsere Gedanken kontrollieren können. Es gibt ein buddhistische Beschreibung namens „Affengeist“ zu unseren mentalen Prozessen, die manchmal oder in der Regel (abhängig von der Person) durch hohe Ablenkbarkeit gekennzeichnet sind. Diese Prozesse springen wie ein Affe von Baum zu Baum. Jeder Reiz führt zu einer Reaktion, unsere Aufmerksamkeit ist nie bei einer Sache. Durch Achtsamkeitstraining können wir diesen Affen dazu bringen, bei einer Frucht zu bleiben und nicht immer hin und herzuspringen. - Kontrolle der Emotionen
Wir können unser Gemüt durch Willenskraft nicht ändern, jedoch das wie wir darüber denken oder wie wir uns benehmen, können wir ändern, indem wir unsere Gedanken regulieren. - Kontrolle der Impulse
Dies besteht in dem Widerstehen von Versuchungen (Alkohol, Sex, Kaffee...). Wir kontrollieren hier wie wir reagieren. Das war unter anderem die Voraussetzung für die Zivilisation (Landwirtschaft) und noch viele weiter Dinge. - Kontrolle der Leistung
Dies gelingt uns indem wir den Fokus auf die derzeitige Tätigkeit setzen und dadurch unsere Kräfte einteilen. Genau dieser Punkt ähnelt der Gruppenlektion “Bewusstheit durch Bewegung” in der Feldenkrais Arbeit. Hier fokussieren wir uns auch auf gewisse wenige Bewegungen und erweitern unseren Bewegungsspielraum und unsere Wahrnehmung je nach Anforderung.
Wünsche und Pflichten
Wünsche/Verlangen und gewisse Pflichten sind die Norm und nicht die Ausnahme. Wir verbringen sehr viel Zeit damit unserem Verlangen nicht nachzugeben. Laut einer Studie tun wir das bis zu drei Stunden am Tag, z.B. essen, schlafen, nichts tun, Sex, E-Mail checken, Musik hören, Fernsehschauen. Um diesem Verlangen nicht nachzugeben, gibt es Strategien. Wir können uns entweder ablenken oder eine neue Aktivität starten.
Auf der anderen Seite gibt es Tätigkeiten, welche gemacht werden müssen (Wohnung putzen, Abspülen, Wäsche waschen, Mails beantworten, der regelmäßige Besuch beim Arzt, etc.). Auch dies lässt sich verschieben. Doch ist das Verschieben von diesen Tätigkeiten vielleicht nicht das Beste.
Der Zeigarnik Effekt
In der Psychologie gibt es dazu einen Namen, den Zeigarnik Effekt, benannt nach der russischen Psychologin Bljuma Wulfowna Seigarnik (Heckhausen & Heckhausen, 2010). Sie ging der Frage nach, ob unser Erinnerungsvermögen Unterschiede zwischen fertigen und unfertigen Aufgaben macht? Unfertige Aufgaben erscheinen somit immer wieder in unserem Gedächtnis bis sie fertig sind. Nicht wie früher gedacht, nervt das Unbewusste das Bewusste um die Aufgabe zu lösen, sondern verlangt lediglich einen Plan dafür, um es vom Tisch zu bekommen. Mache ich mir nun einen Plan das ich bis zum so-und-so-vielten meine Steuererklärung abgeben muss und setze mir gleichzeitig einen Termin, um dies auch zu tun, so verschwindet dieser nervende Gedanke. Ich bekomme somit wieder mehr Freiraum im Kopf.
Fazit
Wenn ich nun meine Gedanken, Emotionen, Impulse und Handlungen kontrolliere, brauche ich dafür auch einen Grund, oder in anderen Worten, ein Ziel. Wenn ich mein Tätigsein auf ein Ziel ausrichte und weiß, was notwendig ist, dieses Ziel zu erreichen, so gibt mir dieses Ziel Gründe für die Einrichtung von Kontrollstrategien. Ist ein Ziel nun auch in der Feldenkrais Arbeit hilfreich? Es kommt ganz darauf an. Das Ziel könnte sein, keine Schmerzen mehr haben zu wollen. Dieses Ziel wäre lobenswert. Der Weg dorthin bleibt jedoch immer noch der Weg der Exploration. Sobald sich Müdigkeit einstellt und du bei einer Lektion einschlafen solltest, weißt du, dass du auf einem guten Weg bist in Richtung deines Ziels.
Ist Willenskraft nun etwas gutes oder hat diese eventuell auch Nachteile?
Willenskraft ist nichts schlechtes. Genug Zucker im Hirn ist auch von Vorteil und übernächtigt lässt es sich nicht gut Entscheidungen zu treffen. Somit arbeite ich erst an den “Basics” und entwickle mich dann von dort aus weiter. Die Aussage von Feldenkrais hat ihre Berechtigung.
Literatur:
- Baumeister, Roy & Tierney, John (2012). Willpower: Why Self-Control is the Secret to Success. London: Penguin Books
- Brandstätter, Schüler, Puca & Lozo (2013). Motivation und Emotion. Heidelberg: Springer
- Feldenkrais, Moshé (2013). Thinking and Doing. Longmont: Genesis II Publishing, Inc.
- Heckhausen, Heinz & Heckhausen Jutta (2010). Motivation und Handeln. Berlin: Springer Verlag
- Laotse (1978). Tao te King. Düsseldorf: Eugen Diederichs Verlag
Bilder:
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