Kennst du die Aussage: “Was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmermehr”. Stimmt diese Aussage wirklich? Auf jeden Fall lässt sich eines sagen, nämlich, das sich diese Aussage sehr hartnäckig in vielen Köpfen eingenistet hat (Beck, 2014). Wenn Leben aber ein Prozess ist, und davon gehe ich mal aus, dann würde dies bedeuten, dass Lernen immer möglich ist.

Das dreiteilige Selbstbild

“Wir handeln dem Bild nach, das wir uns von uns machen. Ich esse, gehe, spreche, denke, beobachte, liebe nach der Art, wie ich mich empfinde. Dieses Ich-Bild, das einer sich von sich macht, ist teils ererbt, teils anerzogen; zu einem dritten Teil kommt es durch Selbsterziehung zustande.” (Feldenkrais, 1978)

Was können wir also in unserem Verhalten beeinflussen und was obliegt nicht unserer Kontrolle? Nach Feldenkrais unterscheiden wir nach Reflexen, welche jedem Menschen durch die Genetik weitergereicht werden, und alle anderen Bewegungen, welche nach der Geburt in Wechselbeziehung mit der Umwelt zustande kamen. Alle diese anderen Bewegungen machen die Persönlichkeit aus. Da die Persönlichkeit durch die Wechselbeziehung mit der Umwelt geformt wird, obliegt diese auch der Änderung, da sie nicht vererbt worden ist wie ein Reflex. Demnach finden wir die erste und letzte Antwort bezüglich der Verhaltensmuster eines Menschen im sozialen Umfeld. Zurück zu Hänschen und Hans und dem Lernen.

2009 erschien ein interessantes Buch “The Talent Code” von Daniel Coyle. In diesem Buch beschreibt er drei Dinge, die jemand benötigt, um in einer Sache herauszustechen. Das erste ist ein aktives Praktizieren der Tätigkeit, eine Initialzündung muss als zweites vorhanden sein und als letztes braucht jemand einen guten Lehrer. Schauen wir uns diese Dinge mal genauer an.

Erstens: Aktives Praktizieren einer Tätigkeit

Hier finden wir interessante Parallelen zur Feldenkrais Arbeit. Zum einen brechen wir eine Bewegung in ihre Einzelteile auf und untersuchen diese genauer. Jede Bewegung wird von der Atmung begleitet. Wie wir atmen, ist uns manchmal gar nicht bewusst. Daniel Coyle schreibt auch davon, Bewegungen sehr langsam zu machen. Wir machen kleine und langsame Bewegungen. Dies gibt uns die Chance Unterschiede wahrzunehmen. Wir lernen zu differenzieren. Einen Unterschied wahrzunehmen ist der erste Schritt zur Verbesserung einer Bewegung. Wir brechen komplexe Bewegungsmuster in ihre Einzelbewegungen auf und setzen sie danach wieder zusammen. Wir sehen dann das komplette Bewegungsbild. Bewegungen können auch zuerst visualisiert werden, um eine ungefähre Vorstellung zu bekommen. Zum anderen ist die Wiederholung sehr wichtig. In der Feldenkrais Sprache sprechen wir nicht so gerne von Wiederholungen, denn dies würde implizieren, das wir stupide immer wieder das gleiche tun, mag es auch falsch sein. Statt dem Wort “wiederholen” benutzen wir das Wort “erforschen”. D.h. jede Wiederholung ist wie eine neue Forschungsreise und dennoch hat sie eine gewisse Ähnlichkeit zu der vorangegangen Wiederholung.

Je öfter wir etwas wiederholen desto besser prägt sich diese Bewegung in unserem Nervensystem ein. Je besser wir damit werden, desto besser werden unsere Bewegungsfähigkeiten. Zu guter letzt fühlen wir uns in diese Wiederholung hinein. Dies ist sehr wichtig, denn wir versuchen hier herauszufinden, ob sich diese Wiederholung wirklich optimal anfühlt. “Optimal” ist für jeden Menschen anders! Durch das Hineinspüren merken wir, das wir eventuell nicht den Bewegungspfad des geringsten Widerstands gewählt haben, wir uns somit unnötig das Leben schwer machen. Wir machen Fehler und das ist auch in Ordnung, denn nur wenn wir Fehler machen, wissen wir auch, wie es besser funktioniert. Wir könnten diese Fehler als Lücken verstehen. Es geht nun darum diese Lücken durch ein aktives Praktizieren und ein Hineinspüren zu schließen.

Zweitens: Initialzündung oder Motivation

Man kann niemanden zu etwas zwingen. Die Motivation bzw. der Wille etwas zu tun muss immer aus einem selbst heraus kommen. Dies ist mit einer Entscheidung verknüpft. Daniel Coyle schreibt auch, das Menschen sich dazu entscheiden müssen, erfolgreich zu sein. Es könnte jetzt natürlich auch sein, das sich Widerstände bzw. Abwehrmechanismen der Psyche in den Weg stellen. Dies würde aber ein ganz neues Fass aufmachen und darauf  werde ich in diesen Artikel nicht eingehen. Erst diese Entscheidung löst eine ganze Kaskade von zukünftigen Handlungen aus, die dann, je nachdem wie sie geplant sind, ans Ziel führen. So auch Moshé Feldenkrais im Interview zu Joanna Rotté (Behringer, 2010). Es braucht also eine anfängliche Neigung, ein Interesse, ein Gefühl, etwas tun zu wollen.

Drittens: Ein guter Lehrer

Ohne die Entscheidung etwas meistern zu wollen, hilft der beste Lehrer nichts. Der Lehrer in Verbindung mit einem aktiven regelmäßigen Praktizieren der Tätigkeit führt, bzw. kann zu Talent führen. Dieser Lehrer ist durch vier Tugenden gekennzeichnet. Zu allererst hat er Erfahrung, nicht nur aus Büchern, sondern dadurch, dass er das was er lehrt, selbst aktiv praktiziert hat und immer noch praktiziert. Als zweites besitzt er die Fähigkeit sich in seinen Schüler hineinzuversetzen und die Bedürfnisse zu sehen und zu verstehen. Überdies hat er mehrere Strategien, Methoden, Modelle parat, die auf die jeweilige Situation und den jeweiligen Schüler passen. Als letztes hat dieser Lehrer eine innewohnende Motivation für Erfolg, die er auch in seinen Schülern erwecken kann. 

Das waren nun die drei Dinge, nach Daniel Coyle, welche es braucht, um in einer Sache erfolgreich zu sein. Im Folgenden wird es ein wenig synaptisch und myelinisiert.

Ein kurzes Wort zu Myelin

Synapsen bilden ist das A und O für ausgezeichnete Fähigkeiten. Das ist teilweise richtig. Synapsen zu bilden ist sehr wichtig. Je mehr Synapsen wir für etwas bilden, desto vielfältiger sind unsere Fähigkeiten. Vielfältiger ist aber nicht unbedingt schneller. Für die Schnelligkeit ist Myelin zuständig. Myelin ist die Schicht, die einen Nerv umgibt, vergleichbar mit einer Hand und einen Handschuh. Der Arm wäre der Nerv, die Hand die Synapse und der Handschuhe zusammen mit dem Pullover am Arm wäre das Myelin. Je mehr Myelin einen Nerv umgibt, desto schneller feuert dieser. Je schneller der Nerv eines Menschen feuert, umso mehr kommt es uns vor, als wenn dies angeborenes Talent ist, jedoch handelt es sich hier um jahrelanges hartes Üben.

Daniel Coyle schreibt, das Weisheit vor allen in älteren Menschen zu finden ist, das deren Nervenbahnen von mehr Myelin umgeben sind, sie sozusagen schneller entscheiden können etwas zu tun oder nicht zu tun. Auch Myelin unterliegt gewissen Prinzipien. Myelin ist aktionsabhängig, d.h. je öfter wir etwas praktizieren, desto besser werden wir. Dem Myelin ist es egal wer wir sind, Myelin interessiert sich dafür was wir tun. Wenn Myelin einmal den Nerv umgeben hat, ist es sehr schwer dies rückgängig zu machen. Deswegen ist es auch so schwer Gewohnheiten zu ändern. Das was wir immer wieder tun, wird zu einer Gewohnheit. Wollen wir diese ändern, müssen wir immer wieder und bewusst etwas anderes tun. Tun wir etwas bestimmtes immer wieder, formen sich neue Gewohnheiten und überschreiben die Älteren. Das Alter spielt dabei eine Rolle. Mit 30 soll es bergab gehen, doch die Hoffnung ist nicht verloren. Auch in hohen Alter sind wir fähig etwas neues zu lernen. Es bedarf der richtigen Herangehensweise. Ältere Menschen mögen zwar an Informationsgeschwindigkeit einbüßen, doch dies gleichen sie über eine verbesserte Vernetzung wiederum aus (Beck, 2014).

Der Blick zu den Anfängen 

Ein Kindergehirn nimmt nahezu alles auf, wie ein Schwamm. Zu Beginn des Lebens ist das Gehirn besonders aufnahmefähig, da es noch nicht vorbelastet ist. Es findet eine schnelle Anpassung an die eintreffenden Reize statt. Das Nervensystem arbeitet dabei auch mit der “use it or loose it-Strategie”, d.h. dass nichtbenutzte Nervenverbindungen gekappt werden. Die erste Sprache lernt ein Neugeborenes in rasanter Geschwindigkeit. Das liegt uns im Blut. Jede weitere Sprache erfordert da schon ein wenig mehr Aufwand, und ob die zweite Sprache jemals an die Muttersprache hinreicht, ist fraglich (Perani & Abutalebi, 2005). Alle Säugetiere produzieren ja Geräusche. Diese Geräusche unterscheiden sich nicht zwischen einem Vogel in Japan und demselben Vogel in Europa. Im Menschen sind die Stimmbänder und die Nervenverbindungen noch nicht bei Geburt gegeben, sondern entwickeln sich mit der Zeit mit Hilfe des kulturellen Umfelds. Das menschliche Gehirn wiegt bei der Geburt ca. 300 Gramm. Wenn wir erwachsen sind wiegt es ca. 1350 Gramm. Die Zunahme an Gewicht liegt nicht an der Vermehrung von Neuronen, sondern an der Zunahme der Verbindungen von Neuronen zu Neuronen (Synapsen) und deren Isolierschicht (Myelin). Es lässt sich somit schlussfolgern, dass je näher das Gewicht eines erwachsenen Gehirns dem Gewicht eines Gehirns von einem Neugeborenen entspricht, desto schneller ist die funktionelle Entwicklung abgeschlossen. Je reifer ein Gehirn nach der Geburt ist, desto reflexartiger ist das Verhalten. Und jetzt kommen wir wieder zurück zu Feldenkrais.

Organisches Lernen von Anfang an

Bei der Entwicklung des Gehirns sind individuelle Erfahrungen im Menschen wichtiger als in allen anderen Tieren. Da liegt klar auf der Hand, dass die Fehlerquote beim Erlernen von neuen Verhaltensweisen, um einiges höher ist. Nach einiger Zeit mag es so aussehen, als ob ein gelerntes Verhalten ein genetisch veranlagtes Verhalten sei, mag es zuträglich oder abträglich sein. Das Nervensystem eines Menschen ist anders als das aller anderen Säugetiere. Ein Punkt, welcher dies wiedergibt, ist die aufrechte Haltung – ein Zeichen für die Evolution des Homo Sapiens. Ein Mensch lernt ja, wie bekannt, sehr langsam. Die funktionelle Entwicklung eines Rehs oder eines Schafs dagegen, vollzieht sich sehr schnell. Dieses langsame Lernen hat kein Ziel. Der Weg ist das Ziel. Die Befriedigung, welche durch das Erreichen einer neuen Bewegungsqualität entsteht, ist Motivation genug, sich mit sich selbst zu befassen. Es findet oft statt und ist mit Pausen der Erholung durchsetzt. Das ist der Grund, warum wir bei Feldenkrais Kursen so viele Pausen machen.

Diese Erholung ist extrem wichtig. Erholung verfestigt das Gelernte. Dies kann umso besser beim Schlaf funktionieren. Johannes Holz und Kollegen (2012) fanden heraus, das es vorteilhaft ist Fertigkeiten, d.h. Bewegungsmuster, im Gegensatz zu Deklarativen, d.h. Vokabeln, am späten Abend zu lernen. Die darauffolgende Nacht hilft somit bei der Einspeicherung.

Fazit

Noch mal zu Hans und Hänschen. Hans lernt anders als Hänschen. Hans lernt durch Verknüpfungen, Hänschen durch Anhäufung. Lernen ist das Erwerben von neuen Verhaltensweisen auf eintreffende Reize. Es gibt organisches Lernen, welches im Mutterschoss beginnt, und all die anderen Lernformen, wie wir sie z.B. an der Universität finden. Organisches Lernen ist eine physiologische Notwendigkeit, um ganz der Mensch zu werden, der wir sein können.

“Lernen ist gesünder, als Patient zu sein oder sogar als geheilt zu werden. Leben ist kein Ding, sondern ein Prozess. Prozesse aber gehen gut, wenn es viele Wege gibt, sie zu beeinflussen.” (Feldenkrais, 1987)

Literatur:

  • Beck, Henning (2014). Hirn-Rissig. München: Wilhelm Goldmann Verlag
  • Behringer, Elizabeth (2010). Embodied Wisdom. The collected papers of Moshé Feldenkrais. Berkeley: North Atlantic Books
  • Coyle, Daniel (2009). The Talent Code. London: Random House
  • Feldenkrais, Moshé (1978). Bewusstheit durch Bewegung. Der aufrechte Gang. Frankfurt am Main: Suhrkamp
  • Feldenkrais, Moshé (1987). Die Entdeckung des Selbstverständlichen. Frankfurt am Main: Suhrkamp
  • Holz, J.; Piosczyk, H.; Landmann, N.; Feige, B.; Spiegelhalder, K.; Riemann, D.; Nissen, C. & Voderholzer, U. (2012). The Timing of Learning before Night-Time Sleep Differentially Affects Declarative and Procedural Long-Term Memory Consolidation in Adolescents. PloS one. 7. e40963. 10.1371/journal.pone.0040963. 
  • Perani, D., & Abutalebi, J. (2005). The Neural Basis of First and Second Language Processing. Current Opinion in Neurobiology, 15, 202-206. https://doi.org/10.1016/j.conb.2005.03.007

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  • Mit freundlicher Genehmigung KipfmuellerRia®, Nürnberg