In diesem Artikel möchte ich gewisse Gedankengänge von Michael Lukas Moeller mit der Polyvagal Theorie verbinden. Es dreht sich um etwas ganz großes, die Liebe. Dann fangen wir mal an. 

Distanznähe nach Michael Lukas Moeller

Michael Lukas Moeller schreibt in seinem Buch “Wie die Liebe anfängt” von der Kunst der Distanznähe (Moeller, 2003). Er ist der Meinung, dass es der Liebe an einer bedeutenden Voraussetzung mangelt, der Fähigkeit, sich auf sich selbst einzulassen. Dieser Mangel, bzw. dieses Desinteresse ins Innere zu blicken verstellt somit die doppelte polare Fähigkeit, die sich die Kunst zu lieben nennt. So schreibt er,

“einerseits sich wirklich auf sich und den anderen einzulassen, ja mit ihm phasenweise zu verschmelzen - wie der Künstler mit seinem Objekt, um es in der ganzen Tiefe und allen Einzelheiten zu erfassen -;

andererseits mit ebensolcher Intensität sich geradezu unendlich von dem anderen zu distanzieren, sich als sein Gegenüber und ihn als mein Gegenüber zu sehen, um die Liebe als ein Ganzes zu begreifen, sie gestalten und entwickeln zu können - wie es auch einem Künstler nur gelingt, ein Kunstwerk zu schaffen, wenn er zu einer solchen Urdistanz fähig ist” (Moeller, 2003, S. 123).

Michael Lukas Moeller ist der Begründer von Zwiegesprächen. Nach Herrn Moeller kommt es dann zu einer tiefgründigen Beziehung, wenn beide Partner sich regelmäßig bewusst Zeit nehmen, z.B. einmal die Woche, um sich offen und ehrlich auszutauschen, d.h. einer spricht nur und das Gegenüber hört nur zu, ohne Unterbrechung. Diese emotionale Nähe, welche dadurch kreiert wird, kann zu einer Stabilisierung der Beziehung führen. Zudem entsteht ein tieferes Verständnis für das Gegenüber. Ein wichtiger Punkt für Herrn Moeller ist die Reziprozität, also die konstante Wechselseitigkeit, d.h. sich ungestört zuhören und ungestört sprechen. 

Von Zwiegesprächen zur Polyvagal Theorie

Wir haben hier jetzt mehrere wichtige Punkte: Distanz, Nähe, Sprechen, Zuhören und Sehen. Auch die Polyvagal Theorie bezieht sich auf diese Aspekte, die eng mit Liebe, Bindung und sozialem Austausch verbunden sind. Die Theorie, entwickelt von Stephen Porges, beschreibt, wie das autonome Nervensystem auf Bedrohung und Sicherheit reagiert und wie dies unser Verhalten und unsere Fähigkeit Beziehungen zu leben, beeinflusst. Besonders das sogenannte soziale Bindungssystem, das über den ventralen Vagus Nerv gesteuert wird, ist für die Fähigkeit zur Nähe und zur Liebe von zentraler Bedeutung. Greifen wir die vorher genannten Punkte mal einzeln auf.

Nähe schafft Sicherheit und auch Liebe

Sicherheit hat viel mit dem ventralen Vagus Nerv zu tun. Dieser ermöglicht es uns, in einem Zustand der Sicherheit und Verbundenheit zu sein. In diesem ventral-vagalen Zustand können wir uns öffnen, sind sozial engagiert und fühlen uns sicher in Beziehungen. Diese Nähe ist grundlegend für Vertrauen und somit auch Liebe.

Menschen müssen sich quasi sicher fühlen, um Nähe zuzulassen und Liebe zu ermöglichen. Es geht nicht ohne das Gefühl von Sicherheit. Der Vagus Nerv reguliert dabei die Reaktion auf Bedrohungen und Sicherheit. Wenn du dich sicher fühlst, kannst du dich dann besser entspannen? Höchstwahrscheinlich schon, oder? Dann bist du wahrscheinlich auch emotional zugänglicher. Und dann kann es zu einem Austausch kommen. Nicht nur das. Dann kann es auch zur Distanz kommen, von welcher Herr Moeller sprach. Jetzt sprechen wir denn anderen Punkt dieser Polarität an.

Sichere Nähe ermöglicht auch Distanz

John Bowlby und Mary Ainsworth, zwei Bindungsforscher, beschreiben, wie eine sichere Bindung zwischen Kind und Bezugsperson aussieht. Diese sichere Bindung gilt als das Fundament für die Fähigkeit zur Exploration. Ein Kind, das sich sicher an seine Bezugsperson gebunden fühlt, entwickelt Vertrauen, das es ihm erlaubt, sich von der Bezugsperson zu entfernen und die Welt zu erforschen, in dem Wissen, dass es bei Bedarf zurückkehren kann.

Betrachten wir das mal aus der polyvagalen Perspektive des Nervensystems. Wenn ein Mensch sich durch das soziale Bindungssystem sicher und verbunden fühlt, ermöglicht das die Exploration. Die Neugierde wird wieder aktiviert, ein Mensch erkundet sich, die Welt, das Leben, denn dieser Mensch weiß, da ist etwas, eine Beziehung, in der ich mich sicher und aufgehoben fühle. Diese Distanz ermöglicht es auch, von einer anderen Perspektive auf die Beziehung zu blicken, daher spricht Herr Moeller auch von Distanznähe. Nach meiner Meinung, ein tolles Wort.

Jetzt betont die Polyvagal Theorie, dass unser Nervensystem sehr sensibel auf soziale Signale reagiert. Diese Signale haben sehr viel mit dem Gefühl von Sicherheit, von Willkommen-Sein und Liebe zu tun. Fangen wir mit dem Hören an.

Hören und Zuhören

Schallwellen werden vom Trommelfell zum Innenohr übertragen. Dabei sind die Gehörknöchel im Mittelohr sehr wichtig. Muskeln regeln die Flexibilität dieser Gehörknöchel. Wenn diese Muskeln steif sind, wird die Weiterleitung von niederfrequenten Geräuschen zum Innenohr gedämpft. Höherfrequente Töne können somit leichter und besser wahrgenommen werden, in anderen Worten, die menschliche Stimme. Der Vagus Nerv arbeitet hier mit dem Trigeminus Nerv zusammen. Hier wird entschieden, ob der menschlichen Stimme, oder anderen Geräuschen der Vorzug gegeben wird.

Wenn wir z.B. streiten, hören wir nicht mehr so gut zu. Warum? Weil Gefahr droht und dann schaltet sich der Sympathikus ein. Jetzt sind wir in Kampflaune oder wir flüchten. Im sympathikotonen Zustand können wir nicht sehr gut kommunizieren, da wir auch nicht gut zuhören können. Daher spielt die Stimme so eine große Rolle.

Zuhören hat sehr viel mit der Stimme zu tun

Nicht was gesagt wird, ist primär wichtig, sondern wie es gesagt wird. Der Ton macht die Musik heißt es umgangssprachlich. Der Ton ist die Melodik der Sprache. Darüber wird der emotionale Gehalt vermittelt. Nach Porges (2011) haben die Muskeln des Gesichts eine Filterfunktion. Sie können soziale Reize einschränken oder zulassen. Die Kontrolle dieser Muskeln wird neuronal bestimmt. Das nennt sich Neurozeption, also die unterbewusste Wahrnehmung von Gefahr oder Sicherheit. Dies hat mit der Mimik und mit der Stimme zu tun.

Die Stimme kann über das Zwerchfell reguliert werden, und zwar über die Atmung. Atme ich ruhig und entspannt ohne Druck, hat dies Auswirkung auf meine Stimme und somit auch meine emotionale Aussenwirkung. So beeinflusst die Atemfrequenz die Vokalisationen. Der Inhalt ist, wie bereits erwähnt, eher zweitrangig. Schnelles Sprechen ohne Pausen kann Druck erzeugen, wohingegen langsameres Sprechen mit Atempausen Wohlwollen ausdrücken kann. Stimme und Atmen alleine reicht noch nicht. Da wäre ja noch die Mimik, bzw. das Sehen.

Die Augen, Tor zur Seele

Augenbewegungen werden über Gehirnnerven III, IV und VI unter Einfluss des Vagus  Nervs reguliert. Mit den Augen sehen wir uns an. Manchmal sehen wir uns auch nicht an und das hat Gründe. Augen sind ultimative Instrumente der sozialen Interaktion. Kennst du den Spruch, “Blicke können töten”? Der ist gar nicht so weit hergeholt. Der Blick, das Anschauen und Angeschautwerden sind zentral. Ist der Blick wohlwollend, unterstützt er den Verbindungsaufbau zu meinem Gegenüber und schafft Vertrauen.

Augen helfen uns ja Gefahren sehr schnell wahrzunehmen. Das hat einen eindeutigen evolutionären Vorteil, doch wir sind nicht mehr im Dschungel. In der Großstadt gibt es gefährliche Straßen und in Beziehungen unliebsame Kontakte. Wenn etwas unliebsam ist, dann hat das natürlich auch Auswirkungen auf die Augen. Die Pupillen erweitern sich, peripheres Sehen wird eingeschränkt, der Blick ist teilweise verschwommen, es wird weniger geblinzelt, Augenbewegungen verlaufen eher hektisch und erratisch. 

Eine Verlangsamung der Augenbewegungen kann helfen, gegenzuregulieren. Dadurch wird die vagale Bremse aktiviert, der Vagus Nerv sozusagen aktiviert und dies hat beruhigende Wirkungen auf das autonome Nervensystem. Menschen könnten sich in die Augen sehen, nichts reden, die Atmung entschleunigen und beobachten. Dies führt gleich zu einer doppelten Entspannung, sowie einer geteilten Entspannung. Doppelt aufgrund von Zwerchfellatmung und Augenkontakt. Geteilt aufgrund von zwei Menschen regulieren sich gegenseitig. Und dies schließlich verstärkt das Vertrauen und vertieft die Liebe.

Liebe als Zustand der Regulation

Liebe kann in der Polyvagal Theorie als ein Zustand betrachtet werden, der unser Nervensystem reguliert. Durch die Bindung an einen anderen Menschen erfahren wir Beruhigung und Stabilität, was unser System aus Kampf- oder Fluchtreaktionen in den Zustand von Sicherheit und Verbundenheit bringt. So stärkt Liebe auch unsere Fähigkeit zur Stressbewältigung. Liebe ist dabei nicht nur ein emotionaler Zustand und eine kognitive Haltung, sondern auch biologisch im Körper verankert.

Und, meinst du, es lohnt sich, sich ein wenig mit der Polyvagal Theorie, den Zwiegesprächen nach Moeller oder der Liebe zu befassen? Ich finde ja, aber entscheide du selbst.

Literatur:

  • Moeller, Michael Lukas (2003). Wie die Liebe anfängt. Die ersten drei Minuten. Hamburg: Rowohlt Verlag
  • Porges, Stephen W. (2011). The Polyvagal Theory: Neurophysiological foundations of emotions, attachment, communication, and self-regulation. New York: W. W. Norton.

Bilder: