Stell Dir vor, Du trägst ein gefülltes Glas Wasser in jeder Hand. Plötzlich merkst Du, wie unsicher Du Dich fühlst, ohne Deine Hände für Orientierung nutzen zu können. Diese Erfahrung, die John M. Hull in seinem Buch “Im Dunkeln sehen” (1992) beschreibt, veranschaulicht eindrucksvoll die Bedeutung des Tastsinns für unsere Orientierung und Bewegung. Hull, der durch eine Erblindung eine neue Perspektive auf die Welt gewann, führt uns vor Augen, wie zentral der Körper und insbesondere die Haptik als Sinnesorgan für blinde Menschen ist. Aber diese Einsicht betrifft nicht nur Menschen mit Sehbeeinträchtigungen. Sie hat universelle Relevanz.

Die Haptik als Schlüssel zur Welt

Martin Grünwald, ein renommierter Forscher im Bereich der Haptik, hebt hervor, wie wichtig Berührung und Körperwahrnehmung für unser Leben sind (Grünwald, 2017). Unsere Haut, die über Millionen von Rezeptoren verfügt, dient als primärer Kanal, um Informationen über die Welt um uns herum zu sammeln. Diese Daten fließen in Echtzeit in unser Nervensystem und beeinflussen, wie wir uns bewegen, reagieren und interagieren. Grünwalds Forschung zeigt, dass haptische Wahrnehmung nicht isoliert funktioniert; sie ist eng mit anderen Sinnen, insbesondere mit der Propriozeption, verknüpft.

Die Propriozeption, die Fähigkeit, die Position und Bewegung des eigenen Körpers im Raum zu spüren, bildet eine Grundlage für jede Bewegung. Ob Du eine Treppe hinabsteigst oder über einen unebenen Weg gehst – Dein Körper passt sich ständig an die Umwelt an. Hull beschreibt, wie ein Blinder “mit den Fingern sieht", um sich in einer Welt ohne visuelle Referenzen zu orientieren. Doch was passiert, wenn auch die Hände nicht frei sind? Diese Frage verdeutlicht die Abhängigkeit von haptischen und propriozeptiven Informationen.

Wie die Feldenkrais-Methode helfen kann

Hier kommt die Feldenkrais-Methode ins Spiel. Entwickelt von Moshe Feldenkrais, zielt sie darauf ab, die Wahrnehmung und Nutzung des eigenen Körpers zu verbessern. Sie bietet Werkzeuge, um das Zusammenspiel von Haptik und Propriozeption bewusster zu erfahren und effizienter zu nutzen.

In einer typischen Feldenkrais-Stunde wirst Du eingeladen, langsame und bewusste Bewegungen auszuführen. Dabei geht es nicht darum, bestimmte Bewegungsmuster zu erzwingen, sondern darum, Deinen Körper und seine Reaktionen zu erkunden. Indem Du lernst, subtilere Unterschiede in der Bewegung wahrzunehmen, schärfst Du Dein Gespür für die eigene Körperwahrnehmung und erhöhst Deine Bewegungsvielfalt.

Haptik und Bewegung im Alltag

Die Verbindung von Hulls Gedanken mit Grünwalds Forschung und der Feldenkrais-Methode zeigt, wie wir im Alltag von einem besseren Verständnis für die Haptik profitieren können. Ein Beispiel: Du gehst durch eine verschneite Straße. Der Boden ist glatt und unsicher. Ohne zu schauen, spürst Du durch Deine Füße, wie der Boden unter Dir nachgibt. Diese taktile Information kombiniert mit Deiner Propriozeption erlaubt es Dir, Dein Gleichgewicht anzupassen und einen stabilen Schritt zu setzen.

Aber was passiert, wenn diese Informationen fehlen oder verfälscht sind? Hull beschreibt, wie der Schnee für ihn "der Nebel eines Blinden” ist. Ohne die bekannten Texturen des Bodens und die visuelle Bestätigung fühlt er sich orientierungslos. Hier können Feldenkrais-Übungen helfen, die Sensibilität für feine Körpersignale zu verbessern und das Vertrauen in die eigenen Bewegungsfähigkeiten zu stärken.

Die Wissenschaft der Berührung

Grünwald weist darauf hin, dass Berührung nicht nur für die physische, sondern auch für die emotionale Gesundheit essenziell ist (Grünwald, 2017). Berührung reguliert unser Nervensystem, beeinflusst unsere Stimmung und kann sogar schmerzlindernd wirken. In der Feldenkrais-Methode wird diese Erkenntnis genutzt, um über sanfte Bewegungen und Berührungen Spannungen zu lösen und ein Gefühl von Sicherheit und Wohlbefinden zu schaffen.

Was Du für Dich mitnehmen kannst

Wie kannst Du diese Erkenntnisse in Deinen Alltag integrieren? Die Feldenkrais-Methode bietet eine Vielzahl von Übungen, die Du einfach zu Hause ausprobieren kannst. Eine davon ist die Erforschung von Balance und Gewichtsverlagerung:

  1. Stelle Dich barfuß auf einen weichen Untergrund, zum Beispiel einen Teppich.
  2. Verlagere langsam Dein Gewicht von einem Fuß auf den anderen.
  3. Achte darauf, wie sich der Druck unter Deinen Füßen verändert.
  4. Schließe die Augen und konzentriere Dich auf die taktilen Informationen.

Diese einfache Übung kann Dir helfen, Deine haptische Wahrnehmung zu schärfen und Deine Balance zu verbessern.

Fazit: Mit Fingern sehen, mit Körpern fühlen

John M. Hulls Gedanken über die Haptik laden uns ein, unseren eigenen Tastsinn und die Rolle des Körpers in der Welt neu zu entdecken. Martin Grünwalds Forschung zeigt uns die wissenschaftliche Grundlage für die immense Bedeutung der Berührung. Die Feldenkrais-Methode bietet eine praktische Möglichkeit, diese Erkenntnisse in die Praxis umzusetzen und die Verbindung zwischen Haptik, Propriozeption und Bewegung zu stärken.

Egal, ob Du auf glattem Schnee sicherer gehen oder einfach bewusster mit Deinem Körper sein möchtest: Durch die Feldenkrais-Methode kannst Du lernen, Dich selbst als feinsinniges Wahrnehmungsorgan zu erleben und die Welt durch Berührung und Bewegung neu zu erkunden.

Literatur:

  • Hull, John M. (1992). Im Dunkeln sehen: Erfahrungen eines Blinden. München: C.H. Beck Verlag
  • Grünwald, M. (2017). Homo Hapticus: Warum wir ohne Tastsinn nicht leben können. München: Droemer.

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