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Generalisierte Angst und die Rolle des Nervensystems

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Unser Nervensystem ist darauf ausgelegt, Angst wahrzunehmen und darauf zu reagieren – ein Mechanismus, der für unser Überleben entscheidend ist. Während Angst uns hilft, Gefahren zu erkennen und zu vermeiden, kann sie in Abwesenheit realer Bedrohungen schädlich sein. Dieses Phänomen, bekannt als Generalisierung von Angst, tritt häufig bei Menschen auf, die unter starkem Stress oder Traumata gelitten haben. In solchen Fällen glaubt der Geist, sich in einem ständigen Zustand der Angst zu befinden, auch wenn keine akute Bedrohung vorliegt.

Forscher der University of California, San Diego (Li et al., 2024), haben untersucht, welche neuronalen Mechanismen für die Generalisierung von Angst verantwortlich sind. In Experimenten mit Mäusen entdeckten sie, dass akuter Stress eine Neurotransmitterschaltung im Hirnstamm (dorsaler Raphe-Kern) auslöst. Dabei wechseln bestimmte Neuronen von der Freisetzung des erregenden Neurotransmitters Glutamat zu dem hemmenden GABA. Diese Schaltung trägt wesentlich zur Generalisierung von Angst bei. Wird die Produktion von GABA blockiert, treten keine generalisierten Angstreaktionen auf.

Die Ergebnisse wurden auch bei postmortalen Gehirnproben von PTSD-Betroffenen bestätigt, was auf die Relevanz für den Menschen hinweist. Mögliche Interventionen umfassen genetische Modulation (z. B. Blockade der GABA-Produktion) oder die Gabe von Antidepressiva unmittelbar nach einem stressauslösenden Ereignis.

Verbindung zur Polyvagal-Theorie

Die Polyvagal-Theorie von Stephen Porges bietet ein hilfreiches Modell, um solche Mechanismen zu verstehen. Sie beschreibt, wie das autonome Nervensystem (ANS) auf Stress reagiert und in verschiedene Zustände – wie Sicherheit, Kampf/Flucht oder Erstarrung – übergeht. Der Zustand, in dem "der Geist glaubt, sich in ständiger Angst zu befinden", entspricht einer dysregulierten Aktivierung des sympathischen Nervensystems oder der dorsalen Vagus-Schaltung. Wie könnte nun eine Intervention aussehen, um da wieder herauszukommen?

Interventionen aus der Polyvagal-Theorie:

  • Wir könnten den ventralen Vagus-Zweig stärken: Dieser fördert soziale Verbundenheit und Sicherheit. Techniken wie kontrollierte Atmung, achtsame Berührung (z. B. Massagen) und soziale Interaktionen können helfen, das Nervensystem zu regulieren.
  • Des Weiteren besteht die Möglichkeit der Traumaintegration: Therapieansätze wie Somatic Experiencing, EMDR oder PEP können dazu beitragen, stressbedingte Reaktionen zu verarbeiten und die Überaktivierung des Angstsystems zu verringern.
  • Aber auch Neurofeedback und vagale Stimulation kann helfen: Direkte Stimulation des Vagusnervs (z. B. durch transkutane elektrische Stimulation) kann das Gleichgewicht im ANS wiederherstellen und Angstreaktionen lindern.

Fazit

Die Erkenntnisse zur Generalisierung von Angst und die Polyvagal-Theorie ergänzen sich gut. Während die Forschung auf neuronale und molekulare Mechanismen abzielt, bieten die Polyvagal-basierten Interventionen einen praktischen Ansatz, um das Nervensystem zu beruhigen und die Resilienz gegenüber stressbedingten Zuständen zu stärken.

Literatur:

  • Li, H. Q., Jiang, W., Ling, L., Pratelli, M., Chen, C., Gupta, V., Godavarthi, S. K., & Spitzer, N. C. (2024). Generalized fear after acute stress is caused by change in neuronal cotransmitter identity. Science (New York, N.Y.), 383(6688), 1252–1259. https://doi.org/10.1126/science.adj5996

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