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Die Illusion der Schuld – Warum soziale Gerechtigkeit unser Wohlbefinden bestimmt

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Warum schreibe ich das hier? Ich schreibe ja von Atmung, Bewegung und Glaubenssätzen. Ich liebe Feldenkrais, aber auch andere Methoden, welche ich gelernt habe und in meiner Arbeit anwende. Doch manchmal stoßen diese Methoden an ihre Grenzen. Gerade jetzt, wo mal wieder gewählt wurde, hier in Deutschland, aber auch anderswo, möchte ich hiermit auf einen Punkt aufmerksam machen. Ganz gewiss kein kleiner Punkt, für mich ein bedeutsam großer Punkt. Ich mache nun einen Punkt und fange mal an.

Die alte Schuldfrage

In einer Welt, die von Selbstoptimierung, Leistungsdruck und Individualismus geprägt ist, wird uns immer wieder suggeriert, dass wir für unser Schicksal allein verantwortlich sind.  Ich persönlich stimme dem natürlich nicht zu, auch wenn ich des Öfteren sage, kümmere dich um dein Wohlbefinden. Aber auch dies hat seine Grenzen. ”Du bist schuld, wenn du krank bist. Du bist schuld, wenn du nicht erfolgreich bist. Du bist schuld, wenn du unglücklich bist." Diese Sichtweise ist nicht nur vereinfachend, sondern auch hochproblematisch. Sie verkennt die tieferen sozialen, ökonomischen und politischen Ursachen von Krankheit, Armut und sozialer Ausgrenzung.

Dennis Raphael (2002), ein kanadischer Wissenschaftler, zeigt in seinem Werk "Social Justice is Good for Our Hearts", dass die Hauptursachen für Herzkrankheiten nicht im individuellen Verhalten, sondern in gesellschaftlichen Strukturen zu finden sind. Er argumentiert, dass Faktoren wie Einkommensungleichheit, soziale Ausgrenzung und mangelnde politische Maßnahmen weitaus größeren Einfluss auf unsere Gesundheit haben als Lebensstilentscheidungen wie Ernährung oder Bewegung. Ernährung, Bewegung, ausreichend Schlaf und eine gutes Stressmanagement sind wirklich sehr wertvoll, doch sie sind nicht alles.

Der Mythos der individuellen Verantwortung

Die Vorstellung, dass Gesundheit vor allem eine Frage des persönlichen Verhaltens sei, ist tief in unserer Gesellschaft verankert. Menschen werden ermahnt, sich gesünder zu ernähren, mehr Sport zu treiben und schlechte Angewohnheiten wie Rauchen oder übermäßigen Alkoholkonsum zu vermeiden. Doch während diese Faktoren zweifellos eine Rolle spielen, erklären sie nur einen Bruchteil der Unterschiede in der Krankheitsanfälligkeit verschiedener Bevölkerungsgruppen.

Laut Raphael ist die Einkommensungleichheit eine der zentralen Ursachen für die Verbreitung von Herzkrankheiten. Studien zeigen, dass Menschen mit niedrigerem Einkommen nicht nur häufiger erkranken, sondern auch früher sterben. Ein geringes Einkommen bedeutet häufig schlechteren Zugang zu hochwertiger Nahrung, weniger sichere Wohnverhältnisse und erhöhten Stress aufgrund finanzieller Unsicherheit. Dieser chronische Stress wiederum hat nachweislich negative Auswirkungen auf das Herz-Kreislauf-System.

Soziale Ausgrenzung als Gesundheitsrisiko

Ein weiteres wichtiges Konzept in Raphaels Analyse ist die soziale Exklusion. Wer arm ist, hat oft nicht nur weniger Geld, sondern auch weniger soziale Teilhabemöglichkeiten. Bildung, Wohnraum, medizinische Versorgung und kulturelle Partizipation sind ungleich verteilt. Diese Form der gesellschaftlichen Marginalisierung führt nicht nur zu einem Gefühl der Isolation, sondern auch zu höheren Krankheitsraten.

Raphael argumentiert, dass die politische Entwicklung in vielen Ländern, insbesondere in Kanada, zunehmend in eine Richtung geht, die die soziale Ungleichheit verschärft. Sozialleistungen werden gekürzt, der Arbeitsmarkt wird prekärer, und die Kluft zwischen Arm und Reich wird größer. Das hat direkte gesundheitliche Folgen, die nicht mit individuellen Verhaltensweisen zu erklären sind.

Die Nebenwirkungen eines einseitigen Gesundheitsverständnisses

Das gängige Narrativ der individuellen Verantwortung für die eigene Gesundheit hat auch Nebenwirkungen. Es führt dazu, dass Menschen, die krank werden, sich selbst die Schuld geben. Dies kann zu psychischen Problemen wie Depressionen und Angststörungen führen und verhindert gleichzeitig, dass strukturelle Lösungen in Angriff genommen werden. Wenn die Politik und die Gesellschaft davon ausgehen, dass Krankheiten primär durch individuelles Fehlverhalten verursacht werden, gibt es weniger Anreize, soziale Ungleichheiten zu bekämpfen.

Ein Umdenken ist nötig

Raphael fordert ein radikales Umdenken. Anstatt weiterhin in der Schuldfrage zu verharren, sollten wir uns darauf konzentrieren, gerechtere gesellschaftliche Strukturen zu schaffen. Das bedeutet unter anderem:

  • Eine gerechtere Verteilung des Einkommens, z. B. durch höhere Mindestlöhne und progressive Besteuerung.
  • Stärkere soziale Sicherungssysteme, die Menschen vor existenzieller Unsicherheit schützen.
  • Verbesserte Bildungs- und Gesundheitschancen für alle Bevölkerungsgruppen.

Herzkrankheiten sind nicht einfach das Ergebnis von schlechter Ernährung oder mangelnder Bewegung. Sie sind das Resultat tiefer sozialer Ungleichheiten. Wer wirklich etwas gegen chronische Krankheiten tun will, muss nicht nur individuelle Verhaltensweisen ändern, sondern vor allem die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen verbessern, d.h. gesellschaftlich aktiv werden.

Fazit

Die Vorstellung, dass jeder für seine Gesundheit selbst verantwortlich ist, ist eine bequeme, aber falsche Erklärung für die Krankheitslast unserer Gesellschaft. Wie Raphael zeigt, sind es vor allem Einkommensungleichheit, soziale Ausgrenzung und politische Entscheidungen, die darüber bestimmen, wer gesund bleibt und wer nicht. Ein gerechteres Gesellschaftssystem würde nicht nur das individuelle Wohlbefinden verbessern, sondern auch die allgemeine Gesundheit der Bevölkerung nachhaltig stärken. Es ist Zeit, die Schuldfrage hinter uns zu lassen und uns auf echte Lösungen zu konzentrieren.

Literatur:

  • Raphael, Dennis (2002). Social Justice is Good for Our Hearts Why Societal Factors - Not Lifestyles - are Major Causes of Heart Disease in Canada and Elsewhere. Toronto: CSJ Foundation for Research and Education.

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