John M. Hulls Beschreibung des Regens aus "Im Dunkeln sehen" gewährt einen tiefgreifenden Einblick in die Wahrnehmungswelt eines blinden Menschen. In einer Gesellschaft, die zunehmend von visuellen Reizen dominiert wird, lenkt Hulls Text den Blick auf die Vielschichtigkeit und Schönheit anderer Sinneswahrnehmungen. Sein Erlebnis des Regens wird zu einer Metapher für das “Berühren und Berührtwerden”, wie es in einem umfassenden Sinne verstanden werden kann – als physische, emotionale und spirituelle Verbindung zur Welt. Dieser Artikel widmet sich der Bedeutung des Regens in Hulls Text und seiner Beziehung zu der Thematik von Berührung und Verbundenheit. Ich beziehe mich dabei auf meine Artikel “Berühren und berührt werden – Zwischen Alltag, Therapie und Transzendenz”. 

Regen von John M. Hull

“Heute abed zog ich mich gegen neun Uhr an, um aus dem Haus zu gehen. Ich öffnete die Vordertür, und es regnete. Ein paar Minuten stand ich da, vollkommen in diese Schönheit versunken. Regen hat die Eigenart, die Umrisse aller Dinge hervorzuheben; er wirft eine farbige Decke über Dinge, die vorher unsichtbar waren; wo vorher eine unterbrochene und damit zersplitterte Welt war, schafft der gleichmäßig fallende Regen eine Kontinuität akustischer Wahrnehmung.

Ich höre, wie der Regen auf das Dach über mir prasselt, an den Wänden links und rechts von mir hinabtröpfelt, aus der Regenrinne über dem Boden links neben mir rauscht, während es noch weiter links heller platscht, dort, wo der Regen fast unhörbar auf einen großen belaubten Strauch fällt. Rechts trommelt er mit einem tieferen, gleichmäßigeren Klang auf den Rasen. Ich kann sogar die Konturen des Rasens ausmachen, der rechts in einem kleinen Hügel ansteigt. Der Regen klingt dort anders und modelliert mir die Krümmung des Bodens. Noch weiter rechts höre ich, wie der Regen auf den Zaun klopft, der unser Grundstück von dem unserer Nachbarn trennt. Vor mir zeichnet er die Ränder des Wegs und die Treppenstufen bis hinunter zum Gartentor nach. Hier trifft der Regen auf den Stein auf, da spritzt er in die flachen Pfützen, die sich bereits gesammelt haben. Wo er von einer Stufe zur nächsten tropft, entsteht hier und da ein kleiner Wasserfall. Auf dem Weg erklingt der Regen ganz anders als rechts, wo er auf den Rasen trommelt, und noch anders wiederum erklingt er auf dem großen Busch links, der sich anhört, als wäre er mit einer Decke bedeckt, schwer und aufgequollen. Weiter entfernt sind die Klänge nicht mehr so gut unterscheidbar. Ich höre, wie der Regen auf die Straße niedergeht und das Zischen der Autos, die in beiden Richtungen vorüberfahren. Ich höre, wie das Wasser an der Straßenecke in dem überfluteten Rinnstein gurgelt. Die ganze Szenerie ist noch viel differenzierter, als ich es beschreiben kann, den überall ist die Regelmäßigkeit ein wenig gestört, gibt es Verzögerungen, Verschiebungen, wenn eine kurze Unterbrechung oder ein anderer Rhythmus oder ein anderes Echo die ganze Szene noch um eine zusätzliche Einzelheit oder eine andere Dimension ergänzen. Über das Ganze ergießt sich, wie Licht, das über eine Landschaft fällt, als sanfter Hintergrund ein Geplätscher, das sich zu einem stetig segnenden Murmeln verdichtet.

Ich glaube, daß dieses Erlebnis, bei Regen eine Tür zu einem Garten zu öffnen, mit dem vergleichbar sein muß, was ein Sehender empfindet, wenn er die Vorhänge aufzieht und die Welt draußen sieht. Wenn ich die Vordertür öffne, höre ich gewöhnlich nur über ein Nichts verteilte isolierte Geräusche. Ich weiß, daß ich mit dem nächsten Schritt auf den Weg treten werde und daß mein Schuh rechts den Rasen berühren wird. Wenn ich den Weg entlanggehe, werden Äste des links stehenden überhängenden Busches an meinem Kopf entlangstreifen, und dann werde ich zu den Stufen kommen, zum Tor, zum Fußweg, zur Abflußrinne und zur Straße. Ich weiß, daß alle diese Dinge da sind, aber ich weiß das nur aus der Erinnerung. Sie geben mir keinen unmittelbaren Hinweis auf ihre Existenz, ich kenne sie in Form einer Prophezeiung. Sie sind, was ich in den nächsten Sekunden erleben werde. Der Regen enthüllt mir mit einem Mal die ganze Fülle einer Situation, und die ist dann nicht bloß erinnert, nicht antizipiert, sondern gegenwärtig und jetzt. Der Regen öffnet mir die Welt nach vorn und zeigt mir die tatsächlichen Beziehungen eines Teils der Welt zu einem anderen.

Wenn es in einem Zimmer regnen könnte, so würde mir das helfen zu verstehen, wo die Dinge in diesem Zimmer sind, würde mir ein Gefühl dafür vermitteln, daß ich in diesem Zimmer bin und nicht bloß auf einem Stuhl sitze.

Das ist ein Erlebnis von großer Schönheit. Ich habe das Gefühl, als ob die Welt, die unter einem Schneider liegt, bis ich sie berühre, sich mir plötzlich enthüllt hat. Ich fühle, daß der Regen gütig ist, daß er mir ein Geschenk gemacht hat, das Geschenk der Welt. Ich bin nicht mehr isoliert, in meine Gedanken eingeschlossen, konzentriert auf das, was ich als nächstes tun muß. Ich muß mir keine Sorgen darüber machen, wo mein Körper sein und was ihm begegnen wird, ich bin mir einer Totalität beschenkt, einer Welt, die zu mir spricht.

Habe ich begriffen, warum sie so schön ist? Wenn das, was es zu wissen gibt, in sich selbst vielgestaltig, verwoben und harmonisch ist, dann teilt das Wissen um diese Wirklichkeit die gleichen Merkmale. Ich bin von einem Gefühl von Vielgestaltigkeit, Verworrenheit und Harmonie erfüllt. Das Wissen selbst ist schön, denn das Wissen erzeugt in mir einen Spiegel dessen, was es zu wissen gibt. Wenn ich dem Regen zuhöre, bin ich da Spiegelbild des Regens und mit ihm eins” (Hull, 1992, S. 46f).

Der Regen als Medium

John M. Hull beschreibt in seinem Text, wie der Regen für ihn zu einem Medium wird, das die Welt in ihrer Gesamtheit erfahrbar macht. Der Regen, der physisch auf alle Dinge trifft und sie akustisch modelliert, eröffnet Hull eine kontinuierliche akustische Wahrnehmung. Diese Wahrnehmung ersetzt die visuelle Erfassung der Welt durch eine hörbare Landschaft, die durch den gleichmäßigen Rhythmus des Regens sowohl Harmonie als auch Struktur vermittelt. Die Geräusche des Regens enthüllen die Konturen und Beziehungen der Umgebung und schenken Hull ein tiefes Gefühl von Präsenz und Verbundenheit.

Hull beschreibt die Erfahrung des Regens als eine Form der Berührung, nicht im physischen Sinne, sondern auf einer seelischen und geistigen Ebene. Der Regen wird zum Symbol für eine Welt, die nicht isoliert ist, sondern sich durch Klang und Rhythmus mit ihm verbindet. Diese Verbindung beschreibt er als ein Geschenk, das ihm “die Fülle einer Situation” und die “tatsächlichen Beziehungen eines Teils der Welt zu einem anderen” offenbart.

Berührung im Sinne von Präsenz und Beziehung

Der Regen wird in Hulls Schilderung zu einem vermittelnden Element, das die isolierte Wahrnehmung auflöst und stattdessen eine Beziehung zwischen ihm und der Welt herstellt. In der Betrachtung von Wilhelm Schmid (2016) über das Berühren und Berührtwerden könnte diese Erfahrung als Überschreiten der Schwelle zwischen Subjekt und Objekt verstanden werden. Der Regen berührt Hull nicht nur akustisch, sondern auch emotional und spirituell, indem er eine Brücke zwischen seiner Innenwelt und der äußeren Realität schlägt.

Auf der seelischen Ebene beschreibt Hull, wie die akustische Welt des Regens ihm Sicherheit und Geborgenheit schenkt. Die Klänge modellieren nicht nur physische Objekte, sondern vermitteln auch eine Art Ordnung und Harmonie, die ihn beruhigt und ihm die Angst vor der Unsicherheit der Umgebung nimmt. Diese Form des Berührtwerdens hat eine tröstende und befreiende Wirkung, da sie Hull ermöglicht, die Welt als gegenwärtig und verbunden zu erleben.

Die metaphysische Dimension der Berührung

In einer tieferen, metaphysischen Dimension wird der Regen für Hull zum Sinnbild für das Geschenk der Existenz selbst. Seine Erfahrung, “eins mit dem Regen” zu sein, verweist auf eine transpersonale Ebene, die über das Individuum hinausgeht. Diese Ebene spiegelt sich in der Idee wider, dass Berührung nicht nur physisch oder emotional sein muss, sondern auch eine Verbindung mit dem Unendlichen schaffen kann. Hulls Beschreibung, dass das “Wissen selbst schön ist”, deutet auf eine ästhetische und spirituelle Erfahrung hin, bei der die Vielgestaltigkeit und Harmonie der Welt in seiner Wahrnehmung widergespiegelt wird.

Fazit

John M. Hulls Erlebnis des Regens war für mich eine tiefgehende Reflexion über die Art und Weise, wie wir Berührung und Verbundenheit mit der Welt erleben können. Der Regen symbolisiert auch für mich eine Form der Berührung, die sowohl die physische als auch die metaphysische Dimension umfasst. Seine Beschreibung zeigt, wie wichtig es ist, sich für die Berührbarkeit der Welt zu öffnen, sei es durch Klang, Emotionen oder Gedanken. Diese Offenheit ermöglicht nicht nur eine tiefere Verbindung zur Welt, sondern auch eine erfüllendere Erfahrung des Menschseins. Hull lädt uns ein, über die Begrenzungen des Sichtbaren hinauszugehen und die Schönheit und Vielgestaltigkeit der Welt in all ihren Dimensionen zu erkennen.

Literatur:

  • Hull, John M. (1992). Im Dunkeln sehen, Erfahrungen eines Blinden. München: C.H. Beck Verlag
  • Schmid, Wilhelm (2016). Das Leben verstehen. Von den Erfahrungen eines philosophischen Seelsorgers. Berlin: Suhrkamp

Bilder: