Raum, Wahrnehmung und der geliebte Brillenwechsel

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"Wenn man sich’s recht überlegt, spielt sich das Leben des modernen Menschen nur in Kisten und Kästen ab: Vom Kindergarten bis zur Universität hausen wir in viereckigen Kästen. Später arbeiten wir in solchen, klein oder groß! Sogar abends, zur Entspannung, sitzen wir vor der Kiste! Dann kommt das Altersheim, und schließlich die letzte Kiste. Sie wissen schon, welche! Und das soll ein Leben sein? Worte sind keineswegs unschuldig. Sie können Menschen manipulieren. Sie können ihm stillschweigend die Zustimmung abnötigen, um ihn in eine Schublade zu pressen. Und schon wieder hätten wir eine Kiste!" (André et al., 2014, S. 137)

Dieses Zitat von Pierre Rabhi aus dem Buch „Wer sich verändert, verändert die Welt“ lädt dazu ein, unser Verhältnis zu Raum, Wahrnehmung und Selbstbestimmung zu reflektieren. Es eröffnet eine spannende Verbindung zu den Fragen, die in der poetischen Betrachtung von Raum und der Metapher des „Brillenwechsels“ aufgeworfen werden. Gemeinsam lenken diese Perspektiven unsere Aufmerksamkeit auf die Wechselwirkung zwischen inneren und äußeren Räumen, die Art und Weise, wie wir wahrnehmen, und wie diese Wahrnehmung unsere Wahrheit formt.

Raum, Wahrnehmung und Wahrheit

Laut Gaston Bachelard (2014) sind wir alle geborene Poeten. Diese poetische Veranlagung erlaubt es uns, die Welt nicht nur funktional, sondern symbolisch und evokativ wahrzunehmen. Räume, die uns umgeben, sind dabei mehr als physische Strukturen. Sie sind gelebte Erfahrungen, die unsere Wahrnehmung und unser Sein unmittelbar beeinflussen. Wie wir diese Räume wahrnehmen, hängt jedoch stark von unseren inneren „Brillen“ ab – den emotionalen und kognitiven Mustern, durch die wir die Welt betrachten.

Ein Beispiel: Stellen wir uns vor, wir treten in einen Raum voller Menschen. Die emotionale Färbung unserer Wahrnehmung entscheidet, ob wir den Raum als einladend oder bedrohlich empfinden. Diese Färbung ist das Resultat unserer Erfahrungen, unserer emotionalen Grundtendenzen und der Geschichten, die wir uns selbst über die Welt erzählen. In den Worten von Rolf Arnold (2009) können Emotionen als Hintergrundbeleuchtung verstanden werden, die unsere Wahrnehmung einfärbt und ihr eine bestimmte Note verleiht.

Die Haut als Grenze und Verbindungsraum

Unsere Haut – als größtes Sinnesorgan – spielt eine zentrale Rolle in der Wechselwirkung zwischen Innen und Außen. Sie ist eine Grenze, durch die Reize aufgenommen und verarbeitet werden, und gleichzeitig ein Verbindungsraum, der uns mit der Welt vernetzt. Martin Grunwald (2017) beschreibt, wie die Haut uns hilft, die Welt zu spüren und auf sie zu reagieren. Diese Verbindung wird besonders deutlich, wenn wir uns die Haut als Metapher für unsere Wahrnehmung vorstellen: Was „geht uns unter die Haut“? Wie fühlen wir uns „in unserer Haut“? Und welche neuen Möglichkeiten eröffnen sich, wenn wir imaginativ oder physisch neue Räume betreten?

Die Feldenkrais-Methode bietet hier einen Ansatzpunkt. Durch die bewusste Wahrnehmung von Mikrobewegungen erkunden wir die Wechselwirkung zwischen Innen und Außen. Diese Bewegungen sind nicht nur physiologisch, sondern auch emotional und kognitiv bedeutsam. Sie helfen uns, neue Seinsweisen zu entdecken, ohne dass wir physisch den Raum wechseln müssen. Imaginativ können wir uns neue Bilder erschaffen, die wiederum unsere Wahrnehmung und unser Handeln verändern.

Der Wechsel der Brille

Der Spruch „Wechsle die Brille und du brauchst keine Pille“ erinnert uns daran, dass unsere Sichtweise auf die Welt flexibel ist. Indem wir unsere „Brille“ wechseln – also unsere Perspektive oder Haltung – können wir unser Verhältnis zur Welt transformieren. Diese Veränderung erfordert jedoch, dass wir uns selbst und unsere Wahrnehmung hinterfragen. Peter Bieri (2011) betont, dass Selbstveränderung Wissen, Geduld und Mut erfordert. Es geht darum, sich selbst zum Thema zu machen und durch Reflexion neue Erfahrungsräume zu schaffen.

Ein praktisches Beispiel dafür ist die Arbeit mit Primärkonstruktionen, wie Rolf Arnold (2009) sie beschreibt. Diese grundlegenden Muster von Bewahren und Wandel, Nähe und Distanz sind tief in uns verankert. Indem wir sie beobachten und hinterfragen, können wir uns von alten Mustern lösen und unsere Wahrnehmung erweitern. Dies ermöglicht es uns, neue Geschichten über uns selbst zu schreiben und die Welt mit einer neuen emotionalen Qualität zu erleben.

Die Plastizität des Bildes

Ein entscheidender Aspekt in diesem Prozess ist die Vorstellungskraft. Wenn wir uns ein neues Bild von uns selbst oder der Welt machen, können wir dieses Bild wachsen und sich verändern lassen. Die Plastizität des Bildes bedeutet, dass es sich an unsere Erfahrungen und Reflexionen anpasst. In der Feldenkrais-Methode wird dies durch Bewegungsübungen unterstützt, die nicht nur physische, sondern auch emotionale Veränderungen bewirken. Dieses Wechselspiel von Bild, Bewegung und Wahrnehmung führt zu einer tiefen Kongruenz zwischen Innen und Außen.

Fazit: Wahrnehmung als Weg

Räume sind weit mehr als physische Entitäten. Sie sind gelebte Erfahrungen, die uns prägen und unsere Wahrheiten formen. Unsere Wahrnehmung dieser Räume ist jedoch nicht objektiv, sondern emotional gefärbt und durch unsere Geschichten und Brillen geformt. Indem wir uns dieser Dynamik bewusst werden, können wir unsere Wahrnehmung erweitern und neue Wege für unser Sein entdecken.

In der Verbindung von poetischer Sprache, Bewegung und Reflexion liegt eine große Chance. Sie erlaubt es uns, uns selbst und die Welt mit neuen Augen zu sehen und die Grenzen unserer Wahrnehmung zu verschieben. So wird der Wechsel der Brille zum Symbol für einen tiefgreifenden Wandel – einen Wandel, der nicht nur uns selbst, sondern auch die Welt, in der wir leben, verändern kann.

Literatur:

  • André, Christophe; Kabat-Zinn, Jon; Ricard, Matthieu & Rabhi, Pierre (2014). Wer sich verändert, verändert die Welt. München: Kösel Verlag
  • Arnold, Rolf (2009). Seit wann haben Sie das? Grundlagen eines Emotionalen Konstruktivismus. Heidelberg: Carl-Auer Verlag
  • Bachelard, Gaston (2014). The Poetics of Space. New York: Penguin Classics
  • Bieri, Peter (2011). Wie wollen wir leben? Heidelberg. Salzburg: Residenz Verlag
  • Grunwald, Martin (2017). Homo Hapticus. Warum wir ohne Tastsinn nicht leben können. München: Droemer Verlag

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