Aufstehen und dann? Ja, genau dann! Was passiert dann? Da ist einer, ein Mensch, der Wecker klingelt. Der Wecker klingelt immerzu, Tag aus, Tag ein, und der Mensch steht auf. Nun steht er. Allerdings nicht im Leben. Er steht lediglich und macht und macht und macht, immerzu, immer gleich, bis es einen Knall gibt. Ein Gefühl macht sich breit. Ein Gefühl der Einsamkeit. Ein Gefühl der existenziellen Leere. Nun ist es passiert. Final. Die Kompensationen funktionieren nicht mehr. Die Masken sind gefallen. Die Schablonen, mit denen man die Welt betrachtet, sind lediglich Ballast. Nichts funktioniert mehr. Und das ist auch gut so, denn Menschen funktionieren nicht. Das haben sie noch nie getan. Maschinen funktionieren – und das hoffentlich ziemlich gut, abhängig auch vom Menschen, der sie geschaffen hat.
Doch was nun, wenn der Mensch nicht mehr funktioniert? Wenn die Verbindung zur Welt gefährdet ist? Wenn der Mensch nun auf wackeligen Beinen steht und es droht, die Verbindung zu sich selbst zu verlieren? Ist es nicht so, wie das allgemeine Sprichwort sagt: „Liebe dich selbst, und erst dann liebt die Welt dich“? Nun ja, ich stimme dem nicht zu. Wo wären wir dann? Ein grausamer Zustand, denn sind es nicht die Wenigen, die diesen Platz erarbeitet haben? Die Vielen sind es sehr wahrscheinlich nicht. Und dennoch scheint mir die Liebe mehr zu sein als nur ein Gefühl, viel mehr. Mir scheint die Liebe die transformative Kraft zu sein, um aus dem Leiden ins Leben zu gehen. Nicht fliegen, nicht springen, sondern achtsam und langsam, sowie stetig zu gehen. Es ist bestimmt kein Spaziergang, es gleicht eher einer Reise. Einer Reise zum Selbst. Und auf dieser Reise ist es ratsam, zu lernen, sich selbst auszuhalten, sich selbst in den Arm zu nehmen, denn man hat es verdient.
Sich in den Arm zu nehmen ist noch etwas anderes, als von jemandem in den Arm genommen zu werden. In den Arm genommen zu werden ist essenziell, als Kleinkind. Besonders hier, immer wieder und immerzu. Doch auch als Erwachsener ist es wichtig. Und noch wichtiger ist es, sich dies selbst geben zu können. Immer wieder, immerzu, denn wir sind nie die Gleichen. Ständig ändern wir uns. Dieses In-den-Arm-Nehmen, sich selbst aushalten zu lernen, ist es, was uns in der Veränderung stabilisiert. In der Feldenkrais-Sprache nennen wir das dynamische Stabilität. Wenn ich dies jetzt auf die Psychologie und das Leben übertrage, so meine ich damit, zu akzeptieren, dass die Dinge nicht immer gleich sind, dass sich Dinge ändern. Dass wir uns vor allem ändern. Diese Veränderung ist wie ein Fluss. Ein Fluss fließt, das ist seine Aufgabe. Stehen zu bleiben ist nicht die Aufgabe des Flusses. Stehen bleiben gleicht dann eher einer Rigidität, einem Festhaltenwollen. Was steckt wohl dahinter? Wahrscheinlich ist es die Angst vor der Veränderung. Die Angst, sich zu verlieren? Doch was könnte man da verlieren, wenn nicht die Schablonen, die Muster, die Kompensationen? Und sind es nicht genau diese, die man von Zeit zu Zeit ablegen darf, um weiterzugehen und am nächsten Morgen anders aufzustehen?
Wir sprechen viel von Stress. Doch ist es nicht so, dass der größte Stress darin besteht, die Schablonen partout nicht loslassen zu wollen, die Muster nicht aufgeben zu wollen, die Kompensationen mit Biegen und Brechen aufrechtzuerhalten? Ist nicht das der größte Stress? Der Stress besteht dann genau darin, ein Bild von sich aufrechtzuerhalten, Rigidität aufrechtzuerhalten. Der Fluss ist nun stehen geblieben, das Wasser kippt, und schon bald wird die Lebendigkeit weichen. Ist nicht der Weg vom Leiden über das Lieben hinein ins Leben? Für mich ist er es. So frage ich dich, aber auch mich selbst: Was bräuchte es, um den Stress wirklich loszulassen, die Rigidität ein für alle Mal loszulassen? Es mag sich anhören wie das Unmögliche. Es geht ja schließlich um alles. Es geht ums nackte Überleben. Doch geht es nicht immer ums Überleben? Dem Überleben wohnt ein schaler Geschmack inne, ein strenger Geschmack. Überleben mag auch eine gewisse Ernsthaftigkeit haben. Gegen diese ist nichts einzuwenden, solange es nicht alleine bei ihr bleibt. Wenn es allerdings nur beim Überleben bleibt, wo bleibt dann das Leben?
Das Leben, die Lebendigkeit ist herausfordernd. So ist es auch, Schablonen, Kompensationen und Muster hinter sich zu lassen. Dies bedarf des Antwortens gegenüber dem Leben, immerzu. Dies ist dynamische Stabilität. Antworten sind nicht immer gleich. Antworten ändern sich, abhängig vom Kontext, der Zeit sowie der Relation zum Außen. Doch antworten wir dann in zweifacher Weise, dem Leben gegenüber und uns selbst gegenüber. Selbstverantwortung heißt Antworten in dieser doppelten Lesart. Durch dieses Antworten reduzieren wir auch. Was wird dabei reduziert? Der eigene Anspruch. Der Beste sein, der Schlaueste sein, der Schnellste sein, etc. Der Anspruch untermauert schlichtweg die Rigidität, die Nicht-Lebendigkeit. Es gleicht einem Nicht-wahr-haben-wollen. Es scheint, als ob wir für die Erfüllung von Konzepten leben und nicht für die gelebte Erfahrung, für Lebendigkeit. Das Leben ist herausfordernd.
Dazu bedarf es, immerzu, unsere Muster, unsere Kompensationen, unsere Schablonen hintanzustellen. Es bedarf der Ernsthaftigkeit, aber nicht nur der Ernsthaftigkeit, sondern auch des Humors. Was wäre denn das Leben ohne Humor, ohne das Lachen? Es geht nicht darum, alles wegzulachen oder immerzu zu lachen. Nein, so leicht ist es nicht. Hingabe, Ernsthaftigkeit und am Ende des Tages ein verschmitztes Grinsen, ein Lächeln, ja, sogar ein Lachen. Ist nicht gerade dieses Lachen das größte Gegengift gegen die Angst? Denn diese Angst, die Angst vor dem Überleben mit ihrem lähmenden Charakter, erstickt noch so jedes Lachen im Keim. Doch manchmal ist das Lachen stärker, denn es kommt zusammen mit einer ordentlichen Portion Mut.
Mut dem Leben gegenüber, Mut der Veränderung gegenüber, Mut der Liebe gegenüber. Lieben bedeutet dann, Ja zu sagen gegenüber dem Leben.
Wenn ich jetzt aufstehe, vom Stuhl, wie stehe ich dann auf? Also, ich hole mir gleich etwas zu trinken. Und du? Wie stehst du jetzt auf? Was passiert dann bei dir?
Fühle dich ganz herzlich umarmt.
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- Foto von nine koepfer auf Unsplash