“Alkohol schafft keinen Alkoholiker. Heroin produziert keine Süchtigen. Die suchtgefährdete Veranlagung einer Person führt zur Sucht. Die Menschen weigern sich, Verantwortung für ihr eigenes Leben zu übernehmen. Sie haben nie gelernt, oder man hat ihnen nie beigebracht, einen Dialog mit dem Leben zu führen und Erfüllung darin zu finden (Lair & Lechler, S. 230f., 1983).”
Das sind in der Tat sehr starke Worte. Nie gelernt, einen Dialog mit dem Leben zu führen. Wie könnte dieser Dialog aussehen, oder wessen Inhalt mag er haben. Ich versuche mich mal diesem Dialog hier anzunähern. Dabei hat mich das Buch von Gabor Mate (2018) sehr inspiriert. Ich werde mich in großen Teilen darauf beziehen. Doch bevor wir mit dem Dialog anfangen, nähern wir uns Schritt für Schritt an. Beginnen möchte ich mit einer Definition. Dann befassen wir uns mit den Ursachen und Bedingungen, sowie den Auswirkungen von Sucht. Dann werde ich auch auf biologische Systeme eingehen, sowie kurz über die menschliche Freiheit sprechen.
Was ist Sucht eigentlich?
Das Wort Sucht stammt vom lateinischen addicere, was so viel wie „zuweisen“ oder „verpflichten“ bedeutet. Ursprünglich bezeichnete es eine gewohnheitsmäßige Tätigkeit oder ein starkes Interesse, oft mit positivem Zweck.
Laut einer Expertenkonferenz von 2021 ist Sucht eine chronische neurobiologische Erkrankung, die durch folgende Merkmale gekennzeichnet ist:
- Eingeschränkte Kontrolle über das Verhalten,
- Zwanghafte Nutzung,
- Fortgesetzter Konsum trotz negativer Konsequenzen,
- Starkes Verlangen (Craving).
Entscheidend ist nicht die Menge oder Häufigkeit des Konsums, sondern die Auswirkungen auf das Leben der betroffenen Person und ihres Umfelds. Breiter definiert kommen wir hier an. Sucht ist jedes zwanghafte Verhalten, das trotz negativer Folgen fortgesetzt wird. Sie zeigt sich durch Kontrollverlust, gedankliche Vereinnahmung und Rückfälle trotz Leidensdruck.
Nicht jede zwanghafte Handlung ist jedoch eine Sucht. Zwangsstörungen (OCD) beinhalten ebenfalls Kontrollverlust, aber ohne das typische Verlangen und die kurzfristige Befriedigung wie bei Süchten.
Ein multidimensionaler Ansatz ist notwendig: Sucht kann nicht allein auf biochemische Prozesse im Gehirn reduziert werden. Neben neurologischen und psychologischen Faktoren spielen soziale und emotionale Einflüsse eine entscheidende Rolle. Toleranzentwicklung ist ein weiteres Kriterium: Der Süchtige braucht zunehmend mehr von einer Substanz oder Handlung, um den gewünschten Effekt zu erzielen. Abhängigkeit ist letztlich eine starke emotionale oder physische Bindung an ein schädliches Verhalten oder eine Substanz, die kurzfristig Erleichterung bringt, aber langfristig das Problem verstärkt.
Unabhängig von der Art der Sucht bleibt der zugrunde liegende Mechanismus derselbe: eine fehlgeleitete Strategie zur Bewältigung innerer Spannungen. Doch wie entsteht Sucht überhaupt? Sucht tritt in vielen Formen auf – von Substanzmissbrauch bis hin zu Verhaltenssüchten. Doch hinter jeder Sucht steckt derselbe grundlegende Mechanismus: die Suche nach Schmerzstillung, Belohnung und Kontrolle. Ebenso sind Scham, Verleugnung und zerstörerische Verhaltensmuster universelle Begleiterscheinungen. Unabhängig von der Form fordert Sucht immer denselben Preis: den Verlust inneren Friedens, beschädigte Beziehungen und ein geschwächtes Selbstwertgefühl.
Ätiologie der Sucht
Nach Mate entsteht Sucht nicht zufällig und ist auch nicht genetisch vorprogrammiert. Sie ist das Produkt der Entwicklung in einem bestimmten Kontext und wird durch Umweltfaktoren aufrechterhalten. Der Suchtprozess ist eine lebenslange Wechselwirkung mit der sozialen und emotionalen Umgebung sowie dem inneren psychischen Raum einer Person.
Die Studie von Vincent J. Felitti (2013) basiert auf einer umfassenden Untersuchung mit über 17.000 Erwachsenen und zeigt, dass Suchtverhalten stark mit belastenden Kindheitserfahrungen (Adverse Childhood Experiences, ACE) zusammenhängt. Die zentrale These lautet, dass Sucht primär erfahrungsbedingt ist und nicht durch die chemischen Eigenschaften der konsumierten Substanzen verursacht wird.
Die Studie zeigt eine dosisabhängige Beziehung zwischen negativen Kindheitserfahrungen und späterem Suchtverhalten. Je mehr belastende Kindheitserlebnisse eine Person hatte, desto höher war das Risiko für Rauchen, Alkoholismus und den Konsum injizierter Drogen. Sucht wird daher als unbewusster Versuch verstanden, mit emotionalen Langzeitfolgen früherer Traumata umzugehen. Betroffene nutzen psychoaktive Substanzen zur Selbstmedikation gegen emotionale Schmerzen.
- Rauchen: Personen mit hoher ACE-Punktzahl hatten eine signifikant höhere Wahrscheinlichkeit, langfristig Raucher zu bleiben.
- Alkoholismus: Eine ACE-Punktzahl von 4 oder mehr erhöhte das Risiko für Alkoholabhängigkeit um über 500 %.
- Injektion harter Drogen: Männer mit einer ACE-Punktzahl von 6 hatten ein 46-mal höheres Risiko, später Drogen zu spritzen.
Neben Sucht treten oft auch psychische Erkrankungen, soziale Probleme und chronische Krankheiten auf. Die Auswirkungen von ACE bleiben oft jahrzehntelang verborgen und äußern sich später in organischen Krankheiten oder sozialen Fehlanpassungen. Klassische Suchterklärungen (z. B. biochemische Abhängigkeit) greifen deswegen zu kurz. Eine effektive Suchtprävention sollte daher frühzeitig belastende Kindheitserfahrungen erkennen und gezielt psychologische Unterstützung bieten. Behandlungsansätze sollten die Ursachen der Sucht – unverarbeitete Traumata – adressieren und nicht nur den Substanzkonsum bekämpfen.
Die Studie stellt das herkömmliche Verständnis von Sucht in Frage und zeigt, dass Kindheitserfahrungen eine entscheidende Rolle spielen. Ein neuer, erfahrungsbasierter Ansatz zur Prävention und Behandlung könnte helfen, die hohen gesellschaftlichen und gesundheitlichen Kosten von Suchterkrankungen nachhaltig zu reduzieren.
Warum ist das menschliche Gehirn so empfänglich für Suchtmittel?
Die Natur hat nicht Millionen von Jahren damit verbracht, ein hochkomplexes System aus neuronalen Schaltkreisen, Neurotransmittern und Rezeptoren zu entwickeln, nur damit Menschen sich berauschen können, um ihren Problemen zu entfliehen. Diese Systeme, schreibt der Neurowissenschaftler und Suchtforscher Jaak Panksepp (1998), müssen einen essenziellen Zweck erfüllen – jenseits des Konsums chemischer Substanzen. Sucht ist kein natürlicher Zustand, doch die betroffenen Gehirnregionen sind zentrale Überlebensmechanismen. Die Vorstellung, dass Gene maßgeblich die Gehirnentwicklung bestimmen, wurde durch die Erkenntnis ersetzt, dass die Umwelt eine entscheidende Rolle spielt. Zwar legen Gene die grundlegende Struktur und den Entwicklungsplan des zentralen Nervensystems fest, doch die Umwelt formt dessen chemische Prozesse, Verbindungen und Netzwerke, die unser Verhalten steuern.
Bedingungen für die Entstehung von Sucht
Die Annahme, dass allein der Konsum einer Droge zur Sucht führt, ist irreführend. Zwanghaftes Glücksspiel gilt als Sucht, obwohl niemand behauptet, dass Spielkarten die Ursache sind. Ebenso macht Essen niemanden zwangsläufig zum zwanghaften Esser.
Damit eine Sucht entsteht, müssen drei Faktoren zusammenkommen:
- Eine anfällige (vulnerable) Person – genetische, neurobiologische oder psychologische Prädispositionen spielen eine Rolle.
- Eine Substanz oder ein Verhalten mit Suchtpotenzial – nicht jede Substanz oder Aktivität hat die gleiche Wirkung.
- Erheblicher Stress – äußere Belastungen allein reichen jedoch nicht aus.
Letztlich ist es nicht die Substanz oder das Verhalten selbst, das eine Sucht auslöst, sondern die Beziehung der Person dazu. Sucht entsteht, wenn jemand ein äußeres Mittel zur Bewältigung innerer Spannungen benötigt.
Die Frage „Was gibt mir die Sucht?“ ist oft aufschlussreicher als “Wie lange bin ich süchtig?”. Viele Betroffene berichten, dass Sucht ihnen kurzfristig hilft, emotionalen Schmerz zu betäuben, Stress zu bewältigen, inneren Frieden oder ein Gefühl von Zugehörigkeit zu erleben. Sucht ist ein verzweifelter Versuch, mit menschlichem Leid umzugehen – und die entscheidende Frage lautet: Warum dieser Schmerz?
Zusätzlich sind emotionale Abstimmung (Attunement) in der Kindheit, Selbstregulation und der Einfluss von Umweltfaktoren wesentliche Bedingungen, die das Suchtrisiko erhöhen oder verringern können. Man könnte auch von der anderen Seite kommen. Sucht ist eine Frage der Gehirnentwicklung und dafür sind gewisse Dinge notwendig. Laut Daniel Siegel (2010) fördern entscheidende Umweltfaktoren die optimale Gehirnentwicklung:
- Ernährung
- körperliche Sicherheit und
- konstante emotionale Fürsorge.
Besonders letztere ist essenziell für eine gesunde neurobiologische Entwicklung, denn menschliche Bindungen formen neuronale Verbindungen. Ein Kind braucht eine verlässliche, schützende und emotional präsente Bezugsperson. In der frühen Kindheit sind Bindungsbeziehungen die wichtigsten Umweltfaktoren für die Gehirnreifung. Sie helfen dem unreifen Gehirn, sich an den ausgereiften Funktionen der Eltern zu orientieren und seine eigenen Prozesse zu organisieren.
Eine Übersichtsarbeit von Joseph Rawn Gabriel (1999) untersucht den Einfluss der Umwelt auf die neuronale Plastizität, das limbische System, die emotionale Entwicklung und die Bindungsfähigkeit. Der Autor betont, dass frühe Erfahrungen eine entscheidende Rolle für die Entwicklung des Gehirns spielen, insbesondere für das limbische System, das für Emotionen, soziale Interaktion und Bindung verantwortlich ist.
Das limbische System, insbesondere Amygdala, cingulärer Cortex, Hippocampus und Septum, entwickelt sich in den ersten Lebensjahren und ist stark von Umwelteinflüssen abhängig. Diese Gehirnregionen benötigen soziale, emotionale und sensorische Reize, um sich normal zu entwickeln. Fehlen diese, können neuronale Netzwerke falsch verknüpft oder zerstört werden, was zu emotionalen und sozialen Defiziten führt.
Eine unzureichende oder feindselige Umgebung kann schwerwiegende Folgen haben, darunter Atrophie der Amygdala und des Hippocampus sowie eine gestörte synaptische Entwicklung. Studien an Tieren und Menschen zeigen, dass Kinder in isolierten oder missbräuchlichen Umgebungen später oft pathologische Schüchternheit, emotionale Abstumpfung oder aggressive Verhaltensweisen entwickeln. Joseph verweist auf historische Fälle von Waisenkindern mit extrem hohen Sterblichkeitsraten und gravierenden Entwicklungsstörungen.
Das Konzept der „Erfahrungserwartung“ besagt, dass bestimmte Gehirnregionen während kritischer Entwicklungsphasen spezifische Reize benötigen. So entwickeln Kleinkinder in den ersten Monaten ihres Lebens eine starke soziale Orientierung, die durch Interaktionen mit Bezugspersonen gefördert wird. Fehlt diese Stimulation, kann es zu langfristigen Defiziten in sozialen und emotionalen Fähigkeiten kommen.
Joseph illustriert seine Thesen anhand des Falls von Ted Kaczynski, bekannt als der „Unabomber“. Kaczynski erlitt im Säuglingsalter eine mehrwöchige Isolation im Krankenhaus, woraufhin er extreme soziale Isolation, emotionale Dysfunktionalität und aggressives Verhalten entwickelte. Der Autor argumentiert, dass solche frühen Erfahrungen in Kombination mit genetischen Faktoren zu abnormem Verhalten führen können.
Joseph hebt hervor, dass frühe Umweltbedingungen die neurologische Entwicklung tiefgreifend prägen und langfristige Folgen für soziale und emotionale Fähigkeiten haben. Negative Erfahrungen wie Deprivation oder Missbrauch können dauerhafte strukturelle Veränderungen im Gehirn bewirken, die sich in Verhaltensstörungen und psychischen Erkrankungen manifestieren. Der Autor betont die Bedeutung einer förderlichen Umgebung für die gesunde Entwicklung des Gehirns.
Bedingungen: Genetik oder Umwelt?
Oft wird angenommen, dass eine Erkrankung genetisch bedingt sein muss, wenn sie in Familien gehäuft auftritt. Doch viele Einflüsse – vor und nach der Geburt – können von einer Generation zur nächsten weitergegeben werden, ohne dass Gene eine Rolle spielen. Elterliche Erziehungsstile werden häufig epigenetisch „vererbt“ und prägen so die kindliche Entwicklung.
Warum sind genetische Erklärungen dennoch so beliebt? Sie bieten einfache Antworten, die von individueller, elterlicher oder gesellschaftlicher Verantwortung entbinden. Genetik erscheint als neutrale, unpersönliche Kraft, die Schuldgefühle vermeidet. Doch die Forschung zeigt: Es ist die Umwelt, die bestimmt, ob genetische Potenziale zum Tragen kommen – und damit auch, ob Sucht entsteht oder nicht. Neben den biologischen Faktoren spielen auch frühe Bindungserfahrungen eine Schlüsselrolle…in anderen Worten: Attunement.
Bedingungen: Die Rolle der emotionalen Abstimmung (Attunement)
Die Gehirnentwicklung wird nicht nur durch negative Erfahrungen beeinträchtigt, sondern auch durch das Fehlen positiver emotionaler Zuwendung. Gestresste oder emotional abwesende Eltern können die Entwicklung der Selbstregulation ihres Kindes stören. Entscheidend ist nicht nur elterliche Liebe, sondern die Fähigkeit, das Kind emotional zu spiegeln, sodass es sich verstanden und akzeptiert fühlt.
Kinder, die keine emotionale Abstimmung erfahren, entwickeln oft eine schwache Stressregulation. Ihr Gehirn produziert weniger Endorphine und Dopamin, wodurch sie anfälliger für externe „Hilfsmittel“ zur Selbstberuhigung werden – etwa durch exzessives Essen, Fernsehen oder später durch Suchtmittel.
Fehlende emotionale Präsenz der Eltern kann ebenso schädlich sein wie physische Abwesenheit. Studien zeigen, dass vernachlässigte Kinder später ein erhöhtes Risiko für Sucht und andere psychische Störungen haben. Diese emotionale Leere führt oft zu einem instabilen Selbstwertgefühl, das sich durch Machtstreben, Statussucht oder zwanghafte Anerkennungssuche äußern kann.
In unserer individualisierten, oft überforderten Gesellschaft fehlt vielen Eltern die emotionale Unterstützung, die früher Großfamilien oder Gemeinschaften boten. Dadurch sind dysfunktionale Eltern-Kind-Interaktionen heute weit verbreitet – mit langfristigen Folgen für die emotionale und psychische Gesundheit der nächsten Generation.
Auswirkungen der Sucht
Ein Kind kann emotionalen Stress empfinden, selbst wenn ein Elternteil körperlich anwesend, aber emotional unerreichbar ist – ein Phänomen, das Allan Schore (1994) als „proximale Trennung“ bezeichnet. Da Kinder nicht nur körperlich, sondern auch emotional abhängig sind, suchen sie in solchen Momenten instinktiv die Nähe der Eltern. Eine liebevolle Reaktion würde das Gehirn mit Endorphinen fluten und das Kind beruhigen. Bleibt die Reaktion aus oder ist unzureichend, bleibt die Endorphinausschüttung aus, und das Kind muss sich mit unzureichenden Bewältigungsmechanismen wie Wippen oder Daumenlutschen selbst beruhigen.
Fehlende elterliche Aufmerksamkeit erhöht das Risiko, später chemische Mittel zur emotionalen Regulation zu suchen. Schäden in diesen Gehirnregionen führen zu beeinträchtigter Impulskontrolle, sodass Betroffene unangemessen, kindlich oder bizarr auf ihre Umwelt reagieren. Sucht stellt dann lediglich einen Bewältigungsmechanismus dar, mit erheblichen Auswirkungen. Darunter fallen unter anderem:
- Verlust des inneren Friedens
- Beschädigung von Beziehungen
- Sinkendem Selbstwertgefühl
- Psychologischer Isolation
- Starker emotionaler Abhängigkeit von äußeren Reizen
- Verstärkter Impulsivität und Kontrollverlust
Im Kern jeder Sucht liegt eine tiefe innere Leere, die aus Angst entspringt. Der Süchtige fürchtet den gegenwärtigen Moment und richtet seinen gesamten Fokus fieberhaft auf das nächste High – den kurzen Augenblick, in dem sein Gehirn, durch die Droge stimuliert, von der Last der Vergangenheit und der Angst vor der Zukunft befreit scheint.
Diese innere Leere betrifft nicht nur Menschen mit Substanzabhängigkeit. Viele von uns versuchen vergeblich, eine spirituelle Leere zu füllen – den Verlust der Verbindung zu sich selbst, zu Sinn und echten Werten. Unsere konsumgetriebene, leistungsorientierte Gesellschaft verstärkt dieses Vakuum nur noch weiter und hinterlässt uns am Ende leerer als zuvor.
Innere Leere und das Verlangen nach Erfüllung
Sucht entspringt einer tiefen inneren Leere, die aus unerfüllten emotionalen und spirituellen Bedürfnissen resultiert. Während viele Menschen diese Leere mit Arbeit, Konsum oder Ablenkung kompensieren, ist der Süchtige sich dieses Zustands schmerzhaft bewusst – jedoch mit begrenzten Möglichkeiten, ihm zu entkommen.
- Isolation ist ein zentrales Merkmal der Sucht. Sie entsteht nicht nur als Folge der Sucht, sondern oft bereits davor. Betroffene setzen ihre Sucht über alles – sogar über zwischenmenschliche Beziehungen.
- Das Verlangen ist stärker als der Genuss. Süchtige finden das größte Vergnügen nicht in der eigentlichen Handlung, sondern im Verlangen und der Jagd nach dem gewünschten Objekt. Die Erleichterung hält nur kurz an – der eigentliche Antrieb ist das Verlangen, nicht die Erfüllung.
- Langeweile und innere Unruhe sind schwer auszuhalten. Wenn der Geist nicht beschäftigt ist, tauchen schmerzhafte Erinnerungen, Ängste oder eine existenzielle Leere auf. Dieser Zustand ist für viele Menschen eine der unerträglichsten Empfindungen.
Wechselwirkungen zwischen Biologie und Umwelt
Es gibt kein spezifisches „Suchtzentrum“ im Gehirn. Stattdessen sind mehrere Netzwerke beteiligt, die unsere Emotionen, Motivation und Impulskontrolle steuern. Diese Systeme sind essenziell für unser Überleben, doch wenn sie aus dem Gleichgewicht geraten, können sie Suchtverhalten begünstigen.
- Opioid-Bindungs- und Belohnungssystem
Dieses System reguliert Vergnügen, Schmerz und soziale Bindung. Endorphine und externe Opioide lösen Wohlgefühl aus und verstärken emotionale Nähe. Bereits in der frühen Kindheit fördert eine sichere emotionale Bindung die gesunde Entwicklung dieses Systems. Ein Mangel an elterlicher Zuwendung kann zu einer reduzierten Endorphin-Ausschüttung führen, wodurch Betroffene später verstärkt nach künstlichen Belohnungen wie Drogen oder zwanghaften Verhaltensweisen suchen. - Dopamin-Motivationssystem
Dopamin steuert Antrieb, Verlangen und Belohnung. Es spielt eine Schlüsselrolle beim Lernen und verstärkt Verhaltensweisen, die als lohnend empfunden werden. Suchtmittel wie Alkohol, Nikotin und Opiate aktivieren dieses System besonders stark. Doch auch nicht-substanzgebundene Süchte wie Glücksspiel oder exzessives Essen nutzen diese Mechanismen. Dopamin sorgt für das Verlangen nach der Substanz oder Handlung – nicht für das eigentliche Vergnügen. - Präfrontaler Cortex – Zentrum der Selbstkontrolle
Der präfrontale Cortex bewertet Impulse und hemmt unangemessene Reaktionen. Bei Süchtigen ist diese Kontrollfunktion geschwächt:
- Die Droge oder das süchtige Verhalten wird überbewertet und dominiert das Denken.
- Gesunde Ziele wie Ernährung, Beziehungen oder langfristiges Wohlbefinden werden vernachlässigt.
- Bereits der Gedanke an das Suchtmittel kann starke Cravings (Verlangen) auslösen.
Durch wiederholten Konsum oder stressbedingte Überlastung verliert der präfrontale Cortex zunehmend seine hemmende Funktion. Nach Jeffrey Schwartz (2002) fungiert der präfrontale Cortex als „CEO“ des Gehirns – hier werden Alternativen abgewogen und Entscheidungen getroffen. Seine zentrale Aufgabe ist nicht, angemessene Reaktionen zu erzeugen, sondern unangemessene Impulse zu hemmen. Er ermöglicht scheinbar freie Verhaltenswahl, indem er viele mögliche Reaktionen unterdrückt und nur eine zulässt. - Stressreaktionssystem
Stress ist einer der stärksten Risikofaktoren für Sucht. Frühe Traumata, Vernachlässigung oder emotionale Unsicherheit setzen das Stresssystem auf eine hohe Grundaktivierung, sodass Betroffene lebenslang empfindlicher auf Belastungen reagieren.
- Stress reduziert die Anzahl der Dopamin- und Opioid-Rezeptoren, wodurch positive Gefühle schwerer empfunden werden können.
- Ein dauerhaft überlastetes Stresssystem fördert impulsives Verhalten und verstärkt die Suche nach kurzfristiger Erleichterung durch Substanzen oder zwanghafte Aktivitäten.
Frühe emotionale Verletzungen sind der Kern jeder Sucht – sei es bei Spielsucht, Online-Abhängigkeit, Kaufsucht oder Workaholismus. Die Wunde mag verborgen oder subtil sein, doch sie existiert. Viele Süchtige fühlen sich unruhig, innerlich getrieben und haben eine tiefe Abneigung gegen das eigene Empfinden. Drogen oder zwanghafte Verhaltensweisen stabilisieren kurzfristig ihren emotionalen Zustand.
Drei zentrale Faktoren verstärken Stress und damit auch das Suchtrisiko:
- Unsicherheit
- Mangel an Information und Kontrolle
- Soziale Isolation
Sucht ist daher nicht nur ein individuelles Problem, sondern oft das Ergebnis einer langanhaltenden emotionalen und sozialen Dysbalance. Frühe Traumata und anhaltender Stress können zu einer dauerhaften Sensibilisierung dieser Systeme führen und das Suchtrisiko erheblich erhöhen. Bevor wir weitermachen, möchte ich kurz auf die Thematik des freien Willens eingehen, denn dieser hat sehr viel mit dem präfrontalen Cortex zu tun. Der freie Wille ist keineswegs nur ein rein philosophisches Problem. Das mag früher vielleicht der Fall gewesen sein. Doch heute ist die Debatte insbesondere dann wichtig, sobald es um die Impulskontrolle geht. Es eröffnet eine neue neurologische Perspektive.
Freiheit und Entscheidungsfindung
Entscheidungen, die wir für frei halten, entspringen oft unbewussten emotionalen Mustern oder früh geprägten Glaubenssätzen. Unser Gehirn wird in der Kindheit durch Erlebnisse programmiert, an die wir uns nicht bewusst erinnern. Je stärker diese automatischen Mechanismen ausgeprägt sind und je schwächer die Bereiche des Gehirns, die bewusste Kontrolle ermöglichen, desto eingeschränkter ist unsere tatsächliche Freiheit.
Freiheit erfordert Bewusstsein. Es kostet Anstrengung, Achtsamkeit und Fokus, nicht rein impulsiv zu handeln. Der Unterschied zwischen unbewusster Reaktion und bewusster Entscheidung zeigt sich etwa in folgendem Beispiel: Statt aus Wut impulsiv gegen eine Wand zu schlagen, kann man innehalten und sich sagen: „Ich spüre große Wut. Mein Verstand sagt mir, ich sollte zuschlagen.“ Diese bewusste Wahrnehmung eröffnet die Wahlmöglichkeit – ohne sie gibt es keine echte Freiheit, nur unkontrollierte Reaktionen.
Der präfrontale Cortex spielt dabei eine zentrale Rolle. Seine Aufgabe ist weniger, Handlungen zu initiieren, sondern unangemessene Impulse zu hemmen. Zwischen dem Entstehen eines Impulses und seiner Umsetzung vergehen etwa 0,5 Sekunden – nur in diesem kurzen Zeitfenster kann das Gehirn bewusst gegensteuern. Ist der präfrontale Cortex durch Stress, Erschöpfung oder emotionale Belastung beeinträchtigt, fällt es schwerer, Impulse zu kontrollieren.
Süchtige haben ein Gehirn, das süchtige Verhaltensweisen überbewertet und gesunde Alternativen unterschätzt. Ihr Cortex ist geschwächt in seiner Fähigkeit, impulsive Handlungen zu blockieren. Gesellschaftliche Maßnahmen wie Strafen, Moralisierung oder rein medizinische Ansätze greifen hier zu kurz. Wirkliche Freiheit entsteht erst durch veränderte innere und äußere Bedingungen.
Unsicherheit, Isolation, Kontrollverlust und ungelöste Konflikte sind die größten Stressfaktoren – und damit die Haupttreiber von Sucht und Rückfällen. Wer Freiheit von der Sucht sucht, muss diese Faktoren bewusst reduzieren und durch Sicherheit, soziale Verbundenheit und Selbstkontrolle ersetzen.
Der Suchtprozess
Menschen sind anfällig für Sucht, wenn sie ständig äußere Mittel suchen, um sich emotional oder körperlich zu stabilisieren. Dies weist auf eine mangelnde Selbstregulation hin – die Unfähigkeit, eine ausgeglichene innere Gefühlswelt aufrechtzuerhalten.
Selbstregulation ist keine angeborene Fähigkeit, sondern entwickelt sich durch die richtige Umgebung. Säuglinge sind vollständig von ihren Eltern abhängig, um ihre physischen und psychischen Zustände zu regulieren. Wenn diese Entwicklung gestört wird, bleibt die Fähigkeit zur Selbstberuhigung oft unvollständig – auch im Erwachsenenalter. Betroffene kompensieren dies durch Substanzen, exzessive Aufmerksamkeitssuche oder risikoreiche Aktivitäten.
Ein weiteres Merkmal ist das Fehlen von emotionaler Differenzierung – die Fähigkeit, mit anderen in Kontakt zu sein, ohne sich selbst zu verlieren. Menschen mit schwacher Differenzierung sind leicht von Emotionen überwältigt, nehmen Ängste anderer auf und erzeugen eigene Unsicherheiten. Sie sind stark von äußeren Faktoren abhängig und geraten in eine tiefe innere Leere, wenn diese wegfallen.
Die Möglichkeiten für verhaltensbezogene Süchte sind nahezu unbegrenzt. Welche Erfahrung als „erleichternd“ empfunden wird, hängt oft von der individuellen Prägung ab. Manche Menschen entwickeln emotionale Bindungen zu bestimmten Reizen – etwa Musik, weil sie als Kind oft allein gelassen wurden und Musik eine emotionale Verbindung zur Außenwelt herstellte. Sucht ist somit kein Zufall, sondern ein Ausdruck unerfüllter emotionaler Grundbedürfnisse.
Heilung durch Achtsamkeit und Selbstverantwortung
Ein zentraler Aspekt der Heilung ist laut Mate COAL – Curiosity (Neugier), Openness (Offenheit), Acceptance (Akzeptanz) und Love (Liebe). Ziel ist nicht, die Sucht zu rechtfertigen oder zu verurteilen, sondern sie zu verstehen. Rechtfertigung entbindet von Verantwortung, während Verstehen uns ermöglicht, Verantwortung zu übernehmen. Solange wir uns gegen andere oder uns selbst verteidigen, bleiben wir blind für die Realität unserer eigenen Muster.
Sucht ist kein zufälliger Zustand oder genetisches Schicksal, sondern das Produkt unserer Entwicklung in einem bestimmten Umfeld. Sie wird durch äußere und innere Faktoren aufrechterhalten – Erlebnisse, Erinnerungen, emotionale Zustände und tief verankerte Glaubenssätze. Heilung bedeutet daher nicht nur Abstinenz, sondern die Schaffung neuer Ressourcen, um echte Bedürfnisse auf gesunde Weise zu erfüllen. Dies erfordert die Entwicklung neuer Gehirnstrukturen, die adaptive Verhaltensweisen fördern.
Es gibt zwei wesentliche Wege zur Heilung:
- Äußere Veränderung – eine Umgebung schaffen, die Stress reduziert und positive Entwicklung unterstützt.
- Innere Veränderung – bewusste Achtsamkeit und eine neue Art der Selbstwahrnehmung.
Wie wir unsere Aufmerksamkeit lenken, beeinflusst direkt unser Gehirn. Selbstgesteuerte mentale Anstrengung aktiviert den präfrontalen Cortex, der für bewusste Entscheidungen und Impulskontrolle zuständig ist. Achtsames Bewusstsein bedeutet, nicht nur Gedanken, sondern auch die zugrunde liegenden Emotionen zu beobachten. Indem wir die Funktionsweise unseres Geistes verstehen, können wir alte, automatisierte Muster auflösen.
Die vorherrschenden Emotionen hinter Sucht sind Angst und Widerstand – Angst vor dem Leben, Widerstand dagegen, dass es schwierig ist. Angst vor unangenehmen Gefühlen, Wut darüber, dass sie nicht verschwinden. Die buddhistische Lehre zeigt, dass es nicht darum geht, den Geist zu verändern, sondern ihn mit Mitgefühl und Distanz zu beobachten. Wenn wir die Mechanismen unserer Gedanken bewusst erkennen, verlieren sie ihre Macht über uns.
Die Fähigkeit zur reinen Wahrnehmung ermöglicht es, sich nicht mehr von Impulsen und Emotionen mitreißen zu lassen. Sie zeigt uns, dass unser Leid nicht von vergangenen Ereignissen herrührt, sondern davon, wie wir diese Ereignisse als unsere Realität interpretieren. Der erste Schritt zur Heilung beginnt in dem Moment, in dem wir uns nicht mehr mit diesen automatischen Mustern identifizieren, sondern uns bewusst darüber werden, dass wir eine Wahl haben.
Heilung erfordert demnach eine ganzheitliche Herangehensweise. Nach Sakyong Mipham (2003) könnte Heilung genau in diesem “Einen weniger” bestehen, denn Sucht sieht er als genau als dieses “Eine mal mehr” an. “Just one more is the binding factor in the circle of suffering” (Mipham, 2003). Es braucht vier Dinge, die den Prozess erheblich erleichtern:
- Interne Veränderung: Entwicklung neuer neuronaler Schaltkreise, um alternative, gesunde Reaktionsmuster zu fördern
- Externe Veränderung: Anpassung der Umgebung, um stressreduzierende Faktoren zu verstärken
- Achtsames Bewusstsein: Schulung der Aufmerksamkeit auf die eigenen Gedanken und Emotionen
- Mitfühlendes Selbstverständnis: Annehmen und Verstehen des eigenen Suchtprozesses ohne Verurteilung
Und wie könnte dies jetzt praktisch aussehen?
Selbsthilfe und praktische Schritte zur Überwindung der Sucht
Am Anfang sprach ich ja über den Dialog mit dem Leben. Wie könnte dieser nun aussehen? Gabor Mate und Jeffrey Schwartz haben dafür fünf Schritte zur Veränderung geprägt. Ich versuche hier eine Kurzfassung dieser fünf Schritte zu geben. Eine Art Dialog mit sich und dem Leben. Diese Schritte lauten:
- Umbenennen (Relabel): Erkennen, dass süchtige Impulse keine echten Bedürfnisse sind. Benenne den süchtigen Gedanken oder Drang genau als das, was er ist. Das Gefühl, welches damit einhergeht, erscheint wie ein unmittelbares Bedürfnis, das unbedingt befriedigt werden muss. Doch durch das Umbenennen verabschieden wir uns von der Sprache der Notwendigkeit. Sage dir z.B.: "Ich muss nicht 100 Bücher kaufen, diese acht Stück Käsekuchen essen oder sofort eine neuen Rekord im Gewichtheben machen. Ich habe nur einen zwanghaften Gedanken, dass ich das brauche – es ist keine echte Notwendigkeit, sondern eine falsche Überzeugung."
Wichtig sind dabei bewusstes Gewahrsein, Absicht und Aufmerksamkeit. Ziel ist es nicht, den Drang sofort verschwinden zu lassen – das wird nicht geschehen, da er tief im Gehirn verankert ist. Jeder Versuch, ihm nachzugeben oder ihn gewaltsam zu unterdrücken, verstärkt ihn nur. - Zuschreiben (Reattribute): Verstehen, dass das Gehirn falsche Signale sendet. Erkenne: "Das ist mein Gehirn, das mir eine falsche Botschaft sendet." Damit ordnest du den umbenannten süchtigen Impuls seiner wahren Quelle zu. Er entspringt einem Dopamin- oder Endorphinmangel, weil dein Gehirn in der frühen Entwicklung nicht die optimalen Bedingungen hatte. Er steht auch für unerfüllte emotionale Bedürfnisse. Statt dich für süchtige Gedanken oder Wünsche zu verurteilen, betrachte sie mit mitfühlender Neugier. Frage dich ruhig: "Warum haben diese Impulse eine so starke Kontrolle über mich?"
- Neufokussieren (Refocus): Eine alternative, gesunde Handlung wählen. Verschaffe dir ein wenig Zeit. Entscheidend ist nicht, wie du dich fühlst, sondern was du gerade tust. Anstatt der Sucht nachzugeben, finde eine andere Beschäftigung. Das Ziel kann klein sein – vielleicht 15 Minuten oder weniger. Besonders hilfreich ist körperliche Aktivität. Wichtig ist, dass du etwas tust, das dir Freude bereitet.
Das Neufokussieren zeigt deinem Gehirn, dass es dem Drang nicht gehorchen muss. Es kann das „freie Nein“ (free won’t) ausüben. Während du die alternative Aktivität ausführst, bleibe dir bewusst, was du tust. - Neubewerten (Revalue): Die negativen Auswirkungen der Sucht bewusst machen. Mache dir klar, welche realen Folgen die Sucht in deinem Leben hat. Dein süchtiges Gehirn schreibt der Droge oder dem Verhalten einen überhöhten Wert zu (Salienz-Zuweisung). In diesem Schritt bewertest du das „falsche Gold“ neu – es ist wertlos. Erinnere dich mehrmals täglich daran, welche Kosten die Sucht für dich hatte. Sei konkret: "Was hat mir dieser Drang wirklich gebracht?" Spüre genau hin, wie du dich fühlst, wenn du an vergangene Situationen denkst oder dir vorstellst, was passiert, wenn du weitermachst. Ohne Selbstverurteilung.
Der zwanghafte Drang wird zurückkehren – das ist sicher. Doch er verliert an Kraft, wenn du diesen Prozess fortsetzt und deine innere und äußere Umgebung bewusst gestaltest. Akzeptiere, dass die Sucht existiert, aber sie definiert dich nicht. - Neugestalten (Recreate): Ein Leben mit erfüllenden, nicht süchtigen Aktivitäten aufbauen. Dieser Schritt bedeutet, ein anderes Leben zu wählen. Du hast Werte, Leidenschaften, Intentionen, Talente und Fähigkeiten – wie möchtest du wirklich leben?
Achtsames Ehren deiner Kreativität hilft dir, die innere Leere zu überwinden, die die Sucht antreibt. Nicht gelebte Kreativität ist selbst eine Form von Stress.
Überlege: "Was kann ich erschaffen? Wie kann ich meine Fähigkeiten sinnvoll nutzen?" Wenn du deinen kreativen Ausdruck findest, transformierst du die Sucht in eine echte, lebendige Erfüllung.
Neben diesen fünf Schritten gibt es noch weitere Erklärungen, welche dem Individuum helfen können, den Blickwinkel zu erweitern, um evt. daraus Energie zu schöpfen.
Weitere Erklärungen zu Suchtmechanismen
Unterscheidung zwischen Leidenschaft und Sucht: Leidenschaft ist bereichernd und selbstbestimmt, Sucht ist selbstzerstörerisch und zwanghaft. Jede Leidenschaft kann zur Sucht werden – aber wie unterscheidet man die beiden? Die zentrale Frage lautet: Wer hat die Kontrolle – die Person oder das Verhalten? Eine Leidenschaft kann bewusst gesteuert werden, während eine Sucht die Kontrolle übernimmt.
Ein süchtiges Verhalten wird trotz bekannter Schäden für sich selbst oder andere fortgesetzt. Die äußere Erscheinung ist dabei irrelevant – entscheidend ist die innere Beziehung zur Handlung. Eine einfache Frage hilft zur Selbsterkenntnis: „Angesichts des Schadens – bin ich bereit, aufzuhören?“ Falls nicht, oder falls ein Ausstieg trotz Absicht misslingt, liegt eine Sucht vor.
Tiefer als jede Sucht liegt die Verleugnung, die es unmöglich macht, sich ehrlich zu fragen, ob das Verhalten schadet. Wer wissen will, ob er süchtig ist, sollte sich fragen: „Bin ich nach dieser Handlung näher bei den Menschen, die ich liebe, oder weiter entfernt? Fühle ich mich erfüllt oder leer?“
- Leidenschaft bereichert, Sucht zerstört.
- Leidenschaft gibt Energie, Sucht entzieht sie.
- Leidenschaft ist Ausdruck des wahren Selbst, Sucht führt in die Selbstverleugnung.
In einer echten Leidenschaft gibt es Freude, Freiheit und Selbstbestätigung – unabhängig vom Erfolg. Eine Sucht hingegen ist eine endlose Spirale der Scham und Erschöpfung, die erst die eigene Energie und dann die der Mitmenschen verbraucht.
Viele Süchtige erleben einen Mangel an Demut, Dankbarkeit, Hingabe, Akzeptanz, Unterstützung und Authentizität – Werte, die für ein erfülltes Leben essenziell sind.
Der „Hungry Ghost“-Modus: Sucht als Ausdruck einer tiefen inneren Leere, die niemals vollständig gefüllt werden kann. Freiheit von Sucht bedeutet nicht nur, das süchtige Verhalten zu stoppen, sondern die innere Leere zu akzeptieren und mit neuen Wegen zu füllen. Achtsamkeit und Selbstmitgefühl helfen dabei, sich nicht länger von den eigenen Gefühlen abzuwenden, sondern sie bewusst wahrzunehmen, ohne reflexhaft darauf zu reagieren.
Fazit
Sucht, so wird bei Maté deutlich, ist nicht einfach das Ergebnis von Disziplinlosigkeit oder schlechter Entscheidungen, sondern Ausdruck eines tieferen, oft unbearbeiteten Schmerzes. Wenn wir das verstehen, ändert sich der Blick – auf andere und auf uns selbst. Vielleicht liegt genau darin ein Anfang: nicht im Kontrollieren, sondern im Verstehen. Nicht im Wegdrücken, sondern im Anerkennen. Und nicht im einfachen Etikett „Sucht“, sondern in der Frage, was darunter liegt – welches Bedürfnis, welcher Schmerz, welcher „hungrige Geist“.
Wenn wir anfangen, diesen Geist nicht zu verurteilen, sondern zu hören, kommen wir möglicherweise einem ganz anderen Begriff von Heilung näher. Einer, der nicht auf Disziplin zielt, sondern auf Verbindung. Sucht ist kein unveränderliches Schicksal, sondern ein Prozess, der durch bewusste Entscheidungen und neue Ressourcen transformiert werden kann. Heilung bedeutet nicht nur Verzicht, sondern die Rückkehr zu einem selbstbestimmten Leben. Durch Achtsamkeit, Selbstreflexion und bewusste Verhaltensänderung kann langfristige Erholung erreicht werden.
Literatur:
- Felitti, V.J. (2013). Ursprünge des Suchtverhaltens: Evidenzen aus einer Studie zu belastenden Kindheitserfahrungen. Praxis der Kinderpsychologie und Kinderpsychiatrie; 52:547-559.
- Joseph R. (1999). Environmental influences on neural plasticity, the limbic system, emotional development and attachment: a review. Child psychiatry and human development, 29(3), 189–208. https://doi.org/10.1023/a:1022660923605
- Lair, Jacqueline C. & Lechler Walther H. (1983). Von mir aus nennt es Wahnsinn. Protokoll einer Heilung. Stuttgart: Kreuz Verlag
- Maté, Gabor (2018). In the realm of hungry ghosts. Close encounters with addiction. London: Vermilion
- Mipham, Sakyong (2003). Turning the mind into an ally. New York: Riverhead Books
- Panksepp, J. (1998). Affective neuroscience: The foundations of human and animal emotions. New York: Oxford University Press
- Schore, Allen N. (1994). Affect Regulation and the Origin of the Self. Hillsdale: Lawrence Erlbaum Associates Publishers
- Schwartz, Jeffrey M. & Begley, Sharon (2002). The mind and the brain. Neuroplasticity and the power of mental force. New York: Harper Collins
- Siegel, Daniel J. (2010). The developing mind. How relationships and the brain interact to shape who we are. New York: Guildford Press
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