In meiner therapeutischen Praxis in der Klinik oder auch außerhalb erlebe ich immer wieder, wie sehr Menschen, die in Selbstmitleid gefangen sind, ihre innere Sicherheit verlieren und dadurch in einem Zustand der Hilflosigkeit verharren. Vor kurzem kam eine Klientin zu mir und erzählte mit verzweifeltem Unterton: “Mein Freund lässt sich einfach nicht helfen. Das macht mich fertig!“ Sie verbrachte die gesamte Zeit damit, von den Problemen ihres Freundes zu sprechen und zu jammern. Sie fokussierte sich so stark auf die Sorgen der anderen, dass sie keinen Raum für ihre eigenen Themen ließ. Am Ende der Sitzung, nach intensiver Arbeit, sagte sie schließlich: “Vielleicht hat das ja auch alles einen Sinn, dass mein Freund so ist.” Das war ein Moment der Erkenntnis.
Warum neigen wir dazu, uns so intensiv in die Sorgen anderer zu vertiefen und uns im Mitleid zu verlieren?
Es ist viel einfacher, die Verantwortung von uns selbst abzuwenden und über die Probleme anderer nachzudenken, als uns unseren eigenen zu stellen. Das bedeutet, in den unangenehmen Tiefen unserer eigenen Ängste und Unsicherheiten zu graben, was wir oft lieber vermeiden. In diesem Moment sind wir nicht mehr in der Lage, uns selbst zu helfen, und verlieren uns in einem Strudel der Hilflosigkeit. In diesem Moment sind wir uns nicht der Notwendigkeit bewusst, sich von den Problemen anderer abzugrenzen, um Raum für die eigenen Themen zu schaffen. Besonders schmerzhaft wird es, wenn wir sehen, dass sich der andere nicht helfen lassen will. Das Gefühl der Ohnmacht verstärkt sich, und unser Mitleid wird zu einer Last.
Mangelndes Selbstmitgefühl
Das Problem, das viele Menschen mit mangelndem Selbstmitgefühl haben, ist, dass sie sich im Selbstmitleid verlieren, ohne einen klaren Blick auf die Lösung zu entwickeln. Diese Selbstabsorption führt zu einem tiefen Gefühl der Unsicherheit und Hilflosigkeit. Sie stecken fest und sind unfähig, sich selbst zu helfen. Wahre Hilfe kann nur dann entstehen, wenn wir uns selbst nicht in der Opferrolle sehen, sondern aktiv nach Wegen suchen, unsere Situation zu verbessern. Selbstmitleid führt zu keiner Veränderung, es verstärkt nur das Gefühl der Ohnmacht. Der Unterschied zwischen Selbstmitleid und Mitgefühl erfordert eine differenzierte Selbst- und Fremdwahrnehmung. Das wäre der Beginn.
Mitleid ist keine Lösung
Mitleid führt zu einem intensiven emotionalen Austausch, in dem wir die Last des anderen zu unserer eigenen machen. Wir identifizieren uns mit dem Leid des anderen, fühlen mit und vergessen dabei, dass wir unsere eigene Verantwortung nicht abgeben können. Wir verkörpern regelrecht den inneren Zustand des Gegenübers und er geht uns in Fleisch und Blut über. Der Unterschied zu Mitgefühl ist entscheidend. Während Mitleid uns in einen Zustand der Ohnmacht versetzt, lässt uns Mitgefühl aus einer gesunden Distanz heraus agieren, ohne uns von der Tragödie des anderen zu verschlingen. Mitgefühl gibt uns die Fähigkeit, zu handeln, ohne uns von den Emotionen des anderen überwältigen zu lassen.
Mangel statt Fülle
Es ist genau dieser Punkt, der das Fehlen von Selbstmitgefühl in einem Zustand der Unsicherheit und des Mangelgefühls verankert. Menschen, die in Selbstmitleid gefangen sind, haben oft das Gefühl, dass sie nichts tun können, um ihr Leben zu verändern. Das Selbstmitleid verstärkt das Gefühl der Machtlosigkeit und hindert sie daran, die nötige Sicherheit zu finden, die sie brauchen, um ihre eigenen Probleme anzugehen. Sie bleiben in einem Kreislauf der Verzweiflung, anstatt sich die Möglichkeit zu geben, die Kontrolle über ihr Leben zurückzugewinnen. Hier hilft es sehr, die Perspektive zu wechseln. Ein Brillenwechsel sozusagen. Eine andere Wahrnehmung schafft den Unterschied, der den Unterschied macht.
Der Unterschied, der den Unterschied macht
Selbstmitgefühl, im Gegensatz zu Selbstmitleid, ist der Schlüssel, um aus diesem Kreislauf der Unsicherheit und Hilflosigkeit herauszukommen. Es geht darum, sich selbst mit Verständnis und Akzeptanz zu begegnen, ohne sich in einem Meer der Trauer zu verlieren. Wer Mitgefühl für sich selbst entwickelt, erkennt die eigenen Bedürfnisse an und schafft so einen Raum für Veränderung und Heilung. Erst wenn wir diesen Raum für uns selbst schaffen, können wir mit echtem Mitgefühl auf die Probleme anderer eingehen, ohne uns von deren Last erdrücken zu lassen.
Daher lege ich Dir ans Herz. Mögest du achtsam mit DIR sein, dir deiner selbst bewusst und den notwendigen Schritt zu vollziehen, zwischen deinen inneren Zuständen und den deines Gegenübers zu unterscheiden. Zwischen euch ist eine Grenze, keine Mauer aus Granit, sondern eine Grenze. Diese Grenze kann und darf bestehen bleiben, um mit Stress umzugehen. Sie darf allerdings auch weichen, um Nähe und Verbundenheit zuzulassen. Ich wiederhole mich noch einmal. Mögest du achtsam mit DIR sein.
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