In einer Welt, die sich zunehmend von religiösen und traditionellen Bindungen gelöst hat, droht der Mensch seine Beziehung zu den Dingen zu verlieren. Was einst mit liebevoller Aufmerksamkeit gepflegt wurde, erscheint heute oft beliebig, überflüssig oder langweilig. Doch ohne bewusste Verbindung zu den Dingen fehlt dem Leben ein tragendes Fundament von Sinn und Vertrautheit. In diesem Text möchte ich dem feinen, aber folgenreichen Zusammenhang zwischen ideellen Vorstellungen, materiellen Dingen und der Frage nach einem sinnhaften Leben nachgehen.
Der Verlust traditioneller Sinnquellen
In vormodernen Zeiten waren Menschen eingebettet in religiöse Weltbilder, soziale Rollen und natürliche Zyklen. Dinge hatten in diesem Zusammenhang eine tiefere Bedeutung: Ein Kleid war Ausdruck der sozialen Zugehörigkeit, ein Schmuckstück Symbol familiärer oder spiritueller Bindung. Sie waren mehr als Besitz – sie waren Träger von Sinn.
Die gesellschaftliche Emanzipation hat viele dieser Einbettungen gelöst. Heutzutage ist jeder Gegenstand prinzipiell für jeden Menschen verfügbar, sofern er ihn bezahlen kann. Das mag ein Fortschritt sein – mehr Freiheit, weniger Zwang – doch es hat seinen Preis. Wenn Dinge nicht mehr in ein gemeinsames Bedeutungsgewebe eingebettet sind, verlieren sie ihren symbolischen Wert. Sie werden austauschbar, rein funktional oder ästhetisch aufgeladen, ohne innere Tiefe.
Was fehlt, ist die Beziehung. Ein tieferer Grund, warum ein bestimmter Gegenstand für mich wichtig ist. Ohne diese Beziehung werden Dinge zu Konsumobjekten – oberflächlich, flüchtig, oft leer. Und mit ihnen wird auch das Leben oberflächlicher, reizüberfluteter und, paradoxerweise, langweiliger.
Die Entfremdung von den Dingen
Dinge erhalten ihre Bedeutung erst durch Beziehung. Was wir lieben, betrachten wir mit anderen Augen – mit mehr Geduld, mehr Aufmerksamkeit, mehr Respekt. Doch in einer Welt des Überflusses und der ständigen Verfügbarkeit bleibt diese Zuwendung aus. Es ist schlicht zu viel da. Wir probieren aus, flirten kurz mit Neuem, lassen es dann wieder fallen. Es fehlt an Tiefe, an Beständigkeit, an echter Verbindung.
Diese Oberflächlichkeit überträgt sich auf das gesamte Lebensgefühl. Ohne gelebte Beziehungen zu den Dingen fehlt ein Stück Erdung. Wenn nichts mehr Bedeutung hat, dann hat auch nichts mehr Bestand. Das Gefühl von Zuhause – innerlich wie äußerlich – droht zu verschwinden. Wer sich von allem entfremdet, verliert nicht nur den Bezug zur Welt, sondern oft auch zu sich selbst.
Künstliche Sinnproduktion als Ersatz
Damit Dinge heute noch irgendeine Bedeutung bekommen, müssen sie künstlich mit Sinn aufgeladen werden – durch Design, durch Markenidentität, durch ästhetische Aufwertung. Die Werbewirtschaft übernimmt diese Aufgabe als neue Sinnproduzentin. Doch weil diese Bedeutungen oft instabil und oberflächlich bleiben, müssen ständig neue Dinge mit neuem „Sinn“ folgen. Die alten landen in Vitrinen oder auf dem Müll.
Besonders deutlich wird dieser Bedeutungsverlust bei Lebensmitteln. Der achtlose Umgang mit ihnen verweist nicht nur auf mangelnde Beziehung zu den Dingen, sondern auch auf eine gestörte Beziehung zu sich selbst. Was dem Körper zugeführt wird, verliert seine Qualität, wenn es nur noch Funktion erfüllt. Aufmerksamkeit ist Beziehung – und wo sie fehlt, fehlt auch Sinn.
Zwischen Geist und Materie
Materielle Dinge und ideelle Werte stehen in einer wechselseitigen Beziehung. Dinge bedeuten nichts ohne Idee, ohne einen übergeordneten Sinn. Gleichzeitig bleiben Ideen abstrakt, wenn sie sich nicht materialisieren. Die Vorstellung von Schönheit etwa verlangt nach Verkörperung – in Kleidung, Architektur, Kunst.
Auch Werte wie Gerechtigkeit oder Freiheit brauchen materielle Entsprechung, um erfahrbar zu werden. Die Idee der Freiheit wird etwa durch Mobilität konkret – durch ein Auto, einen freien Terminkalender oder einen Pass. Doch sobald diese materielle Wirklichkeit zur Selbstverständlichkeit wird, droht die Idee erneut zu verblassen. Es braucht immer wieder eine bewusste Hinwendung, um Dinge neu mit Bedeutung zu erfüllen.
Wenn jedoch alles jederzeit verfügbar, veränderbar und funktional wird, geht diese Tiefe verloren. Die Dinge verkommen zu leeren Hüllen, die immer neu mit Versprechungen gefüllt werden müssen. Die Idee wird körperlos, die Materie seelenlos.
Möglichkeit und Wirklichkeit: das Dilemma des Menschseins
Ideen sind unendlich. In Gedanken kann alles sein, alles werden. Aber die Wirklichkeit kennt Begrenzung. Materielle Umsetzung erfordert Entscheidung, Arbeit, Hingabe. Nicht alles, was denkbar ist, ist auch erlebbar. Hier liegt eine schmerzhafte Spannung: Zwischen dem, was sein könnte, und dem, was tatsächlich ist.
Jede Idee, die Gestalt annehmen will, muss diesen Sprung wagen – von der Möglichkeit in die Wirklichkeit. Und das bedeutet auch: Verlust. Verlust all jener Möglichkeiten, die im Moment der Entscheidung nicht realisiert werden. Doch gerade dieser bewusste Schritt ist es, der Dingen Tiefe und Leben verleiht.
Frankl beschreibt diese Spannung existenziell. Der Mensch, so sagt er, lebt in einem „Zwischenreich“ – zwischen dem, was er ist, und dem, was er sein könnte (Frankl, 1985). Sinn entsteht für ihn nicht durch das bloße Vorstellen, sondern durch die verantwortliche Umsetzung in der Realität. „Was ich bin, das werde ich durch meine Entscheidungen“, formuliert er pointiert (Frankl, 1991).
Diese Haltung verlangt Mut: sich nicht im Ideal zu verlieren, sondern die Wirklichkeit anzunehmen – mit all ihren Grenzen, Brüchen und Enttäuschungen. Nur wer sich zuwendet, wer liebt, wer Verantwortung übernimmt, kann Sinn erfahren.
Die Enttäuschung der Realisierung
Ideale glänzen. Doch sobald sie Wirklichkeit werden, verblassen sie oft. Denn im Moment ihrer Realisierung verlieren sie die Weite des Möglichen. Der Übergang vom Wunsch zur Erfüllung ist immer auch ein Verlust – ein Verlust an Fantasie, an Unendlichkeit. Was bleibt, ist das Konkrete, das Begrenzte.
Das gilt für Dinge genauso wie für Beziehungen. Ein heiß ersehnter Gegenstand verliert schnell an Reiz, wenn er einmal in Besitz ist. Doch genau hier entscheidet sich, ob Bedeutung entsteht: Nicht in der ersten Euphorie, sondern in der treuen, liebenden Zuwendung zur Wirklichkeit – trotz Enttäuschung.
Sinn entsteht, wenn wir das Unvollkommene bejahen. Wenn wir nicht länger auf das perfekte Ding, die perfekte Idee, das perfekte Leben warten – sondern das Wirkliche lieben lernen. In dieser Haltung liegt eine tiefe Freiheit: zu gestalten, zu entscheiden, zu handeln.
Frankl nennt dies „die höchste Leistung“ – Sinn trotz Unvollkommenheit zu finden (Frankl, 1982). Es ist die Kunst, aus der Fülle der Möglichkeiten jene eine auszuwählen, der man sich hingibt. Wer liebt, sieht überall sinnvolle Zusammenhänge. Wer nicht liebt, sieht nichts.
Fazit
Dinge sind mehr als Besitz. Sie sind Träger von Bedeutungen – oder sie könnten es sein, wenn wir ihnen wieder mit Achtsamkeit begegnen. In einer Welt des Überflusses und der Beliebigkeit geht diese Beziehung leicht verloren. Doch der Mensch braucht sie: für seine Erdung, seine Orientierung, seine Sinnfindung.
Sinn entsteht nicht im Konsum, nicht im ästhetischen Schein, sondern in der bewussten Zuwendung zum Wirklichen. In der Bereitschaft, sich auf das Unvollkommene einzulassen. Denn nur in der Wirklichkeit kann das Leben wirklich werden.
Literatur:
- Frankl, V. E. (1982). Logotherapie und Existenzanalyse. München: Piper.
- Frankl, V. E. (1985). Der Mensch vor der Frage nach dem Sinn. München: Piper.
- Frankl, V. E. (1991). … trotzdem Ja zum Leben sagen: Ein Psychologe erlebt das Konzentrationslager. München: Deutscher Taschenbuch Verlag.
Bilder:
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