Im Artikel Brillenwechsel beginne ich mit meinem Zitat, “wechsle die Brille und du brauchst keine Pille.” Ich verwende den Spruch, um zu zeigen, dass die Brille als Modus betrachtet werden kann, Dinge zu betrachten. Je nachdem, welche Brille ich gerade aufhabe, oder generell gesprochen, welche Brille ich dauerhaft aufhabe, umso höher liegt die Wahrscheinlichkeit, die Ergebnisse zu dieser Brille zu erhalten. Die Brille stellt für mich die Sichtweise auf die Dinge dar. Wer das so liest, denkt eventuell an Epiktet, welcher sagte, dass nicht die Dinge selbst die Menschen beunruhigen, sondern ihre Vorstellungen von den Dingen. Jetzt könnte man Wortklauberei betreiben. Ich denke, die Wörter Sichtweise bzw. Brille decken sich mit dem Wort Vorstellung von Epiktet.

Die falsche Brille

Nehmen wir ein einfaches Beispiel. Ich stehe morgens auf, es regnet, und ich denke mir, “so ein Mist, jetzt kann ich wieder nicht machen, was ich wollte”. Der Tag fängt dementsprechend an, die schlechte Laune wächst an. Neutrale Dinge die einfach so passieren werden als negativ bewertet. Dann kommen noch ein paar Interaktionen mit Menschen dazu, die man selbst als Zeitverschwendung wahrnimmt. Aus Versehen rennt man aus Unachtsamkeit beim Durchqueren zweier Räume gegen die Tür, die nicht ganz geöffnet war und denkt sich dabei innerlich, “nichts funktioniert so, wie ich es will”: Es geht weiter und die alltäglichen Probleme häufen sich an. Es entsteht eventuell immer mehr ein Bild der Bedrohung, ein Bild von einem Gefühl, die Welt wolle einen so nicht. Je mehr negative Erlebnisse sich anhäufen, desto mehr manifestiert sich vielleicht genau dieses Bild, “die Welt ist gefährlich, man kann niemanden mehr trauen, alles muss man alleine machen, etc.”. Und das alles nur aufgrund einer Sichtweise, einer Brille, die Welt so anzusehen und nicht anders. 

Zwei Sichtweisen

Diese Sichtweise auf die Dinge kann Kraft spenden oder Kraft saugen. Die Sichtweise an sich, abhängig von der Ausprägung, könnte somit als kognitive Ressource gesehen werden, wenn positiv bzw. konstruktiv betrachtet. Im obigen Beispiel zieht die Sichtweise definitiv Kraft ab und führt im schlimmsten Fall zu einer Erschöpfung, oder sogar zu einer Depression (Blascovich, 2008). Die Depression wäre dann ein Ergebnis aus zu geringen Bewältigungsstrategien, um mit der stressverursachenden Situation klarzukommen. In der Stressforschung wurden zwei mögliche unterschiedliche Wege entdeckt und untersucht (McLoughlin et al., 2024). Wenn die gewohnheitsmäßige Einschätzung von stressvollen Ereignissen als eher bedrohlich wahrgenommen wird, kann dies das Risiko eine Krankheit zu entwickeln, erhöhen. 

Die Sichtweise hat Auswirkungen

Ob jemand eine Situation als Bedrohung oder Herausforderung sieht, kann den weiteren Lebensverlauf bestimmen. In der Tag, wirklich das ganze Leben. Die Bedrohungsreaktion beruht auf einen Überlebensinstinkt und kommt eher einem Reagieren gleich. Die Herausforderungsreaktion erfolgt bewusster und könnte somit als proaktive Handlungsweise angesehen werden. Der Schlüssel zum Wechsel der Brille, weg von Bedrohung und hin zu einer Herausforderung, fängt mit dem Sehen, dem Verstehen und dem proaktiven Handeln an. Das Sehen stellt hierbei die erste Komponente dar. Das Sehen kommt einer Wahrnehmung gleich, die Welt ganz spezifisch zu betrachten. Was ist jetzt ganz spezifisch? Ich nehme dafür das Wort Gestalterhaltung. Was kennzeichnet einen Gestalter? Das siehst du in folgender Tabelle.


Beschreibung
ChancenIch suche aktiv nach Chancen. Manchmal fragen Chancen nicht, sondern sind einfach nur da. Ich nehme sie als Lernaufgabe an. Ich sehe die Welt als eine fortlaufende Chance.
Comfort ZoneDas wahre Leben befindet sich außerhalb der Comfort Zone. Hier entsteht Wachstum.
CausalityIch setze meine eigenen Ursachen, d.h. ich entscheide mich eigenverantwortlich für etwas und gegen etwas anderes.  Diese Entscheidungen drehen sich herum und erschaffen mich, d.h. was jetzt der Fall ist, habe ich irgendwann mal in der Vergangenheit entschieden. Nicht zu entscheiden ist auch eine Entscheidung, allerdings nicht meine eigene.
CreativityIch handle in meinem Handlungsspielraum. In diesem Spielraum erschaffe ich mich für mich. Mein Ziel ist dabei die Selbstverwirklichung.
CommitmentIch beschuldige nicht das Außen, sondern verpflichte mich mir selbst gegenüber.
ConstructivityIch handle konstruktiv (Gegenteil: destruktiv)
Ich handle optimistisch (Gegenteil: pessimistisch)
Ich handle für mein Selbst (Gegenteil: Ego)

Ein neuer Tag

Das ist eine ganze Menge. Das waren meine anfänglichen Gedanken beim Aufstellen dieser Liste. Jetzt heißt dies ja nicht, dass du unbedingt alles davon umsetzen musst. Ganz im Gegenteil, du musst gar nichts, du darfst, wenn du möchtest. Und falls du möchtest, wie wäre es mit kleinen Schritten in deiner Geschwindigkeit? Du könntest dir ein C von sechs C´s nehmen und versuchen, dieses C an einem Tag umzusetzen. Wenn es an einem Tag nicht klappen sollte, weil dies eventuell schon zu lange ist, mache einfach mal ein paar Stunden daraus. Nehme dir eine Situation und wende es an. Beobachte dabei, was in dir passiert, kognitiv, emotional und physiologisch. Was spricht dein Körper mit dir, wenn du diese Brille aufsetzt und danach handelst?

Diese Übung dient dazu, eine aktives, ein freudvolles, ein selbstbestimmtes Leben zu führen. Dies fällt gewiss nicht einfach so vom Himmel, sondern will über einen längeren Zeitraum erarbeitet werden. Viel Spaß damit, oder, viel Freude mit den verschiedenen Brillen!

Literatur:

  • Blascovich J. (2008). “Challenge, threat, and health,” in Handbook of Motivation Science, Eds. Shah J. Y., Gardner W. L. New York: Guildford Press; 481–493.
  • McLoughlin, E., Arnold, R., & Moore, L. J. (2024). The tendency to appraise stressful situations as more of a threat is associated with poorer health and well-being. Stress and health : journal of the International Society for the Investigation of Stress, 40(3), e3358. https://doi.org/10.1002/smi.3358

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