Vor kurzen sprach ich mit einer Klientin. Sie erzählte mir von einer Erfahrung mit TikTok. Immer wenn sie diese Videos konsumiert, denkt sie, “was ist da draußen los”. Sie fügte hinzu, dass dies die Hölle ist, aber die Hölle sind die anderen. Diese Realität wirkte auf sie befremdlich. Sie tue sich da manchmal schwer, sich abzugrenzen. Diese Realität war nicht von Verbindung, Ruhe und Liebe durchtränkt. Dennoch war sie froh. Froh darüber, zu wissen, dass dies nicht ihre Realität ist, denn die Hölle sind die anderen. Sie erkannte, dass sie in ihrem eigenen Zirkel lebt, in ihrer eigenen Welt, aber auch in ihrer eigenen Hölle. Somit relativierte sich das ganze wieder ein wenig. Was sie damit sagen wollte, war, jeder Mensch lebt in seiner eigenen Hölle, bzw. in der Anti-Hölle, denn es darf ja auch mal bunt, hell, weich und schön sein. 

Sie bezog sich auf ihren ehemaligen Partner. Damals nach der Trennung begegneten sie sich noch einige Male. Die Abstände zwischen den Begegnungen wurden immer länger. Die Aufeinandertreffen wurden seltener. Sie sehen sich nun nicht mehr. Es hat sich auseinandergelebt. Er ist nicht mehr in ihrer Realität. Sie sagt, “als hätte ich einen anderen Raum betreten”. In diesem anderen Raum, in diesem neuen Raum ist es frischer. Es passieren neue, aber auch ungewohnte Dinge. Wir kamen wieder zu dem Satz mit der Hölle. Auch diese scheint dort, in diesem neuen Raum, weniger Gewicht zu haben. 

Dieser Satz mit der Hölle stammt ursprünglich von Jean-Paul Sartre (1996), einem französischen Philosoph. Das dazugehörige Theaterstück heißt “Geschlossene Gesellschaft” und lässt sich in wenigen Sätzen erklären. Es sind genau drei Menschen, in einem abgeschlossenen Raum. In diesem Raum sind sie für immer zusammen, bis in alle Ewigkeit. Es ist der Himmel, oder besser gesagt, die Hölle. Im wahren Leben zuvor sind sie sich nie begegnet. Die Hölle ist demnach, das Leiden der einen Person aufgrund der Anwesenheit der anderen Personen. Ablenkung ist nicht möglich. Es entwickelt sich immer mehr eine zwischenmenschliche psychische Abhängigkeit voneinander. Ines, lesbisch, will unbedingt Aufmerksamkeit von Estelle, doch Estelle hat nur Augen für Garcin. Dies kommt bei Garcin nicht an, denn er interessiert sich nur für sich. Dennoch braucht Garcin Ines. Ines soll ihm bestätigen, dass er im wahren Leben zuvor kein Feigling war. Es kommt einen nie endenden Kreislauf des Leidens nahe. Jeder ist abhängig davon, wie der andere ihn sieht, gefangen im Bild, dass sich der andere von ihm macht.

Wenn also die Hölle die anderen sind, wie anfangs erwähnt bezüglich TikTok, so gäbe es eine Möglichkeit, nämlich, kein TikTok mehr zu konsumieren. Es ist wie das Verlassen eines Raumes und das Betreten eines schon bekannten Raumes. Vielleicht eröffnet sich aber auch durch das Verlassen des Raumes, ein komplett neuer Raum, welcher nun die Zeit füllt, die durch TikTok gebraucht wurde. Es könnte sein. Es muss aber nicht sein. Wenn die Klientin von ihrem ehemaligen Partner spricht, der nun nicht mehr da ist und es sich anfühlt, wie das Betreten eines neuen Raumes, so läge nahe, das wir, um uns abzugrenzen vor schwierigen Menschen, diesen Raum verlassen. Damit soll gemeint sein, sich mit bestimmten Menschen gar nicht mehr zu treffen. Dieses Spiel können wir unendlich durchspielen. Doch ist es sinnvoll, frage ich mich?

In Sartres Stück gibt es ein sehr spannendes Detail. Es gibt in diesem Zimmer unter anderem keine Fenster, um rauszusehen, aber auch keine Spiegel, um reinzusehen. Reinzusehen, oder sich selbst anzusehen. Das bringt Ines, Garcin und Estelle dazu, den anderen als Spiegel zu sehen und ihr So-Sein in den Augen des Gegenübers zu erschaffen. Gesehen zu werden, ist ein menschliches Grundbedürfnis. Gesehen fühlt sich ein Mensch dann, wenn ein Gefühl entsteht, ein Gefühl von Sicherheit und Wohlbefinden im gleichen Moment. Ich möchte hier die Philosophie von Emmanuel Levinas (1985) erwähnen, einer meiner absoluten Favoriten. Schon damals beim Abitur fand ich ihn einfach nur phänomenal.

Levinas spricht von der Ethik des Antlitzes. Damit meint er speziell die Augen, denn durch die Augen entsteht Begegnung, durch die Augen blickt man gegenseitig in die Seele, durch die Augen sind wir in Beziehung. Das Gesicht, oder Antlitz, wie Levinas es nennt, geht weit über die Mimik und Gestik hinaus. Das Antlitz handelt von der Vulnerabilität des Gegenübers und genau diese Vulnerabilität wird über die Augen vermittelt. Diese Augen schaffen zwei Dinge, die sich einander bedingen. Verantwortung und Einzigartigkeit. Durch die Augen erkennt ein Mensch die Einzigartigkeit eines anderen Menschen. Durch diese Einzigartigkeit entsteht eine ethische Verantwortung. Doch dafür braucht es das Sehen, vor allem das Ansehen. Ob wir uns jetzt ansehen oder nicht hat viel mit Sicherheit zu tun. Wenn ich sage, ein Mensch hat dieses tiefe Bedürfnis gesehen zu werden, dann füge ich hiermit hinzu, gesehen zu werden mit einem sicheren, liebevollen und verbindungstiftenden Blick des Gegenübers. 

Nach Stephen Porges (2011) spielen die Augen eine zentrale Rolle bei dem Gefühl von Sicherheit. Über die Augen findet zudem Co-Regulation statt. Der Blickkontakt, vor allem das Wie des Blickkontaktes, entscheidet darüber, ob Gefahr besteht oder ob wir in Sicherheit sind. Wenn wir uns nicht gesehen fühlen, stellt dies auch Gefahr dar. Ein weicher Blick kann schon ausreichen, um den Vagus Nerv zu aktivieren und Ruhe im autonomen Nervensystem eintreten zu lassen. Und, mit weich meine ich nicht gekünstelt oder vorgetäuscht weich, denn das autonome Nervensystem merkt den Unterschied sofort. Mit weich meine ich authentisch und weich zugleich. Alles andere würde den Sympathikus (Kampf oder Flucht) oder den dorsalen Vagus (Erstarrung) aktivieren.

Die Augen, nicht nur wichtig, um sich damit anzusehen, sondern vor allem, um sich zu sehen, in den Augen eines anderen, nach Sartres Philosophie. Anfangs schrieb ich, jeder Mensch lebt in seiner eigenen Hölle, bzw. in der Anti-Hölle, denn es darf ja auch mal bunt, hell, weich und schön sein. Diese Hölle oder die Anti-Hölle hat sehr viele Aspekte. Ein ganz wichtiger Aspekt sind die Augen. Diese Hölle zu verlassen, einen neuen Raum zu betreten, kann hilfreich sein und ist keineswegs abwegig als therapeutischer Ratschlag, denn manchmal passt es wirklich nicht. Doch nicht immer ist dies so, denn da draußen sind Menschen, Menschen wie du und ich, die sich füreinander interessieren, die sich ansehen, sich sehen und dadurch sich der Einzigartigkeit bewusst werden. Daraus kann und darf Verantwortung entstehen. Wenn das mal nicht eine liebevolle Abgrenzung ist. Eine Abgrenzung durch Kontakt, durch Verbindung. Auf die Kommunikation ohne Worte, auf die Augen.

Die Hölle hat jetzt mal Pause! Und die anderen, na ja, du entscheidest…

Literatur:

  • Levinas, Emmanuel (1985). Ethics and Infinity. Pittsburgh: Duquesne University Press
  • Porges, Stephen W. (2011). The Polyvagal Theory: Neurophysiological foundations of emotions, attachment, communication, and self-regulation. New York: W. W. Norton.
  • Sarte, Jean-Paul (1996). Geschlossene Gesellschaft. Hamburg: Rowohlt

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