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ADHS zwischen Stigmatisierung und Stärke

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Wenn von ADHS die Rede ist, dann dominiert in der öffentlichen Wahrnehmung nach wie vor ein defizitorientiertes Bild. Schnell fallen Begriffe wie unruhig, unkonzentriert, chaotisch oder schwierig. Diese Zuschreibungen prägen nicht nur die Fremdwahrnehmung, sondern auch das Selbstbild der Betroffenen. Stigmatisierung wirkt tief. Sie beeinflusst, wie Menschen sich selbst sehen, wie sie in Beziehungen auftreten, wie sie Bildung und Beruf erleben. Stigmatisierung kann zu gesellschaftlicher Ausgrenzung führen und dass nicht selten mit Schuldzuweisungen, Vorurteilen und einer einseitigen Betonung der Defizite. Menschen mit ADHS tragen dadurch eine doppelte Last – nicht nur die tatsächlichen Herausforderungen im Alltag, sondern auch die Reaktionen ihres Umfelds.

Doch gerade diese Einseitigkeit verstellt den Blick. Denn ADHS ist nicht nur eine Ansammlung von Schwierigkeiten. Es ist auch eine Konstellation von Eigenschaften, die, je nach Kontext, als Stärke, Ressource oder Quelle besonderer Erfahrungen sichtbar werden können. Kreativität, Spontaneität, Begeisterungsfähigkeit, Empathie – all das sind Aspekte, die in Studien immer wieder auftauchen. In diesem Artikel möchte ich genau diese Seite in den Vordergrund rücken. Acht wissenschaftliche Studien, die sich den positiven Aspekten von ADHS widmen, werden ich im Folgenden vorstellen. Jede von ihnen beleuchtet einen anderen Ausschnitt und macht sichtbar, wie vielfältig die Potenziale sind, die mit dieser Diagnose verbunden sein können.

Studie 1: Kreativität als Ressource

Die erste Studie untersucht die Verbindung zwischen ADHS und Kreativität. Im Mittelpunkt steht das divergente Denken, also die Fähigkeit, viele verschiedene Lösungsmöglichkeiten für ein Problem zu entwickeln. Menschen mit ADHS scheinen in dieser Hinsicht besonders stark ausgeprägt zu sein. Statt sich an vorgegebene Wege zu halten, entwickeln sie eine Vielzahl von Ideen, die teilweise ungewöhnlich, teilweise überraschend und oftmals originell sind.

Die Analyse identifiziert sechs übergeordnete positive Themen, die bei erfolgreichen Erwachsenen mit ADHS häufig hervorgehoben wurden:

  • Cognitive Dynamism (kognitive Dynamik); Sub-Themen sind u. a.: Divergent Thinking (divergentes Denken), Hyperfocus (Hyperfokus), Nonconformist (Nonkonformismus), Adventurousness (Abenteuerlust), Self-acceptance (Selbstakzeptanz), Sublimation (Sublimierung)
  • Energy (Energie); Ausgeprägte lebhafte Energie, die oft motivierend wirkt und hohe Aktivität ermöglicht.
  • Courage (Mut); Bereitschaft, Risiken einzugehen, Neues auszuprobieren.
  • Humanity (Menschlichkeit); Empathie, Warmherzigkeit, soziale Verbundenheit.
  • Resilience (Resilienz); Fähigkeit, Rückschläge zu verarbeiten und daran zu wachsen.
  • Transcendence (Transzendenz); Streben nach Sinn, größere Perspektive jenseits des eigenen Alltags.

Diese Themen zeigen klar, dass ADHS nicht nur als Schwäche, sondern auch als Quelle von Ressourcen und Potenzial gesehen werden kann. Eigenschaften wie divergentes Denken und Hyperfokus können Kreativität und tiefe Konzentration fördern. Resilienz und Mut ermöglichen es Betroffenen, trotz Herausforderungen erfolgreich zu agieren. Menschlichkeit und Transzendenz fördern starke zwischenmenschliche Bindungen und den Sinn im Tun. Die Kognitive Dynamik und Energie sorgen für Antrieb, Flexibilität und kreative Lösungsansätze. Die Autoren argumentieren, diese Eigenschaften seien Vermittler oder Kompensatoren für typische ADHS-Defizite (z. B. Konzentrationsschwierigkeiten) und unterstützten ein gelingendes und erfülltes Leben trotz Diagnose.

Interessant ist, dass sich Kreativität in verschiedenen Lebensbereichen ganz unterschiedlich äußern kann. In künstlerischen Kontexten – Musik, Malerei, Tanz – fällt oft die Spontaneität und Originalität auf. In wissenschaftlichen oder technischen Zusammenhängen wiederum äußert sie sich als die Fähigkeit, ungewöhnliche Hypothesen aufzustellen oder bestehende Modelle infrage zu stellen. Die Studie weist darauf hin, dass gerade die Bereitschaft, eingefahrene Wege zu verlassen, im Kern eine Ressource darstellt. Diese Eigenschaft kann in einem Umfeld, das auf Innovation setzt, ausgesprochen wertvoll sein. Die Studie zählt zu den ersten systematischen qualitativen Untersuchungen zu positiven Merkmalen von ADHS und richtet den Blick weg vom Defizitmodell hin zu einem ressourcenorientierten Verständnis

Ein Beispiel aus den Interviews der Studie: Eine Teilnehmerin berichtete, dass sie schon als Kind in der Schule Schwierigkeiten hatte, sich an klare Strukturen zu halten. Doch genau dieses Muster brachte sie später im Beruf dazu, neue Ansätze zu entwickeln, die bestehende Probleme aus einem ganz anderen Blickwinkel beleuchteten. Kreativität war hier kein Nebeneffekt, sondern ein direkter Ausdruck ihres ADHS.

Studie 2: eine Landkarte für Betroffene

Die Studie von Mahdi et al. (2017), „An international qualitative study of ability and disability in ADHD using the WHO-ICF framework“ hatte das Ziel, mithilfe des ICF-Frameworks (International Classification of Functioning, Disability and Health, WHO) systematisch die Fähigkeiten und Beeinträchtigungen bei ADHS zu erfassen. Dazu wurden in mehreren Ländern qualitative Interviews mit Betroffenen, Angehörigen und Fachleuten geführt. Herausgekommen ist ein umfassendes Bild von Funktionsweisen bei ADHS – sowohl in Bezug auf Schwierigkeiten als auch auf Ressourcen. 

Dabei ging es um viele verschiedene Dimensionen, zum Beispiel: Aufmerksamkeit und Impulskontrolle, emotionale Regulation, soziale Interaktionen, schulische und berufliche Leistungen. Positive Aspekte wie Kreativität, Energie, Begeisterungsfähigkeit und Hyperfokus wird in der Studie zwar am Rande erwähnt, aber er ist keineswegs der zentrale Untersuchungsgegenstand. Vielmehr geht es um ein breites Spektrum von Fähigkeiten und Beeinträchtigungen, die in das ICF-Modell eingeordnet wurden.

Die am häufigsten genannten Stärken:

  • Hohe Energie & Antrieb; Erleichtert körperliche Betätigung (z. B. Sport) und das Erreichen persönlicher Ziele (z. B. Lernen vor Prüfungen, Fristen einhalten)
  • Kreativität; Erlaubt „Out-of-the-box“-Denken und unkonventionelle Lösungsansätze 
  • Hyperfokus (gerichtete Aufmerksamkeit); Intensive Konzentration – sofern das Thema interessant ist – und damit tiefe Beschäftigung möglich
  • Agreeableness & Hilfsbereitschaft; Freundliche Persönlichkeit, Bereitschaft zur Unterstützung anderer

Die Studie beschreibt an einem Beispiel, in dem der Hyperfokus zu einem wichtigen Faktor wurde: Etwa bei einem Studenten, der im normalen Uni-Alltag kaum in der Lage war, seine Aufgaben fristgerecht zu erledigen – aber sobald er ein Forschungsthema fand, das ihn wirklich packte, verbrachte er Nächte im Labor und produzierte Ergebnisse, die weit über das Erwartbare hinausgingen. Diese Tiefe der Aufmerksamkeit kann in manchen Situationen zum entscheidenden Vorteil werden. Hyperfokus ist allerdings auch ambivalent. Er kann dazu führen, dass andere Verpflichtungen völlig aus dem Blick geraten. Doch genau in dieser Ambivalenz liegt eine Stärke: Wer die Fähigkeit erkennt, sie einsetzt und in Bahnen lenkt, kann aus ihr eine außergewöhnliche Ressource machen.

Studie 3: fünf zentrale Themen

Die dritte Studie von Schippers et al. (2022) – A qualitative and quantitative study of self-reported positive characteristics of individuals with ADHD - richtet ihren Blick auf die sozialen Dimensionen von ADHS. Häufig wird angenommen, dass Impulsivität und Ungeduld zwischenmenschliche Beziehungen erschweren. Doch gleichzeitig lässt sich eine hohe Sensibilität gegenüber anderen Menschen feststellen. Viele Betroffene berichten, dass sie feine emotionale Signale besonders schnell wahrnehmen und intensiv darauf reagieren.

Die positiven Aspekte sind hier:

  • Kreativität, Innovatives Denken, divergentes Problemlösen
  • Dynamik / Lebendigkeit, Energie, Enthusiasmus, Tatendrang 
  • Flexibilität, Anpassungsfähigkeit, Offenheit, Vielseitigkeit 
  • Sozial-affektive Fähigkeiten, Empathie, Kommunikationsstärke, Teamfähigkeit 
  • Höhere kognitive Fähigkeiten, Reflektiertes, strategisches Denken, ggf. Hyperfokus 

In den qualitativen Interviews dieser Studie kam immer wieder die Aussage auf, dass Menschen mit ADHS ihre Emotionen nicht nur intensiv wahrnehmen, sondern sie auch intensiv spiegeln. So berichtete ein Teilnehmer, er könne kaum ertragen, wenn jemand in seiner Nähe traurig sei – er fühle es körperlich mit. Diese Form der Resonanz kann in Beziehungen zu einer tiefen Bindung führen. In Berufen, in denen Empathie eine Schlüsselrolle spielt – Pflege, Beratung, Pädagogik –, zeigt sich diese Qualität besonders deutlich. Die Studie festigt außerdem die Erkenntnis, dass positive Aspekte bei ADHS häufig vorkommen und aus verschiedenen Lebensbereichen stammen. Ähnlich wie frühere Arbeiten (z. B. Sedgwick et al., Mahdi et al.) ergänzt sie ein ausgewogeneres, ressourcenorientiertes Verständnis von ADHS.

Studie 4: Spontaneität und Flexibilität

Spontaneität wird im Alltag oft als unzuverlässig bewertet. Doch die vierte Studie von Nordby et al. (2023) – Silver linings of ADHD: a thematic analysis of adults’ positive experiences with living with ADHD - zeigt, dass darin auch eine besondere Stärke liegt. Menschen mit ADHS sind in der Lage, sich sehr schnell auf veränderte Situationen einzustellen. Während andere noch an alten Strukturen festhalten, können sie improvisieren und flexibel reagieren.

Die positiven Aspekte, bzw. die zentralen Ergebnisse bündeln sich in 4 Themen:

  • Die „doppelte Wirkung“ von ADHS-Merkmalen: Klassische Kernsymptome (Energie/Hyperaktivität, Impulsivität/Spontaneität, Hyperfokus) wurden situationsabhängig als hilfreich erlebt – z. B. hohe Ausdauer bei interessanten Aufgaben, schnelles Handeln, viel Output in kurzer Zeit. Einzelne nannten sogar Unaufmerksamkeit in seltenen Kontexten als nützlich (schneller Fokuswechsel). Gleichzeitig betonten viele den „Zweischneidigkeitseffekt“: Die gleichen Merkmale können je nach Kontext stören. 
  • Der unkonventionelle Geist: Häufig genannt wurden Kreativität, Querdenken, Lösungsorientierung, Perspektivwechsel – im Alltag, in der Elternschaft und im Beruf („denken außerhalb der Norm“). Der Nutzen hängt stark von sozial-kulturellen Erwartungen ab; nicht jede Organisation belohnt unkonventionelles Denken, selbst wenn es zu guten Ergebnissen führt. 
  • Die Suche nach neuen Erfahrungen: Neugier, Abenteuerlust, Lernfreude und Mut (teils impulsiv unterstützt) förderten das Erschließen neuer Umgebungen, Tätigkeiten und Karrierewege; auch beharrliches Dranbleiben beim Erlernen neuer Fertigkeiten wurde berichtet.
  • Resilienz und persönliches Wachstum: Der Weg zur Diagnose und der Umgang mit Hürden führten bei vielen zu Selbstverständnis, Selbstakzeptanz, Mitgefühl für andere und dem Gefühl, künftige Herausforderungen besser zu bewältigen. Einige betonten, dass die Diagnose selbst entlastend wirkte („erklärender Rahmen“) und Beziehungen zu Schülerinnen/Patientinnen mit Lern-/Entwicklungsproblemen verbesserte. 

Beispiele aus der Studie verdeutlichen das: In einer Krisensituation reagierte ein Proband schneller und entschlossener als andere, fand kreative Lösungen und setzte diese sofort um. Die Autoren betonen, dass diese Art der Flexibilität gerade in Berufen mit hohem Veränderungsdruck oder in kreativen Branchen eine Stärke sein kann. Spontaneität ist hier nicht das Gegenteil von Planung, sondern eine Form von situativer Intelligenz.

Gehen wir noch einmal auf diese positiven Aspekte ein und vor allem auf das, was diese bewirken:

  • Energie & Drive ist ein Leistungsbooster in passenden Settings (Sport, körperliche Arbeit, soziale Situationen, arbeitsintensive Phasen); kann Ausdauer bei interessengetriebenen Aufgaben stärken. Der Wirkmechanismus ist eine hohe Aktivierungsbereitschaft; Es gibt allerdings auch eine Grenze, denn Kontext-/Selbststeuerung ist hier nötig. 
  • Spontaneität/Mut/Risikoappetit kann zu Erfahrungs- und Chancenreichtum führen (Networking, „einfach anfangen“); Der Wirkmechanismus hier wäre eine niedrige Vermeidungsneigung und eine ausgeprägte Handlungsorientierung; Es bedarf allerdings auch an Risikomanagement. 
  • Hyperfokus führt zu einer tiefen Konzentration bei hoher intrinsischer Motivation; ermöglicht Abschluss anspruchsvoller Projekte/Prüfungen; Es kommt zu einer starken Aufmerksamkeitsbindung an relevante Reize; Es ist aber auch selektiv & interessenabhängig. 
  • Kreativität & unkonventionelles Denken: Ideenvielfalt, Problemlösung, spielerische Elternschaft; Der Wirkmechanismus besteht in breiteren Assoziationen, Offenheit für „irrelevante“ Hinweise und Perspektivwechsel; Die Grenze  besteht in der Passung zur Kultur/Organisation. 
  • Neugier & Lernlust, d.h. ein breites Wissen, flexible Karrierepfade; Achtung, der Wirkmechanismus ist hier die dopaminerge Belohnung durch Neues; Die Grenze besteht genau bei der Gefahr der Überdehnung ohne Priorisierung. 
  • Resilienz, Selbstakzeptanz, Empathie. Das führt zu besseren Coping, geringere Selbstabwertung, stärkere Verbundenheit (z. B. in helfenden Berufen); Wirkmechanismus: Sinngebung der Biographie, Normalisierung; Die Grenzeauslotung entsteht oft erst nach belastenden Erfahrungen/Diagnose. 

Studie 5: Risikobereitschaft und Unternehmergeist

Die Studie von Boot et al. (2017) – Creativity in ADHD: Goal-Directed Motivation and Domain Specificity - untersuchte, ob ADHS mit erhöhter Kreativität verbunden ist – und wenn ja, in welchen Bereichen. Frühere Forschung hatte gemischte Befunde geliefert: Manche Studien sahen mehr Kreativität bei ADHS, andere fanden keine Unterschiede. Boot et al. wollten klären, ob die Kreativität domänenspezifisch auftritt und wie Motivation eine Rolle spielt.

Die Ergebnisse können sich auf jeden Fall sehen lassen:

  • Erhöhtes divergentes Denken: Personen mit ADHS schnitten im AUT (Alternative Uses Task, klassische Aufgabe zum divergenten Denken) signifikant besser ab. Sie hatten mehr Ideen (Flüssigkeit). Diese Ideen waren dazu noch ungewöhnlicher (Originalität). Zudem gab es breitere Kategorien (Flexibilität). In anderen Worten gab es ein stärkeres „out-of-the-box“-Denken und vielseitigere Problemlösungen.
  • Motivationsabhängige Kreativität: ADHS-Betroffene zeigten besonders hohe Kreativität, wenn sie Aufgaben interessant oder lohnend fanden. Das unterstützt das Potenzial zu hoher Leistung in intrinsisch motivierenden Kontexten. Gleichzeitig sank die Kreativität deutlich, wenn Aufgaben als langweilig erlebt wurden.
  • Domänenspezifität: Bei schriftstellerischer Kreativität (Storytelling-Task) zeigten ADHS-Teilnehmende keine Vorteile gegenüber der Kontrollgruppe. Aber: Im Alltagsfragebogen berichteten sie mehr kreative Aktivitäten in bestimmten Bereichen (z. B. künstlerische Tätigkeiten, Erfinden neuer Lösungen im Alltag). Kreativität besteht in konkreten, praxisnahen Domänen, nicht unbedingt in allen Bereichen.

Kreativität ist ein klarer positiver Aspekt von ADHS, besonders in Form von divergentem Denken. Dieser Vorteil ist kontextabhängig: Er entfaltet sich vor allem in Bereichen, die motivieren und Interesse wecken. ADHS kann also als eine Art „kreatives Potenzial“ verstanden werden, das bei richtiger Förderung (z. B. im künstlerischen, unternehmerischen oder problemlösungsorientierten Bereich) zu außergewöhnlichen Leistungen führen kann. Klinisch und gesellschaftlich ist wichtig, ADHS nicht nur über Defizite (z. B. Aufmerksamkeitsprobleme) zu definieren, sondern auch über Stärken wie Kreativität und Ideenreichtum.

Studie 6: Energie und Begeisterung

Die Autor*innen Walker et al. (2017) – In the search for integrative biomarker of resilience to psychological stress. Neuroscience & Biobehavioral Reviews, 74(Pt B), 310–320. - beschreiben die Bedeutung von biologischen und physiologischen Biomarkern, die Resilienz gegenüber psychologischem Stress objektiv abbilden könnten – im Gegensatz zu herkömmlichen, subjektiven Selbstberichten. Resilienz wird definiert als Fähigkeit, Widrigkeiten und traumatische Ereignisse zu überstehen und sich anzupassen. 

Unruhe gilt gemeinhin als Problemfeld von ADHS. Doch die sechste Studie betrachtet diese Energie von einer anderen Seite. Sie kann ansteckend wirken, inspirierend sein und andere mitreißen. ADHS und Stressanfälligkeit: Menschen mit ADHS erleben oft hohe Stressbelastung – sei es durch Alltagsanforderungen, soziale Anforderungen oder Selbstkritik – aber Stärken wie Resilienz, Anpassungsfähigkeit und Energie können auch unterstützt sein. Da diese Studie nicht direkt ADHS-Stärken untersucht, lassen sich aus dem Resilienzfokus nur übergeordnete Schlussfolgerungen ziehen:

  • Resilienz als Stärke – die Fähigkeit, trotz psychischer Belastungen stabil zu bleiben bzw. sich zu erholen, ist zentral. Für Menschen mit ADHS bedeutet das: Wege zur Resilienz sind wichtige Ressource.
  • Objektive Marker möglich machen – HRV, neuroendokrine und immunologische Messungen können Resilienz künftig objektiv bewerten und auf Interventionen rückwirken.
  • Integration mehrerer Messmethoden – Multimodale Ansätze (physiologisch, neurobiologisch, psychologisch) bieten bessere Einsichten – auch in das ADHS-spezifische Stressmanagement.

Die positiven Aspekte zeigen sich in:

  • spontaner Begeisterung für neue Themen,
  • ansteckender Motivation im Team,
  • großer Einsatzkraft in Projekten,
  • und einem Optimismus, der andere motiviert.

Energie ist nicht nur ein individuelles Merkmal, sondern wirkt auch sozial. In Gruppenprozessen kann sie zu einer Dynamik führen, die andere mitzieht. In den Beobachtungen der Studie fiel auf, dass Menschen mit ADHS häufig die Rolle von „Energiegebern“ übernahmen – sie sorgten dafür, dass Projekte nicht einschliefen, dass neue Ideen ausprobiert wurden, dass ein gewisser Enthusiasmus erhalten blieb. Diese Eigenschaft ist schwer messbar, aber sie wird von Teams als spürbar wertvoll beschrieben.

Studie 7: Unkonventionelles Denken

Die siebte Studie von Charabin et al. (2023) – “I’m Doing Okay”: Strengths and Resilience of Children With and Without ADHD - widmet sich der Frage, wie Menschen mit ADHS Probleme lösen. Das Ergebnis: Sie wählen oft ungewöhnliche Wege und verlassen eingefahrene Bahnen. Dieses unkonventionelle Denken eröffnet Chancen, die anderen verborgen bleiben.

Hier mal eine kompakte, strukturierte Übersicht der in der Studie und begleitender Forschung genannten Stärken und Ressourcen:

  • Resilienz: Fähigkeit, sich positiv an herausfordernde Situationen anzupassen – vergleichbar mit Gleichaltrigen ohne ADHS.
  • Glauben an eigene Stärken: in sozialen, familiären, persönlichen und affektiven Bereichen gleichwertig.
  • Starke Verbindung zwischen wahrgenommenen Stärken und Resilienz – insbesondere bei interpersonalen, intrapersonalen, affektiven Kompetenzen, familiärer Einbindung und schulischer Selbstwirksamkeit.
  • Kognitive und emotionale Ressourcen: verbale Fähigkeiten, logisches Denken, emotionale Intelligenz.
  • Kreative und charakterliche Qualitäten: Humor, divergentes Denken, Abenteuerlust, Durchhaltevermögen, Hyperfokus.
  • Positive Perspektive auf ADHS: Potenzialorientierte Sichtweise und Anerkennung individueller Kompetenzen.

In den Interviews der Studie wurde deutlich, dass Betroffene es oft als selbstverständlich empfinden, Fragen neu zu stellen. Sie betrachten Probleme nicht aus der Perspektive „Wie wurde es bisher gemacht?“, sondern „Welche Möglichkeiten gäbe es noch?“. Diese Haltung kann unbequem wirken, ist aber zugleich die Basis für Innovation. Vor allem in künstlerischen und wissenschaftlichen Bereichen, aber auch in Politik und Gesellschaft, können solche Perspektiven einen Unterschied machen.

Studie 8: soziale Fähigkeiten

Die Studie (Hai & Climie, 2022) verfolgt einen Stärken-basierten Ansatz und untersucht, welche positiven Persönlichkeitsfaktoren – wie Optimismus, Resilienz, Selbstkonzept und Coping-Fähigkeiten – Kinder mit ADHS in Abhängigkeit von ihren sozialen Fähigkeiten aufweisen.

Dafür wurden 64 Kinder im Alter von 8 bis 12 Jahren mit diagnostiziertem ADHS befragt. Die zentralen Ergebnisse waren:

  • Kinder mit höheren sozialen Fähigkeiten berichteten signifikant höhere Werte in folgenden Bereichen:
    - Resilienz: Sie nahmen sich selbst als widerstandsfähiger wahr.
    - Verhaltenskompetenz: Sie fühlten sich in ihrem Verhalten kompetenter.
    - Prosoziales Verhalten: Sie zeigten stärker ausgeprägte positive Einstellungen gegenüber anderen.
  • Zusätzlich wurden Trends (wenn auch statistisch nicht immer signifikant) zu höherem Optimismus, positivem Selbstkonzept, besseren Bewältigungsstrategien sowie stärkeren Peer-Verbindungen festgestellt.

Die Studie zeigt, dass der Aufbau sozialer Kompetenzen zentrale positive Ressourcen bei Kindern mit ADHS stärkt. Es schreit förmlich danach, das Gesamtbild von ADHS zu erweitern: ADHS wird nicht nur über Defizite definiert, sondern Kinder zeigen Stärken, die für ihr Wohlbefinden und ihre Entwicklung wichtig sind.

Schauen wir uns nun mal alle 8 Studien in einer Matrix an.

OberkategorieStudie 1 Sedgwick Studie 2 Mahdi Studie 3 Schippers Studie 4 Nordby Studie 5 Boot Studie 6 Walker Studie 7 CharabinStudie 8 Hai & Climie
Kreativität & kognitive Dynamik✔️✔️✔️✔️✔️◻️✔️◻️
Aufmerksamkeitsmodulation (Hyperfokus)✔️✔️◻️✔️◻️◻️✔️◻️
Energie & Drive✔️✔️✔️✔️◻️◻️◻️◻️
Spontaneität, Flexibilität & Improvisation✔️◻️✔️✔️◻️◻️◻️◻️
Mut, Risikobereitschaft & Unternehmergeist✔️◻️◻️✔️◻️◻️◻️◻️
Sozial-affektive Kompetenz✔️✔️✔️◻️◻️◻️✔️✔️
Resilienz, Selbstakzeptanz & persönliches Wachstum✔️◻️◻️✔️◻️✔️✔️✔️
Neugier & Lernfreude◻️◻️◻️✔️◻️◻️◻️◻️
Exekutive Inselstärken◻️◻️✔️◻️✔️◻️✔️✔️

Stärkenprofil

Fassen wir das Ganze doch noch einmal auf den Punkt zusammen. Die acht Studien zeigen ein facettenreiches Bild, das sich in ein Stärkenprofil verdichten lässt – klar strukturiert, aber zugleich mit genügend Raum, die Lebendigkeit dieser Eigenschaften spürbar zu machen:

  1. Kreativ-dynamisches Denken
    ADHS geht beständig mit divergentem Denken einher – Ideenfülle, breite Assoziationen, mutige Regelbrüche im konstruktiven Sinn und „Out-of-the-box“-Lösungen. Diese Kreativität zeigt sich sowohl in standardisierten Tests als auch im Alltag. Besonders stark wird sie, wenn intrinsische Motivation im Spiel ist.

  2. Aufmerksamkeitssteuerung durch Interesse (Hyperfokus)
    Statt pauschaler „Unaufmerksamkeit“ finden wir eine interessensabhängige Tiefe. Wenn ein Thema packt, entsteht ein Zustand tiefer Versenkung, der hohen Output ermöglicht. Dieses Phänomen ist doppelseitig: Es kann enorme Leistungen hervorbringen, während anderes in den Hintergrund tritt.

  3. Energie, Drive und ansteckende Begeisterung
    Lebendigkeit und hohe Aktivierungsbereitschaft werden in passenden Kontexten zum Leistungsbooster – sei es in intensiven Arbeitsphasen, in körperlicher Aktivität oder in Teamprozessen, wo Begeisterung andere mitreißen kann.

  4. Spontane Flexibilität & situative Intelligenz
    Wer mit ADHS lebt, zeigt oft eine ausgeprägte Improvisationsstärke: schnelles Reagieren, mutiges Umsteuern, Offenheit für neue Wege. In dynamischen Umwelten kann genau das zum Vorteil werden, besonders dort, wo Anpassungsfähigkeit zählt.

  5. Mut & Wagnisorientierung
    Eine Neigung, Chancen zu ergreifen und Neues auszuprobieren, prägt viele Lebenswege. Dieses „einfach anfangen“ ist Quelle für Exploration, Innovation und Unternehmertum – vorausgesetzt, Risikomanagement wird mitgedacht.

  6. Sozial-affektive Stärken
    Studien zeigen immer wieder: Empathie, Warmherzigkeit, Hilfsbereitschaft und Teamorientierung gehören zu den Ressourcen, die Menschen mit ADHS einbringen. Gerade bei Kindern stärken ausgeprägte soziale Fähigkeiten zusätzlich Resilienz, prosoziales Verhalten und Selbstkonzept.

  7. Resilienz, Selbstakzeptanz & Sinn
    Über die Lebensspanne hinweg entwickelt sich oft eine bemerkenswerte Widerstandskraft. Aus dem Umgang mit Hürden entstehen Selbstannahme und manchmal sogar Transzendenz – ein Bezug zu Sinn und Werten, der Orientierung gibt.

  8. Neugier & Lernlust
    Die Freude am Neuen – an Erfahrungen, Themen, aufregenden Impulsen – ist ein Motor. Sie trägt Lernprozesse, treibt zur Erkundung an. Produktiv wird sie, wenn Priorisierung gelingt und Räume für Regeneration bestehen.

  9. Inseln exekutiver Stärke
    Obwohl exekutive Funktionen oft herausfordernd sind, zeigen sich in interessengeleiteten Bereichen deutliche Stärken: strategisches und analytisches Denken, ein starkes Gefühl der Selbstwirksamkeit und wirkungsvolle Coping-Kompetenzen – insbesondere dann, wenn soziale und schulische Unterstützung gegeben ist.

Fazit

Wenn wir an den Anfang zurückdenken, dann stand dort das Bild von ADHS als Last: unruhig, unkonzentriert, chaotisch. Stigmatisierung hat diese Perspektive lange Zeit zementiert, indem sie Menschen auf ihre Defizite reduzierte und die gesellschaftliche Ausgrenzung damit fast schon vorprogrammierte. Doch die acht Studien, die wir hier betrachtet haben, zeigen ein ganz anderes Gesicht.

Das Stärkenprofil, das sich daraus ergibt, rückt ein facettenreiches Potenzial in den Vordergrund: Kreativität, die sich im divergenten Denken entfaltet. Aufmerksamkeitssteuerung, die in Form des Hyperfokus beeindruckende Tiefe erreichen kann. Energie und Begeisterung, die andere mitreißen. Spontane Flexibilität, die in dynamischen Situationen zur Stärke wird. Mut, der Neues wagt. Empathie und soziale Kompetenz, die Beziehungen tragen. Resilienz, die sich aus Herausforderungen formt. Neugier, die den Lernprozess befeuert. Und nicht zuletzt exekutive Inseln, die zeigen, dass selbst in Bereichen, die oft problematisch erscheinen, Stärken aufblühen können, wenn die Bedingungen stimmen.

All diese Aspekte stellen keine Verklärung dar. Sie nehmen die Schwierigkeiten von ADHS nicht weg, doch sie ergänzen sie um eine Seite, die bislang zu selten gesehen wird. Gerade darin liegt die Chance: ADHS nicht als eindimensionales Defizit zu betrachten, sondern als komplexes Muster von Herausforderungen und Stärken.

Wenn wir beginnen, dieses Muster als Ganzes zu würdigen, verändert sich auch der Blick auf die Betroffenen. Aus dem „Problemkind“ oder dem „schwierigen Erwachsenen“ wird jemand, der über besondere Ressourcen verfügt – Ressourcen, die nicht nur individuell, sondern auch gesellschaftlich von Wert sind. So schließt sich der Kreis: Was mit Stigmatisierung begann, endet mit Anerkennung. ADHS ist nicht bloß Schwäche. Es ist auch eine Form von Stärke – lebendig, widersprüchlich, menschlich.

Literatur:

  • Boot, N., Nevicka, B., & Baas, M. (2017). Creativity in ADHD: Goal-Directed Motivation and Domain Specificity. Journal of Attention Disorders, 21(10), 946–956. https://doi.org/10.1177/1087054714538650 
  • Charabin, E., Climie, E. A., Miller, C., Jelinkova, K., & Wilkins, J. (2023). “I’m Doing Okay”: Strengths and Resilience of Children With and Without ADHD. Journal of Attention Disorders, 27(9), 1009–1019. https://doi.org/10.1177/10870547231167512 (PubMed)
  • Hai, T., & Climie, E. A. (2022). Positive child personality factors in children with ADHD. Journal of Attention Disorders, 26(3), 476–486. https://doi.org/10.1177/1087054721997562 (ResearchGate, PubMed)
  • Mahdi, S., Viljoen, M., Massuti, R., Selb, M., Almodayfer, O., Karande, S., de Vries, P. J., Rohde, L., & Bölte, S. (2017). An international qualitative study of ability and disability in ADHD using the WHO-ICF framework. European Child & Adolescent Psychiatry, 26, 1219–1231. https://doi.org/10.1007/s00787-017-0983-1 (SpringerLink)
  • Nordby, E. S., Guribye, F., Nordgreen, T., & Lundervold, A. J. (2023). Silver linings of ADHD: A thematic analysis of adults’ positive experiences with living with ADHD. BMJ Open, 13, e072052. https://doi.org/10.1136/bmjopen-2023-072052
  • Schippers, L. M., Horstman, L. I., van de Velde, H., Pereira, R. R., Zinkstok, J., Mostert, J. C., Greven, C. U. & Hoogman, M. (2022). A qualitative and quantitative study of self-reported positive characteristics of individuals with ADHD. Frontiers in Psychiatry, 13, Article 922788. https://doi.org/10.3389/fpsyt.2022.922788 (ResearchGate, martinehoogman.com)
  • Sedgwick, J. A., Merwood, A., & Asherson, P. (2018). The positive aspects of attention deficit hyperactivity disorder: A qualitative investigation of successful adults with ADHD. ADHD Attention Deficit and Hyperactivity Disorders, 11, 241–253. https://doi.org/10.1007/s12402-018-0277-6 
  • Walker, F. R., Pfingst, K., Carnevali, L., Sgoifo, A., & Nalivaiko, E. (2017). In the search for integrative biomarker of resilience to psychological stress. Neuroscience & Biobehavioral Reviews, 74(Pt B), 310–320. https://doi.org/10.1016/j.neubiorev.2016.05.003 (PubMed)

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