Als ich mein Abitur nachholte, dachte ich sehr oft über Materialismus und Idealismus nach. Jung, wie wir waren, und idealistisch unterwegs, gingen wir des Öfteren der Frage auf den Grund: Haben oder Sein. Na ja, für mich damals keine neue Frage, da mir Erich Fromm zum ersten Mal während des Zivildienstes begegnete. Damals stand er in der Bibliothek des betreuten Wohnens. Haben oder Sein. Der Titel sprach mich an und lässt mich seitdem auch nicht mehr los. Das sind jetzt schon über 20 Jahre. Für mich immer noch aktuell. Was nährt uns mehr? Unser Erleben oder Dinge? Gute Frage oder?
Zwischen Idee und Wirklichkeit
Als ich meinen Artikel “Idee und Wirklichkeit – Warum Dinge mehr sind als Besitz” schrieb, ging es mir darum, die Bedeutung von Dingen als Träger von Ideen, Erinnerungen, Projektionen und Hoffnungen sichtbar zu machen. Dinge sind nie nur Dinge. Sie sind Symbol, Hoffnung, Versprechen. Doch manches bleibt da im Dämmerlicht. Wird all das, was wir besitzen, wirklich jenes Glück bringen, das wir uns erhoffen? Oder gibt es Formen von Lebenserfahrung, die uns tiefer berühren? Ich meine damit, nachhaltiger, lebendiger und menschlicher?
Die Psychologen Thomas Van Boven und Arielle K. Gilovich unternahmen mit ihrer Studie „To Do or to Have? That Is the Question“ (2003) einen mutigen Schritt: Sie fragten nicht nur philosophisch, sondern empirisch und lieferten Ergebnisse, die unsere Vorstellung davon, was uns wirklich nährt, in Frage stellen.
Ihr Befund: Erlebnisse, nicht Dinge, steigern im Schnitt unser Glück und unser Wohlbefinden nachhaltiger. Jetzt magst du vielleicht denken und sagen, aber das wissen wir doch bereits. Ich frage zurück: Wirklich? Wissen wir das wirklich? Oder ist es nur eine leere kognitive Hülse, die nicht im Körper und unserer Lebensrealität verankert ist?
Also: Erlebnisse anstatt Dingen. Das klingt wie eine Rück-Verbindung an das, was ich im anderen Artikel schrieb. Das Leben als lebendigen Fluss, nicht als Materialansammlung. Und wenn wir wollen, als Einladung, bewusster zu wählen was wir besitzen und was wir erleben.
Der lange Schatten des Materialismus – historische und psychologische Wurzeln
Die Idee, dass Glück mit Besitz verbunden sei — materieller Besitz, Erfolg, Status — ist tief verwurzelt. Doch seit Jahrhunderten melden sich Stimmen dagegen: In der Philosophie, Psychologie, Spiritualität. Von den antiken Vorstellungen von Eudaimonia, über moderne Kritik an Konsumismus, bis hin zur existenziellen Kritik am „Immer-mehr“, warnen die Autoren davor, dass Besitz schnell zur Last werden kann. Hier schließt auch Erich Fromm an (1999). Er beschreibt er zwei grundlegend verschiedene Weisen, das Leben zu orientieren: der „Haben“-Modus und der „Sein“-Modus.
Im „Haben“-Modus sehen wir die Welt, uns selbst, andere Menschen und unser Leben als Objekte, als Dinge: Dinge, die man erwerben, anhäufen, besitzen kann. Besitz gibt Sicherheit. So scheint es jedenfalls. Aber er bindet auch an sich, macht abhängig, schafft Angst vor Verlust, stählt Abhängigkeiten und Konkurrenz.
Der „Sein“-Modus aber lebt von Beziehung, von Aktivität, von innerer Regsamkeit, von kreativem und teilendem Dasein. Sein heißt: wachsen, sich entwickeln, schenken, lieben, erleben. Nicht als Flucht vor der Welt, sondern als tiefe Verbundenheit mit ihr.
Van Boven & Gilovich greifen diese Unterscheidung auf, nicht als philosophischen Anspruch, sondern als empirische Hypothese: Vielleicht macht das Erleben unser Leben reicher, nachhaltiger, lebendiger und das Besitzen eher flach, flüchtig, entäuschend.
Die Hypothese: Erlebnisse machen uns glücklicher als Besitz
Die zentrale Hypothese der Studie lautet schlicht: Investitionen in Erfahrungen, also Erlebnisse und Beziehungen, führen im Schnitt zu mehr Glück als Investitionen in materielle Güter.
Mehr noch: Diese Wirkung sollte über alle Altersgruppen, gesellschaftlichen Schichten, Einkommensniveaus und Hintergründe hinweg gelten. Zudem vermuteten die Forscher, dass allein das Erinnern an Erlebnisse, sei es auch Wochen später, unser Wohlbefinden mehr stärkt als das Erinnern an materielle Käufe. Und dass, je länger wir nach dem Kauf darauf blicken (z. B. in die Zukunft oder Vergangenheit), desto stärker die Präferenz für Erlebnisse wird, weil Erlebnisse abstrakter, symbolischer, existenzieller sind. Diese Hypothesen sind nicht nur theoretisch. Sie wollen erfahrbar machen, was in uns klingt, wenn wir ehrlich fragen: „Was macht mich wirklich reich?“
Eine große, mutige Untersuchung – Alltag, Erinnerung und Zeit
Um das zu prüfen, bedienten sich Van Boven & Gilovich eines breit angelegten Designs — Surveys, Experimente, nationale Stichproben. Zunächst baten sie Menschen, von ihrem letzten großen Kauf zu berichten — entweder ein materielles Gut oder eine Erfahrung — und zu beschreiben, wie sich das in ihrem Leben ausgewirkt hatte. Später erweiterten sie die Stichprobe auf über 1.200 Teilnehmende aus der US-Bevölkerung, um Diversität und Realitätsnähe sicherzustellen.
Doch sie gingen weiter: In einem Laborexperiment ließ man Menschen ihre Kaufgeschichten lesen und maß ihre Stimmung — mit dem verblüffenden Ergebnis, dass allein das Erinnern an eine Erfahrung die Stimmung stärker hob als das Lesen über einen materiellen Kauf. Schließlich prüften sie, wie zeitliche Distanz (Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft) unsere Präferenzen verändert — mit dem Ergebnis, dass Erlebnisse in der zeitlichen Distanz oft noch attraktiver erscheinen. Mehrere Zugänge — Alltag, Erinnerung, Zeit — und alle weisen in dieselbe Richtung: Erleben wirkt tiefer, reicher, nachhaltiger.
Was die Studie fand – und warum das wichtig ist
Über alle Settings hinweg zeigte sich ein klarer Trend:
- Wer Erfahrungen gemacht hatte, fühlte sich im Rückblick häufiger, intensiver und nachhaltiger glücklich als nach materiellen Käufen.
- In einer repräsentativen Stichprobe gaben deutlich mehr Menschen an, Erlebnisse hätten sie glücklicher gemacht als Dinge.
- Erinnerungen an Erlebnisse steigerten die Stimmung messbar, selbst Wochen später.
- Und in zeitlicher Distanz, also bei Weitblick oder Rückblick, gewinnen Erlebnisse an Wert und Bedeutung.
Mit anderen Worten: Erfahrungen wirken nicht nur kurz, sie bleiben lebendig. Sie formen Identität, nähren Erinnerung, verbinden Menschen miteinander. Besitz dagegen verblasst, gewöhnt sich ab, verliert Bedeutung. Die Autoren sehen mehrere Gründe dafür: Erlebnisse lassen sich neu interpretieren, aufwerten, mit Bedeutung füllen. Sie bleiben Teil unserer Geschichte, unserer Identität — und unserer Beziehungen. Besitz hingegen ist oft flüchtig, austauschbar, schnell ersetzt.
Vom Haben zum Sein – ein tiefes Echo von Erich Fromm
Wenn ich an Fromms Worte denke, wird der Gewinn der Studie noch größer: In „Haben oder Sein“ warnt Fromm davor, dass unsere moderne Gesellschaft sich übermäßig auf Besitz, Macht, Konsum und Kontrolle stützt und damit eine Orientierung schafft, die das Leben verkürzt, entwertet, entfremdet. Fromm plädiert stattdessen für den Modus des Seins: Für innere Aktivität, Liebe, Kreativität, Teilhabe, Wachstum, für ein Leben, das nicht aus Dingen besteht, sondern aus Beziehung, Sinn, Tiefe.
Die Ergebnisse von Van Boven & Gilovich geben diesem Plädoyer empirisches Gewicht. Sie zeigen: Der Weg zum Glück, zur Lebendigkeit, zur Erfüllung führt weniger über das Haben und mehr über das Erleben, das Sein. Vielleicht liegt darin eine Einladung für uns alle: Nicht mehr zu sammeln, sondern zu leben. Nicht Besitztümer anzuhäufen, sondern Erfahrungen zu wählen, Beziehungen zu pflegen, in Bewegung und Begegnung zu investieren.
Eine Einladung an das gelebte Leben
Wenn wir wahrnehmen, wie flüchtig Besitz sein kann und wie lebendig Erinnerung werden kann, bekommen wir eine neue Freiheit: Die Freiheit, unser Geld, unsere Zeit, unsere Energie nicht blind zu investieren, sondern mit Bewusstheit. Die Studie ist kein Konsum-Ratgeber Sie ist ein Aufruf. Ein Aufruf, Erleben zu priorisieren. Sein vor Haben. Leben vor Besitz. Vielleicht ist das der Weg, um das, was wir schon in uns tragen, unseren Körper, unser Gefühl, unsere Sehnsucht nach Verbindung, unsere Kraft zur Begegnung, wirklich zur Entfaltung zu bringen. Und vielleicht entsteht daraus etwas, das greifbarer ist als jeder Gegenstand: Ein Leben, das sich erinnert.
Literatur:
- Fromm, Erich (1999). Haben oder Sein. Die seelischen Grundlagen einer neuen Gesellschaft. Band II Gesamtausgabe. Analytische Charaktertheorie. Stuttgart: DTV
- Van Boven, L., & Gilovich, T. (2003). To do or to have? That is the question. Journal of personality and social psychology, 85(6), 1193–1202. https://doi.org/10.1037/0022-3514.85.6.1193
Bilder:
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