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Dehnen bis der Arzt kommt? Besser nicht!

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Wer kennt sie nicht? Die Steifheit der ischiokruralen Muskulatur, also der Oberschenkelrückseite. Dies kann durch gezieltes Dehnen reduziert werden. Jedenfalls wird dies überall und immer noch da draußen propagiert. Ist das wirklich so? Ich meine, wenn es funktionieren würde, müssten die Menschen da draußen ja mit Freude rumlaufen und sich mitteilen, seitdem sie jeden Tag ihre Oberschenkelrückseite dehnen, geht es ihnen so viel besser. Sie hatten nie wieder irgendwelche Verspannungen. Ist das so? Ich denke, du weißt, dass dies eine rhetorische Frage war. Also lassen wir bitte den Unsinn und dehnen uns nicht mehr zu Tode. Aber du kannst ja gerne weitermachen, wenn du davon überzeugt bist. Ich bin es nicht. Die Frage nach der Alternative stellt sich allerdings schon. Dazu jetzt gleich mehr. Vorab aber noch dies und das.

Warum sind die Muskeln auf der Oberschenkelrückseite so hartnäckig?

Da gäbe es zum einen den Mythos: „Einfach nur dehnen“. Frank Wildman (2008) erklärt in Beyond the Limits of Stretching, dass die gängige Vorstellung – „Ich muss meine Hamstrings einfach nur regelmäßig dehnen“ – ein mechanistisches Missverständnis ist. Die Muskeln sind keine Gummibänder, die sich durch Zug verlängern lassen. Entscheidend ist das neuromuskuläre Zusammenspiel, also wie das Gehirn den Muskeltonus reguliert. Die Länge eines Muskels hängt weniger von seiner physischen Dehnbarkeit als von seiner neurologisch gesteuerten „Ruhelänge“ ab.

Aber es kann auch Schwierigkeiten mit der Funktion geben, also Funktionelle Kurzschlüsse. Wenn die Hamstrings "hartnäckig" sind, liegt das oft daran, dass sie kompensatorisch festhalten, z. B. bei unsicherer Beckenstabilität oder unkoordinierter Bewegungssteuerung. Der Muskel spannt, um andere Defizite (z. B. mangelnde Bauch- oder Hüftstabilität) auszugleichen.

Es braucht einen Wechsel der Brille: Nervensystem statt Muskelfaszie. Die klassische Dehnung ist vage, weil sie das zentrale Nervensystem (ZNS) nicht neu organisiert. Die Spannung der Hamstrings ist kein rein mechanisches Problem, sondern ein Ausdruck sensorischer Selbstorganisation. Wer also seine Bewegungsmuster nicht ändert, bleibt im alten Muskeltonus stecken.

Wie die Hamstrings weicher werden – nach Feldenkrais

Es braucht zum einen Bewegungsvielfalt statt Dehnen. Wildman schlägt vor, funktionale Bewegungsexperimente zu machen, die dem Gehirn helfen, neue Bewegungsvarianten zu „verstehen“. Wenn du z. B. deine Schuhe auf fünf verschiedene Arten zubindest, muss das Nervensystem lernen, neue Koordinationsmuster zuzulassen – das wirkt tiefgreifender als jede passive Dehnung. Wer lernt, aus liegender Position mit weniger Anstrengung in den Sitz zu rollen, verändert auch die Tonusregulation der Rückseite.

Der Körper ist kein „Fleisch“, das man zieht. Feldenkrais stellt den dialogischen Bezug von Wahrnehmung und Bewegung in den Mittelpunkt. Der Muskeltonus verändert sich als Ergebnis von bewussterer, differenzierterer Bewegung – nicht durch Gewalt oder Willenskraft.

Und was zeigt die Forschung?

Die Studie The Effects of a Feldenkrais Program and Relaxation Procedures on Hamstring Length (James et al., 1998) untersuchte in einem Experiment, ob Feldenkrais die Hamstring-Länge messbar beeinflusst. Das Ergebnis war statistisch nicht signifikant – aber: Es gab einen Trend zu mehr Beweglichkeit bei den Feldenkrais-Teilnehmern, vor allem nach der Lektion „Lengthening the Hamstrings and Spine“.

Die Autoren vermuten, dass der Test (Active Knee Extension) nicht zur Feldenkrais-Praxis passte, da diese nicht einzelne Muskeln „verlängert“, sondern das Bewegungssystem als Ganzes reorganisiert. Weitere mögliche Gründe für das schwache Ergebnis könnten auch die folgenden sein. Die Interventionsdauer war zu kurz (nur 4 Sitzungen). Teilweise hatten die Probanden eine negative Haltung gegenüber Feldenkrais. Zudem gab es eine ungenügende Transferleistung vom Bewegungslernen zur Testsituation. Man könnte also schlussfolgern, dass die Methode mehr Zeit braucht, mehr funktionelle Messungen – und ein lernbereites Umfeld.

Was tun mit harten Hamstrings?

Kurz und knapp, nicht dehnen, sondern die Perspektive wechseln. Und wie? Du könntest Bewegung neu organisieren: z. B. durch Feldenkrais-„Awareness Through Movement“-Lektionen, die funktionale Integration fördern. Die findest du hier auf der Webseite unter Audio. Oder hier am Ende des Artikels. Ein sehr wichtiger Punkt bei all den, ist die Beachtung der eigenen Grenzen. Es gibt bei einer Bewegung so etwas wie, bis dahin und nicht weiter. Das wäre allerdings schon das Maximum. Davor gibt es eine Grenze. Die zu spüren ist anfangs eine Herausforderung und ich finde, diese Herausforderung ist es wert. Also, Nicht die Grenze suchen, sondern das Gehirn anregen: Je weniger du willst, desto mehr lässt der Körper los.

Es ist wichtig, die Feinmotorik und Ganzkörperkoordination einbeziehen: Spannungsmuster im Bein hängen auch mit Kiefer, Atmung, Schulter und Hüfte zusammen. Du kannst langsam, bewusst, im Liegen beginnen: Das Nervensystem reagiert auf sichere, nicht bedrohliche Bewegungen mit mehr Loslassen. Aber lass uns doch einfach etwas ausprobieren. Dafür brauchst du eine geeignete Matte für den Boden, oder einen Teppichboden, einen Yoga Gurt, bzw. ein Gürtel tut es auch. Dann viel Freude mit der Lektion.

Literatur:

  • James, M. L., Kolt, G. S., McConville, J. C., & Bate, P. J. (1998). The effects of a Feldenkrais program and relaxation procedures on hamstring length. Australian Journal of Physiotherapy, 44(1), 49–54.
  • Wildman, F. (2008). Beyond the limits of stretching. Feldenkrais Movement Institute.

Bilder: