Erling Kagge beschreibt in seinem Buch die Erfahrung extremer Einsamkeit und Kälte auf seiner Expedition zum Südpol als einen Akt des Wollens: „Man muss es wollen“, schreibt er. Technisch sei das Gehen leicht, aber die wahre Herausforderung liege in der Entscheidung, bei -50 Grad aufzustehen und mit sich im Reinen zu sein. Dies verweist auf zwei psychologisch relevante Dimensionen: das Wollen (Volition) und das Selbstverhältnis (emotionale Selbstakzeptanz), welche in der wissenschaftlichen Literatur zentral behandelt werden. Hier die Buchstelle von Kagge:
“Um zum Südpol zu gelangen, muss man einfach ein Bein vors andere setzen, und das immer wieder aufs Neue, darin besteht das ganze Geheimnis. Rein technisch ist es leicht. Sogar eine Maus kann schließlich einen Elefanten auffressen, wenn sie genügend kleine Bissen zu sich nimmt. Die Herausforderung liegt darin, es zu wollen. Die größte Herausforderung besteht darin, morgens bei minus fünfzig Grad aufzustehen. … Die zweitgrößte? Mit sich im Reinen zu sein. … Ohne Kontakt mit der Außenwelt, isoliert und allein mit mir, war ich gezwungen, die Gedanken weiterzudenken, die mir bereits im Kopf herumgingen. Und, schlimmer noch, meinen Gefühlen nachzuhängen” (Kagge, 2018, S. 25).
Das Wollen: Von der Motivation zur Handlung
Kagges Betonung des Wollens verweist auf einen Übergang von bloßen Wünschen zur entschlossenen Zielverfolgung. Dieser Prozess ist in der Motivationspsychologie durch das Rubikon-Modell beschrieben, das zwischen Motivation (Zielwahl) und Volition (Zielverfolgung) unterscheidet (Heckhausen, 2010, S. 293ff.). Damit ein Ziel in Handlung umgesetzt wird, braucht es eine positive Handlungs-Ergebnis-Erwartung sowie das Gefühl der Selbstverursachung (Heckhausen, 2010, S. 294f.). Das Wollen ist demnach kein bloßes Wünschen, sondern eine kognitiv kontrollierte Selbstverpflichtung gegenüber einem Ziel, die durch eine stabile Zielbindung und mentale Ressourcen unterstützt wird (Heckhausen, 2010, S. 300–302).
Mit sich im Reinen sein: Emotionsregulation und innere Stille
Die zweite von Kagge benannte Herausforderung ist das Alleinsein mit sich selbst – das Mit-sich-im-Reinen-sein. Barnow (2020) betont in seinem integrativen Modell der Emotionsregulation, dass psychische Gesundheit nicht primär von der Abwesenheit negativer Emotionen, sondern von der Fähigkeit abhängt, diese in Übereinstimmung mit eigenen Zielen flexibel zu regulieren (Barnow, 2020, S. 8–13). Besonders betont wird die „Emotionsregulationsflexibilität“, also die Fähigkeit, in Abhängigkeit vom Kontext geeignete Strategien zu wählen und anzuwenden (Barnow, 2020, S. 12–14). Mit sich im Reinen zu sein bedeutet demnach, eigene Emotionen (z. B. Angst, Einsamkeit, Erschöpfung) weder zu vermeiden noch unreflektiert auszuleben, sondern sie anzuerkennen und gezielt zu steuern.
Stille als Raum der Integration
Kagge beschreibt, wie das Alleinsein in der Stille ihn zwang, seine Gedanken weiterzudenken und seinen Gefühlen nachzuhängen. Diese unfreiwillige Innenschau wird im Sinne Barnows zu einem Trainingsfeld für implizite wie explizite Emotionsregulation, die über Zeit zu größerer Selbstkohärenz führen kann. Der „Kontakt zu sich selbst“ in der Stille verlangt eine hohe Selbstregulationskompetenz – er kann aber auch helfen, sie auszubilden.
Fazit
Kagges Erfahrung macht deutlich: In der Stille wird der Mensch auf sich selbst zurückgeworfen – und dies kann sowohl eine psychologische Belastung als auch ein Weg zur Selbstintegration sein. Voraussetzung dafür ist eine reife Volitionsfähigkeit sowie eine flexible und kontextsensitive Emotionsregulation. „Die größte Herausforderung besteht darin, es zu wollen“ – psychologisch betrachtet heißt das: sich bewusst auf den inneren Weg der Selbstbegegnung einzulassen.
Literatur:
- Barnow, S. (Hrsg.). (2020). Handbuch Emotionsregulation: Zwischen psychischer Gesundheit und Psychopathologie (1. Aufl.). Springer. https://doi.org/10.1007/978-3-662-60280-5
- Heckhausen, J., & Heckhausen, H. (2010). Motivation und Handeln (4. Aufl.). Springer.
- Kagge, Erling (2018). Stille. Berlin: Insel Verlag
Bilder:
- Foto von Sora Sagano auf Unsplash