Wir bewegen uns. Jeden Tag. Laufen, greifen, sitzen, drehen. Und doch kennen wir unsere Bewegungen kaum. Wir funktionieren – bis etwas stockt. Der Rücken schmerzt. Der Nacken spannt. Plötzlich ist da Widerstand, wo vorher Selbstverständlichkeit war.
Die Feldenkrais-Methode lädt uns ein, genau diesen Moment nicht zu übergehen – sondern ihn ernst zu nehmen. Nicht mit Anstrengung zu reagieren, sondern mit Neugier. Wie ein Kind, das gerade erst stehen lernt. Oder wie ein Zen-Mönch, der sich dem Augenblick hingibt – ohne Urteil, ohne Ziel. Nur mit offenem Geist.
Lernen durch Bewegung
In der Pädagogik gibt es ein Modell, das versucht, Lernprozesse im Bereich der Bewegung zu beschreiben: die psychomotorische Taxonomie von Bloom und Simpson (1966). Sie reicht von der ersten, groben Wahrnehmung über mechanisches Wiederholen bis hin zu kreativen, selbst erfundenen Bewegungen.
Auch Feldenkrais beginnt oft ganz unten in dieser Skala – mit der feinen Wahrnehmung von Schwere, Atem, Kontakt zum Boden. Mit dem, was ist. Doch wer länger praktiziert, merkt schnell: Diese Methode will mehr. Sie führt nicht nur zu mehr Koordination, sondern zu mehr Differenzierung, mehr Spüren, mehr Möglichkeit. Manche Lektionen laden uns sogar ein, Bewegungen neu zu erfinden – nicht aus Ehrgeiz, sondern aus Entdeckerfreude.
Hier überschneidet sich Feldenkrais mit der höchsten Stufe in Blooms Modell: der originellen Bewegungserfindung. Doch der Weg dorthin ist kein linearer Fortschritt, sondern ein spiralförmiges Sich-Wiederfinden, ein Verweilen, ein Loslassen.
Der Geist des Anfängers
Ich erinnere mich an meine Zeit in Seattle mit Angel Di Benedetto. Immer wieder fiel dort ein Begriff: Beginner’s Mind. Der Anfängergeist, wie ihn Shunryu Suzuki in der Zen-Tradition beschreibt – urteilsfrei, wach, leer. Für Suzuki ist dieser Zustand kein Defizit, sondern ein Geschenk. Nur wer nichts erwartet, kann wirklich erfahren.
Auch Feldenkrais kennt diese Haltung. Die Bewegungen folgen keiner Leistungskurve, keinem äußeren Ziel. Stattdessen geht es darum, etwas in sich zu erspüren, das vorher nicht bewusst war. Ein Unterschied. Eine neue Wahl. Eine minimale Veränderung, die alles neu erscheinen lässt.
Während die Taxonomie Lernfortschritte misst, lädt Feldenkrais dazu ein, das Messen selbst in Frage zu stellen. Nicht um Orientierung zu verlieren – sondern um Raum zu schaffen für etwas Tieferes: Selbstorganisation, Stille, Präsenz.
Struktur trifft Stille
Natürlich kann ein strukturiertes Modell wie das von Bloom helfen – besonders in der Gruppenarbeit, wo Klarheit wichtig ist. Doch die Feldenkrais-Methode erinnert uns daran, dass Lernen nicht immer geradlinig ist. Manchmal geschieht es genau dann, wenn wir aufhören, etwas zu wollen. Wenn wir nicht handeln, sondern horchen. Wenn wir nicht korrigieren, sondern erkunden.
Dann entsteht Raum. Und aus diesem Raum taucht etwas Neues auf. So wie Suzuki es sagt:
„Im Geist des Anfängers gibt es viele Möglichkeiten. Im Geist des Experten nur wenige.“
Feldenkrais lädt uns ein, in diesen offenen Geist zurückzukehren. Wieder und wieder. Bewegung wird zur Meditation. Lernen zum Lauschen. Und jeder Atemzug erinnert uns daran: Nichts ist wie es einst war.
Literatur:
- Simpson, E. J. (1966). The classification of educational objectives in the psychomotor domain. Washington, DC: Gryphon House.
- Suzuki, Shunryu (1983). Zen Mind, Beginnes Mind. Informal Talks on Zen Meditation and Practice. New York: Weatherhill
Bilder: