Stille! Das klingt für viele nach Rückzug, Leere oder gar Einsamkeit. Doch gerade in einer Welt voller Reize, Lärm und Informationsüberflutung kann Stille zur Quelle von Regeneration, Klarheit und tiefer Verbundenheit werden. Die aktuelle Studie “The restorative effects of silence: A scoping review”, veröffentlicht in Nature Mental Health (Kraemer et al., 2005), untermauert dies mit wissenschaftlicher Evidenz. Und sie führt uns zu einer neuen Haltung gegenüber der Stille, wie ich sie auch in meinem Artikel Nicht Flucht, sondern Einsamkeit annehmen beschreibe.
Die Studie: Was Stille mit Körper und Geist macht
Die Autoren der Studie analysierten 71 empirische Untersuchungen, die sich mit den Auswirkungen von Stille auf Menschen beschäftigen. Kraemer und Kollegen fanden heraus, dass Stille messbar gesundheitsfördernd sein kann. Ihre Wirkung geht über das bloße Fehlen von Lärm hinaus. Sie aktiviert das parasympathische Nervensystem, senkt den Cortisolspiegel, reguliert die Herzfrequenzvariabilität und kann die neuronale Plastizität fördern.
Die zentralen Benefits von Stille laut Studie:
- Stressreduktion: Bereits zwei Minuten von Stille nach auditivem Stress kann das Nervensystem beruhigen.
- Förderung kognitiver Funktionen: In stillen Umgebungen verbessert sich die Aufmerksamkeit, das Arbeitsgedächtnis und die Entscheidungsfähigkeit.
- Emotionale Regulation: Stille kann helfen, Zugang zu inneren Gefühlen zu finden und diese zu verarbeiten.
- Kreativität und Selbstwahrnehmung: In der Stille entstehen neue Perspektiven, ein vertieftes Selbstverständnis und kreative Lösungen.
- Soziale Verbundenheit: Paradoxerweise kann Stille, etwa in achtsamer Präsenz mit anderen, das Gefühl von Nähe und Empathie fördern.
Die Studie macht auch folgendes deutlich. Stille ist nicht einfach gleichzusetzen mit der Abwesenheit von Lärm, sondern ist ein aktiver Zustand innerer Präsenz, der oft durch bewusstes Innehalten oder kontemplative Praktiken erreicht wird.
Wie kann man besser in die Stille kommen?
Obwohl die Studie kein konkretes Manual liefert, lassen sich aus den analysierten Interventionen einige gemeinsame Strategien ableiten:
- Achtsamkeitsbasierte Praktiken (z. B. Meditation): Sie helfen, äußere Reize zu reduzieren und den inneren Raum zu öffnen. Nur mal so zu einer Info. Das muss ja nicht bedeuten im Lotus vor der Wand zu sitzen. Du kannst auch auf einem Baumstumpf sitzen und den Wald anschauen. Habe ich Wald gesagt???
- Aufenthalte in der Natur: Insbesondere unberührte Naturlandschaften fördern ein tiefes Gefühl von Ruhe und Weite. Ja, in Verbindung mit einem achtsamen Schauen, in der Tat. Kann ich aus eigener Erfahrung bestätigen.
- Silent Retreats oder bewusste Offline-Zeiten: Temporärer Verzicht auf Medien und soziale Interaktion kann die Wahrnehmung verfeinern. Kennst du den Benediktus Hof in der Nähe von Würzburg? Dort kann man Schweigeseminare besuchen. Kleine Empfehlung von mir.
- Routinen der Stille: Feste Zeiten am Tag, in denen keine Reize zugelassen werden, fördern die Selbstregulation. Ich gebe dir mal ein Beispiel. Seitdem ich morgens mein Handy erst nach ca. 90 - 120 Minuten einschalte, geht es mir deutlich besser. Das war subjektiv. Probiere es mal aus, wenn du magst.
Einsamkeit als Qualität – nicht als Mangel
An dieser Stelle möchte ich die Brücke kreieren zu meinen eingangs erwähnte Artikel. Ich schreibe dort: „Die Einsamkeit, wenn sie freiwillig gewählt ist, ist ein Raum der Selbstbegegnung, nicht der Flucht.“ Diese Sichtweise auf Einsamkeit als produktive, ja spirituelle Dimension der Stille ergänzt die naturwissenschaftlichen Befunde ideal. Wo die Wissenschaft physiologische Effekte beschreibt, spreche ich von seelischer Reifung und innerer Weite. Ich lade dazu ein, Stille und Einsamkeit nicht reflexhaft als Leere oder Isolation zu deuten, sondern als einen Ort, an dem das Wesentliche hörbar wird. Die Übung, in der Stille zu bleiben, ist kein Rückzug ins Nichts, sondern eine Hinwendung zum Wesentlichen. Damit ist sie radikal gegenwärtig und existenziell tief.
Warum Stille heute so wichtig ist
Unsere Gegenwart ist geprägt von einer ständigen Reizüberflutung, durch Technik, Medien, soziale Netzwerke und die ständige Erreichbarkeit. Diese Dauerpräsenz führt zu Erschöpfung, Reizbarkeit und Entfremdung. Die Stille bietet genau dafür einen Kontrapunkt. Sie wird, so legen es die Studienergebnisse nahe, zur Ressource der Zukunft und zwar für mentale Gesundheit, zwischenmenschliche Tiefe und kreative Innovationsfähigkeit.
Die Stille ist nicht der Rückzug aus dem Leben, sondern der Weg zu einem bewussteren Leben. Oder, wie im Artikel formuliert: “Die Einsamkeit ist ein Spiegel – und in ihr erscheint unser wahres Gesicht.”
Fazit: Stille als radikaler Akt der Selbstfürsorge
Eine zeitgemäßere Vision von Stille könnte eine Notwendigkeit sein. Was? Stille ist kein Luxus, sondern eine Notwendigkeit. Kein Eskapismus, sondern eine Quelle von Klarheit, Tiefe und Regeneration. In einer Welt, die immer lauter wird, kann der Weg in die Stille ein revolutionärer Akt sein und somit ein Weg zurück zu uns selbst.
Literatur:
- Kraemer, D. J., Macrae, C. N., Green, A. E., & Kelley, W. M. (2005). Musical imagery: sound of silence activates auditory cortex. Nature, 434(7030), 158. https://doi.org/10.1038/434158a
Bilder:
- Foto von Louise Pilgaard auf Unsplash

