In meiner Feldenkrais Ausbildung sprachen wir oft von Zen Geist - Anfänger Geist. Damit soll folgendes gemeint sein: sich einer Sache, einer Bewegung, einer Aktivität hingeben und zwar mit kindlicher Neugierde. Wir nennen dies Exploration. Nichts nach Schema F machen, sondern Dinge erforschen, wie es eben ein Kind tut. Diese Exploration funktioniert natürlich nur dann, wenn gewisse Dinge der Fall sind. Wann exploriert ein Kind die Welt? Wenn es sich sicher fühlt. Dann und nur dann, geht es seiner Neugierde nach. Exploration, in anderen Worten, ein In-Kontakt-Treten mit der Welt findet nur dann statt, wenn Sicherheit gefühlt vorhanden ist. Und nun kommen wir zu einer interessanten Theorie. 

Die Polyvagal-Theorie ist eine von dem Psychiater und Neurowissenschaftler Stephen W. Porges entwickelte Theorie über das vegetative Nervensystem. Diese Theorie stellt das vegetative Nervensystem mit seinen verschiedenen Anteilen dar. Es ist eine Theorie zu den Themen Bedrohung und Sicherheit, eine Theorie die ein Verständnis von den verschiedenen Zuständen des Nervensystems schafft und Informationen liefert, wie Zustände auf verschiedenen Anteilen regulierbar sind. Ich könnte es auch so sagen, sobald wir wissen und spüren, auf welchem Nervenast wir unterwegs sind und diesen noch zusätzlich regulieren können, erst dann entsteht Verbindung bzw. Exploration, wie vorher angedeutet.

Ursprung Forschung Herzratenvariabilität

Der Ursprung dieser Theorie liegt in der Forschung zur Herzratenvariabilität. Die Herzratenvariabilität macht den aktuellen Stress-Status sichtbar. Sie ist auch ein Maß für den Entspannungsgrad des Herzens und ermöglicht somit Rückschlüsse auf den Zustand des vegetativen Nervensystems. Ein normaler Wert bei Erwachsenen liegt bei 60-80 Schläge pro Minute Herzfrequenz im Ruhezustand. Eine normale HFV kann zwischen 20 und mehr als 200 Millisekunden schwanken. Dabei gilt eine hohe HRV in der Regel als Zeichen für ein gesundes und leistungsfähiges Herz. Eine niedrige HRV ist ein Zeichen für Stress: Alkoholkonsum, späte Mahlzeiten, wenige Stunden vor dem Schlafengehen intensiver Sport, dehydriert, Schlafzimmer ist zu warm etc. Die Konsequenz daraus: Unser Herz kann sich nicht mehr so gut auf neue Anforderungen einstellen, die HRV sinkt. Niedrige HRV Werte können sogar lebensgefährlich sein, da sie das Risiko erhöhen einen Herzinfarkt zu erleiden oder an einem plötzlichen Herztod zu sterben.

Ein Niedrigerer Herzvagustonus, gemessen an der Respiratorische Sinusarrhythmie, kann als Zeichen für psychische Störungen helfen. Erklärbar ist dies durch ein dysfunktionales SES (social engagement system), welches einhergeht mit auditiven Hypersensibilitäten, auditiven Verarbeitungsschwierigkeiten, Affektverflachung, Verflachung der Prosodie. Was ist ein SES?

Social Engagement System = SES

Das Social Engagement System ist ein System, welches prosoziales Verhalten ermöglicht. Hier spielt der ventrale Vagus eine entscheidende Rolle. Durch eine Gesicht-Herz Verbindung, d.h. Verbindung von ventraler Vagus (Herz) und Muskeln des Gesichts- u. des Kopfes (Ausdruck, auditiv, Vokalization) wird ein Umfeld von Sicherheit geschaffen. Diese Interaktion besteht im Senden und Suchen von Hinweisreizen, welche genau diese Sicherheit bieten. Wenn wir uns nicht sicher fühlen, sind wir ständig in einem Zustand der Evaluation und Verteidigung. Und wie vorher angedeutet, wenn wir uns nicht sicher fühlen, explorieren wir nicht, sind also nicht in Verbindung mit uns und der Welt. Wir leben somit ein Leben, in welchem Schadensbegrenzung wichtig ist, in welchem Authentizität schwerer möglich ist. Was hat das mit dem vegetativen Nervensystem zu tun?

Vegetatives Nervensystem

Das vegetative Nervensystem sagt uns nicht was wir sind, bzw. wer wir sind, sondern wie wir sind. Das vegetative Nervensystem wägt Risiken ab und erzeugt Muster von Verbindungen durch die Veränderung unseres physiologischen Zustands. Es ist sozusagen ein persönliches Überwachungssystem, oder ein Bodyguard. Das oberste Prinzip lautet: Überleben. Auch wenn etwas total dysfunktional von außen betrachtet aussehen mag, stellt dies eine adaptive Überlebensantwort dar, d.h. es geht nicht um „was ist gut und schlecht“ sondern „was stellt ein Risiko dar und was schafft Sicherheit“. Trauma kann es verhindern, mit anderen in Verbindung zu treten. Nun werden Muster von Verbindungen durch Muster von Schutz ersetzt. Die Muster gehen mit einer Überaktivierung einher. Dazu gleich mehr. Vorher kurz und knapp die Organisationsprinzipien dieser Theorie.

Organisationsprinzipien: Hierarchie, Neurozeption, Co-Regulation

Die Theorie hat mehrere Prinzipien der Organisation. Eines besteht in ihrer Hierarchie. Das vegetative Nervensystem reagiert auf Empfindungen im Körper und Signale der Umwelt durch drei Signalwege, von alt nach neu:

  1. der älteste Anteil: dorsaler Vagus
    Er reagiert mit Immobilisation, Kollaps, Hyparousal und Dissoziation aufgrund einer Lebensgefahr. Dieser Teil springt dann ein, wenn der Sympathikus nicht mehr kann, wenn ihn die Energie ausgeht.
  2. der mittlere Anteil: Sympathikus
    Er reagiert mit Mobilisation, Kampf/Flucht, Hyperarousal und Adrenalin aufgrund einer Gefahr, d.h. wenn du dich angegriffen fühlst, real oder auch nur vorgestellt, reagierst du entweder mit Kampf oder Flucht (Fight und Flight). Wenn dies dich nicht weiterbringt, fällst du eine Stufe tiefer, in den dorsalen Vagus, welcher mit Kollaps reagiert.
  3. der jüngste Anteil: ventraler Vagus
    Mit seinem Social Engagement System reagiert er mit einem Gefühl von Sicherheit und Entspannung, sofern die Situation als sicher wahrgenommen wird. Dies ist eigentlich der Zustand, der Kreativität ermöglicht, zwischenmenschliche Kontakte, Kooperation, und schließlich Frieden.

Das waren die drei Bereich mit ihrer inhärenten Hierarchie. Wer steuert nun diese Bereiche, bzw. entscheidet, wann welcher Bereich gefragt ist? Es ist die Neurozeption. Das Wort Neurozeption bedeutet so viel wie, das vegetative Nervensystem reagiert auf Hinweise (Sicherheit, Gefahr, Lebensgefahr), welche von innerhalb unseres Körpers kommen, der Umwelt und anderen Menschen. Dies passiert unterhalb unserer Wahrnehmungsschwelle. Und daraus entsteht dann der jeweilige physiologische Zustand. Den wollen wir mit der Körper- sowie der Atemarbeit wahrnehmen, akzeptieren sowie regulieren.

Das Wort Neurozeption kommt vor Perzeption (Perzeption = Wahrnehmung). Dabei gibt es ein Prinzip “Story follows State”, d.h. zuerst waren Zustände da, dann Geschichten, dann schaffen diese Geschichten wiederum Zustände. Wenn ich jetzt Zustände ändern möchte, könnte ich mir die Geschichten anschauen. Bis zu einem gewissen Grad ist dies auch sinnvoll, solange es nicht in einer kognitiven Paralyse endet, die niemanden weiterbringt.  Das wäre top-down, also durch das Denken hervorgerufen. Denken ist leider eine sehr begrenzte Möglichkeit, weiterzukommen, auch wenn wir hier im Westen das Denken so sehr feiern. Es ist und bleibt beschränkt, gerade in Stresssituationen. Ich könnte mir aber auch dem Zustand gewahr werden und regulierend auf diesen Zustand eingreifen. Das wäre bottom-up, also über die Physiologie, Bewegungen, Bewusstheitsarbeit erreichbar.

Wenn die Selbstregulation eingeschränkt ist, gäbe es da noch eine weitere Option. Ein Hoch auf die Co-Regulation. Durch reziproke Regulation fühlen wir uns sicher und bewegen uns hin zu einer bzw. mehr Verbindung zu uns und zu anderen. Durch diese Beziehungen lernen wir über die Welt bezüglich des Verhaltens von Verbindung und Sicherheit/Schutz. Ist dies in Ordnung oder nur in einer Therapie erlebbar? Es findet sich definitiv in einer Therapie, aber auch in zwischenmenschlichen Beziehungen. So reden manche Menschen miteinander, nehmen sich in den Arm, hören einander zu, zeigen Anteilnahme. All dies ist schon Co-Regulation. Wann brauchen wir Co-Regulation oder Selbstregulation? Ganz klar, wenn das Nervensystem verrückt spielt. Eigentlich will es uns nur schützen, unser Überleben. Doch manchmal sind die Bewältigungsstrategien selbst ein wenig dysfunktional. 

Was passiert denn bei einer Überaktivierung?

Sollte der Sympathikus mit einer Überaktivierung reagieren, hat dies folgende Konsequenzen: Angst, Panikattacken, Wut, Fokusprobleme, Beziehungsstress auf einer psychologischen Ebene. Herzprobleme, hoher Blutdruck, Cholesterin hoch, Schlafprobleme, Gedächtniseinschränkung, Kopfschmerz, Muskelspannung hoch, Magenprobleme, Vulnerabilität erhöht für Erkrankungen auf einer medizinischen Ebene.

Und was passiert bei einer Unteraktivierung?

Wenn der Sympathikus nicht mehr kann, wenn ihm die Energie ausgeht, fallen wir in den dorsalen Vagus. Dieser Dorsaler Vagus hat folgende Konsequenzen bei einer Überaktivierung: Dissoziation, Gedächtnisprobleme, Depression, Isolation, keine Energie auf der psychologischen Seite und Chronisches Erschöpfungssyndrom, Fibromyalgie, Magenprobleme, niedrigerer Blutdruck auf einer medizinischen Seite.

Die Worte Über- bzw. Unteraktivierung deuten darauf hin, dass es einem Normalzustand gibt, denn wir als Arbeitsfenster bezeichnen (Window of Tolerance = WoT). Solange wir im Arbeitsfenster sind, ist alles in Ordnung. Wir sind leistungsfähig, können uns dennoch regenerieren, können schlafen und Beziehungen eingehen. Sobald wir drüber oder drunter sind, wir es kritisch.

Was nun?

Zum Glück sind wir im Zeitalter der Neuroplastizität angekommen. Frühe Bindungserfahrungen prägen zwar unser vegetatives Nervensystem, aber sie legen es nicht fest. Erfahrungen können diese dysfunktionalen frühen Muster ersetzen. In der Bindungstheorie sprechen wir von korrigierenden Erfahrungen. Genau die braucht es eben, um herauszufinden und zu spüren, das wir in Ordnung sind und die Welt auch. Deb Dana (2018) hat dazu ihr Vorgehen mit den 4R´s beschrieben:

  1. Recognize: Den autonomen Zustand wahrnehmen, z.B. bin ich gerade sehr wütend aufgrund mehrerer externer Stressoren.
  2. Respect: Die adaptive Überlebensantwort respektieren/anerkennen. Ich kann natürlich auch dagegen ankämpfen, dann wäre ich im Kampf- und Fluchtmodus. Der bringt mich nicht wirklich weiter, außer ich werde real von einem Gegner bedroht und möchte mich verteidigen.
  3. Regulate: Erst wenn ich die adaptive Überlebensantwort akzeptier habe, gehe ich einen Schritt weiter, nämlich: in einen ventralen Vagus Zustand regulieren bzw. coregulieren, durch eine der vielen verschiedenen Übungen, welche aus der Polyvagal Theorie ableitbar und lernbar sind.
  4. Re-Story: Neue Geschichte kreieren. Dies ist ein ganz wichtiger Schritt. Ich erinnere an das Prinzip “story follows state”. Ich sehe, akzeptiere und reguliere einen Zustand, sehe die Geschichte dahinter und schaffe somit ein neues Narrativ für einen eventuellen leicht anderen Zustand, welcher wiederum eine Verfestigung der neuen Geschichte mit sich bringt.

Alles in allem eine tolle Theorie, welche dem Individuum ein Verständnis an die Hand gibt, die vegetativen Zustände besser zu erkennen und auch die notwendigen Übungen mitliefert, die Zustände dann besser regulieren zu können. Dies in kleinen Schritten über einen längeren Zeitraum, schafft ein Umfeld von Sicherheit, welche überhaupt erst eine Exploration, d.h. eine Erforschung der Welt ermöglicht.

Ich hoffe, ich konnte Dir ein kleinen Überblick verschaffen. Schreibe mich gerne an, sofern du Fragen dazu hast, bzw. Interesse an einem Training hast. Bist dahin, ein sicheres Leben!

Literatur:

  • Dana, Deb (2018). The Polyvagal Theory in Therapy. Engaging the rhythm of regulation. New York: W. W. Norton & Company, Inc.

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