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Warum wir das Spiel wiederentdecken müssen

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Dieser Artikel kann als ein Versuch zu einem Gegenentwurf zur Leistungsgesellschaft verstanden werden. Ich denke, “Achtung, subjektiv”, das wir heute die Kraft des Spiels vergessen haben. In der heutigen Leistungsgesellschaft stehen Arbeit („Work“) und Erholung („Rest“) hoch im Kurs. Doch die dritte essenzielle Lebensaktivität – das Spiel („Play“) – wird oft marginalisiert oder gar belächelt. Dr. Stuart L. Brown (2009), Psychiater, Neurowissenschaftler und Gründer des National Institute for Play, hält dies für einen fatalen Fehler. Seiner Forschung zufolge ist Spiel nicht nur eine Freizeitbeschäftigung, sondern ein fundamentales biologisches Bedürfnis – so wichtig wie Schlaf oder Nahrung.

Warum Play unterschätzt wird – und warum das gefährlich ist

In unserer Kultur gilt Spiel häufig als Zeitverschwendung – besonders bei Erwachsenen. Brown zeigt jedoch auf, dass Spielverzicht gravierende Folgen haben kann. Seine Studien mit Gewaltverbrechern ergaben, dass fast alle Täter eine spielarme Kindheit hatten. Ihnen fehlte es an sozialer Kompetenz, Empathie und Impulskontrolle – Fähigkeiten, die typischerweise im freien Spiel erlernt werden.

Spielmangel wirkt sich jedoch nicht nur in Extremfällen negativ aus. Auch bei durchschnittlichen Erwachsenen führt fehlendes Spiel zu Stressanfälligkeit, Starrheit im Denken, Depressionen und verminderter Kreativität. Wie Brown formuliert: „Play is training for the unexpected“ – Spiel bereitet uns auf das Unvorhersehbare im Leben vor.

Die Wissenschaft hinter dem Spiel

Brown stützt sich auf neurowissenschaftliche, psychologische und evolutionsbiologische Erkenntnisse:

  • Neurobiologie: Beim Spiel werden Areale aktiviert, die mit Freude, Lernen, sozialer Bindung und Kreativität assoziiert sind. Zudem fördert Spiel die neuronale Plastizität – das Gehirn bleibt anpassungsfähig.
  • Evolution: Spielverhalten zeigt sich bei fast allen höher entwickelten Säugetieren. Es hilft, soziale Rollen zu erlernen, Risiken einzuschätzen und kreative Lösungen zu finden.
  • Vergleich mit Schlaf: So wie Schlaf lebenswichtig ist, erfüllt auch Spiel tiefgreifende Funktionen für das emotionale, soziale und geistige Wohlbefinden.

Wie können wir das Spiel rehabilitieren? Strategien für eine spielbewusstere Gesellschaft

Spiel als Lebenshaltung verankern

Brown betont, dass Spiel nicht nur eine Aktivität ist, sondern ein „Zustand des Seins“. Dieser Zustand ist durch Freude, Spontaneität, Kreativität und das Gefühl von Zeitlosigkeit gekennzeichnet. Er fordert dazu auf, spielerische Elemente in Alltag, Beziehungen und Arbeit zu integrieren.

Spielräume schaffen – im wörtlichen und übertragenen Sinn

  • In der Schule: Pausen und kreative Freiräume fördern das Lernen nachweislich besser als ständiger Frontalunterricht.
  • In der Arbeitswelt: „Playful Workspaces“ mit Raum für spielerisches Denken fördern Innovation und Teamgeist (z. B. Google, IDEO).
  • Im öffentlichen Raum: Mehr Spielplätze, Bewegungsräume und Treffpunkte ohne Konsumzwang – auch für Erwachsene.

Spiel im Alltag kultivieren

  • Mini-Spielmomente einbauen: Ein Tanz in der Küche, ein Witz mit Kolleg:innen, ein verrückter Spaziergang – all das kann Spiel sein.
  • Alte Spielformen wiederentdecken: Gesellschaftsspiele, kreative Hobbys, Musizieren, Theaterspielen.
  • Technik spielerisch nutzen: Digitale Spiele können förderlich sein, solange sie freiwillig, sozial und nicht süchtig machend sind.

Spielbiografie reflektieren

Brown empfiehlt, die eigene Spielgeschichte zu analysieren: Was hat mir als Kind Freude gemacht? Was war mein Spielstil – kreativ, sozial, körperlich? Diese Erkenntnisse können helfen, verlorene Anteile im Erwachsenenleben wiederzubeleben.

Fazit: Vom Pflichtmenschen zum Spielwesen

Stuart Brown fordert uns auf, das Spiel nicht länger als bloßen Zeitvertreib abzutun, sondern als lebensnotwendige Ressource anzuerkennen. „When we stop playing, we stop developing“, sagt er – wenn wir nicht mehr spielen, hören wir auf, uns weiterzuentwickeln. Gerade in einer Zeit, in der viele Menschen unter Stress, Isolation und Sinnleere leiden, kann das Wiederentdecken des Spiels ein heilsamer Gegenpol sein. Es ist Zeit, das Spiel zu entstigmatisieren – und es als das zu feiern, was es ist: Ausdruck unserer Lebendigkeit, Quelle unserer Kreativität und Grundlage eines erfüllten Lebens.

Play Recovery: Dein persönlicher Weg zurück zum Spiel

  1. Erstelle deine persönliche Spiel-Biografie

    Frage dich:
    - Was habe ich als Kind am liebsten gespielt?
    - Welche Spiele haben mich so vertieft, dass ich die Zeit vergaß?
    - Mit wem habe ich gerne gespielt – allein, mit Tieren, mit Freund:innen?
    - Welche Spielarten mochte ich als Jugendlicher oder Erwachsener (z. B. Basteln, Rollenspiele, Improvisation)?

  2. Identifiziere deinen persönlichen „Spielstil“ (nach Brown)

    Beispiele für Spielstile:
    - Beweger: liebt körperliche Bewegung (Tanzen, Sport, Toben)
    - Narr: liebt Humor, Späße, Wortspiele
    - Künstler/Erfinder: liebt kreativen Ausdruck (Malen, Bauen, Musik)
    - Geschichtenerzähler: liebt Lesen, Schreiben, Fantasiewelten
    - Sammler: liebt Ordnung, Kategorisieren, Suchen & Finden
    - Wettkämpfer: liebt Herausforderungen und strategisches Spiel
    - Entdecker: liebt Neues, Reisen, Ausprobieren
    - Regisseur: organisiert gerne Spiele, Theater, Events

  3. Spiel-Mikropraktiken in den Alltag einbauen

    Beginne mit 5–15 Minuten pro Tag:

    Spieltyp und Mögliche Mikropraktiken
    Beweger --> Tanze zu einem Lied, spring Seil, spiel Ball
    Narr --> Erzähl einen Witz, imitiere eine Stimme, mach Grimassen
    Künstler --> Male blind, kritzle, bau etwas aus Alltagsmaterial
    Geschichtenerzähler --> Lies laut, schreib Mini-Geschichten, spiel mit Sprache
    Entdecker --> Geh jeden Tag einen anderen Weg, probier Neues
    Wettkämpfer --> Spiel ein Onlinespiel, löse ein Rätsel

  4. Erlaube dir Spielpausen statt „Produktivität“

    „Spiel ist keine Belohnung für harte Arbeit. Es ist ein Grundrecht des Lebendigseins.“ – Stuart Brown

    Plane bewusste Spielzeiten ein – so selbstverständlich wie Essen oder Duschen. Halte Ausschau nach Momenten, in denen Leichtigkeit entstehen darf – selbst in der Arbeit (humorvolle E-Mails, kreative Meetings, bewegte Pausen).

  5. Spiele mit anderen

    - Verabrede dich zu Brettspielen, Karaoke-Abenden oder „ernstlosem Tun“.
    - Baue kleine „Challenges“ oder gemeinsame Rituale mit Freund:innen, Partner:in oder Kindern ein.
    - Beobachte: Wann entsteht kollektives Lachen oder Verspieltheit?

  6. Spiel-Tagebuch führen (optional)

    Beantworte wöchentlich:
    - Was hat mir spielerisch Freude gemacht?
    - Was würde ich nächste Woche gerne ausprobieren?

  7. Erlaube dir Rückschritte – und bleib dran

    Spiel braucht manchmal Zeit, um sich aus der Erwachsenenstarre zu befreien.
    Beginne klein, aber regelmäßig. Akzeptiere, dass nicht jede Übung sofort „spaßig“ ist – aber mit der Zeit entsteht Flow.

Literatur:

  • Brown, S. L. (2009). Play: How it shapes the brain, opens the imagination, and invigorates the soul. New York: Avery

Bilder: