Selbststeuerung bedeutet, in Verbindung mit sich selbst zu bleiben – auch dann, wenn äußere oder innere Reize in andere Richtungen ziehen. Sie umfasst die Fähigkeit, Gedanken, Gefühle und Handlungen bewusst zu lenken, um sich dem zuzuwenden, was wirklich wichtig ist (Baumeister, Vohs & Tice, 2007). Diese Fähigkeit ist grundlegend für psychische Gesundheit, zwischenmenschliche Beziehungen und persönliche Entwicklung. Sie ist weniger ein Zeichen von Kontrolle als von bewusster Präsenz und innerer Führung – eine Art, sich selbst zu halten, auch wenn das Leben unruhig wird.
Menschen mit einer Aufmerksamkeits-Defizit-/Hyperaktivitäts-Störung (ADHS) erleben oft genau an dieser Stelle eine besondere Herausforderung. Ihre Aufmerksamkeit wird leichter von Reizen abgelenkt, Impulse sind schwerer zu zügeln, und zwischen einem guten Vorsatz und seiner Umsetzung klafft häufig eine Lücke (Barkley, 2015). Nicht mangelnder Wille, sondern eine veränderte Fähigkeit zur Selbststeuerung kennzeichnet diesen Zustand. Dadurch kann der Alltag zerrissen, unstrukturiert oder von Überforderung geprägt wirken – auch wenn tiefer darunter oft ein starker Wunsch nach Klarheit, Ruhe und Erfüllung liegt.
Hier setzt die Methode Mental Contrasting with Implementation Intentions (MCII), auch bekannt als WOOP (Wish – Outcome – Obstacle – Plan), an. Sie bietet eine einfache, aber wirksame Struktur, um den inneren Prozess der Selbststeuerung zu unterstützen (Oettingen, 2012; Gollwitzer, 1999). MCII lädt dazu ein, zunächst den eigenen Wunsch und das gewünschte Ergebnis zu erkennen, dann das Hindernis – oft ein inneres Muster, eine Emotion oder eine alltägliche Ablenkung – bewusst wahrzunehmen und schließlich einen konkreten Wenn–Dann-Plan zu formulieren, der den Übergang von Intention zu Handlung erleichtert.
Gerade für Menschen mit ADHS kann diese Methode besonders wertvoll sein. Studien zeigen, dass MCII die Fähigkeit zur Selbstregulation stärkt, insbesondere bei Kindern und Jugendlichen mit ADHS-Symptomen (Gawrilow et al., 2013). Die Methode hilft, mentale Klarheit zu schaffen, Hindernisse realistisch einzuschätzen und automatisierte Handlungsschritte zu aktivieren – eine Brücke zwischen Bewusstheit und Verhalten. Meta-analytische Befunde belegen, dass MCII in unterschiedlichen Lebensbereichen die Zielerreichung verbessert, insbesondere wenn sie aktiv, verkörpernd und wiederholt angewendet wird (Wang et al., 2021).
So verstanden, ist MCII nicht nur ein kognitives Werkzeug, sondern auch ein Weg, Selbststeuerung als verkörperte Achtsamkeit zu kultivieren – eine Bewegung zwischen innerem Wunsch, realistischem Blick und bewusstem Handeln. Es verbindet Denken, Fühlen und Tun – genau jene Ebenen, die bei ADHS häufig auseinanderfallen – wieder zu einem Ganzen.
MCII in Kürze
Selbstregulation, wie oben schon erwähnt, ist also das erfolgreiche Verfolgen von Zielen durch Planung, Erkennen von Hindernissen und Steuerung des Handelns. Selbstregulation ist somit eine zentrale Herausforderung in vielen Lebensbereichen. Dabei gibt es zwei zentrale Strategien:
- Mental Contrasting: Man stellt sich eine wünschenswerte Zukunft vor („Wish/Outcome“), denkt dann an das Hindernis in der Gegenwart, das der Verwirklichung im Wege steht. Dies hilft, realistische Einschätzungen der Machbarkeit zu entwickeln.
- Implementation Intentions (Wenn–Dann-Planung): Man formuliert konkrete Pläne, z. B. „Wenn Situation X eintritt, dann mache ich Verhalten Y“, was Handlungsauslösung erleichtert.
Die Kombination dieser beiden Strategien – MCII – gilt als insbesondere vielversprechend zur Förderung von Zielerreichung, weil sie Zukunftsorientierung (Mental Contrasting) mit konkreter Handlungsvorbereitung (Implementation Intentions) verbindet.
Warum ist MCII bzw. WOOP gerade für ADHS wertvoll?
Menschen mit ADHS erleben typischerweise Herausforderungen in Bereichen wie Impulsivität, Aufmerksamkeitssteuerung, Planung, Zielverfolgung und Selbstregulation. Beispiele: Unklare Zielsetzung, Schwierigkeiten Hindernisse vorherzusehen, Handlungspläne nicht umsetzen, Ablenkung durch sofortige Reize statt langfristige Ziele. Die MCII/WOOP-Strategie adressiert genau einige dieser Aspekte:
- Klare Zielorientierung & Visualisierung – beim Wish/Outcome-Teil wird ein positiver Wunsch oder eine Vision definiert, was helfen kann, den Fokus zu stabilisieren.
- Hinderniserkennung – das Obstacle-Element fordert auf, konkret darüber nachzudenken, was im Alltag passieren könnte, was bei ADHS-Betroffenen oft schwächer ausgeprägt ist (z. B. Unterschätzung von Ablenkungen, impulsiven Reaktionen).
- Wenn–Dann-Planung – durch den “If X, then I do Y”-Plan wird eine automatische Handlungs-Reaktion vorbereitet, die hilft, Ausführungslücken zu schließen, gerade wenn exekutive Funktionen schwächer sind (z. B. Planung, Initiierung, Aufrechterhaltung).
- Aktivierung & Energisierung – mentaler Kontrast kann den Grad der Motivation/Energiebereitschaft erhöhen.
- Alltagsanwendbarkeit – MCII/WOOP ist relativ einfach, kann selbstgesteuert eingesetzt werden und braucht keine aufwändige Infrastruktur, was im Alltag mit ADHS-Herausforderungen (z. B. wechselnde Aufmerksamkeit, geringere Frustrationstoleranz) hilfreich ist.
Wichtiger Hinweis
Zwar bezieht sich die Meta-Analyse nicht speziell auf ADHS, aber es gibt spezifische Studien, die zeigen, dass Implementation Intentions und MCII bei Kindern mit ADHS oder erhöhtem Risiko positive Effekte zeigen: z. B. Caterina Gawrilow & Gollwitzer (2013) fanden, dass „if-then“ Planungen exekutive Funktionen bei Kindern mit ADHS verbessern können.
Warum gerade für ADHS-Kontexte besonders nützlich
ADHS bedeutet nicht nur ein Aufmerksamkeits- oder Impulsivitätsproblem, sondern häufig ein Selbststeuerungsproblem: Ziele setzen ist selten das Hauptproblem, sondern Ziele umsetzen, bei Hindernissen dranbleiben. MCII spricht genau das Umsetzungs- und Hindernis-Management an.
Wenn–Dann-Pläne können automatisierte Reaktionen auslösen, die weniger exekutive Kapazität benötigen – dieser automatisierende Effekt ist günstig bei ADHS, wo selbst gewählte Handlungssteuerung schwieriger sein kann.
Die Strategie kann in kurzer Form geübt werden (eine Sitzung, ein Plan) und dann im Alltag mehrfach genutzt werden – wichtig bei ADHS, wo lange Trainingsprogramme oft durch Abbruch gefährdet sind.
Außerdem bietet MCII eine strukturierte Methode zur Reflexion (“Welches Hindernis könnte auftreten?”, “Wenn das hier … dann mache ich …”) – gerade Struktur hilft Menschen mit ADHS, die oft spontan und reaktiv handeln.
Wie können Menschen mit ADHS diese Methode täglich nutzen?
Machen wir das mal ein wenig alltagstauglich und praktisch für eine bessere Integration.
- Wunsch formulieren (Wish/Outcome)
Am Abend oder morgens: “Ich möchte … z.B. … heute meine Tanzübung gleich nach der Arbeit machen”, oder “… heute fünf Minuten Achtsamkeit vor dem Schlafen”. Formuliere das Ergebnis: “Wenn ich das mache, fühle ich mich … körperlich freier … ruhig und zentriert”. - Hindernis identifizieren (Obstacle)
Überlege: “Was könnte mich heute davon abhalten?” (z.B. Ablenkung durch Handy, Müdigkeit, spontane Einladung, “Ich vergesse es”, “Ich fühle mich nicht danach”). Schreib es kurz auf, so dass es konkret ist (“Wenn ich … dann …”). - Wenn–Dann-Plan (Implementation Intention)
Formuliere: Wenn das Hindernis eintritt, dann mache ich dies: z.B. “Wenn ich merke, dass ich gesurft habe statt zu tanzen, dann stehe ich sofort auf, atme 3 x tief und mache 5 Minuten Tanz-Warm-Up”. Wichtig ist dabei, es situiert, konkret und machbar zu formulieren. - Erinnerung & Umsetzung
Setze eine Erinnerung (Kalender, Uhr, Post-It), um die Strategie präsent zu halten. Wenn möglich, integriere es mit einem Ritual (z. B. Atmung, Körperwahrnehmung). Das trägt zur Verbindung mit dir selbst bei. - Reflexion am Tagesende
Kurze Selbstreflexion: Hat der Plan funktioniert? Wenn nicht, warum? Welches Hindernis trat tatsächlich auf? Wie könnte ich morgen anders planen? So wird der Prozess iterativ und stärkt Selbstregulation.
Zusätzliche Tipps zur Nachhaltigkeit
Wiederholung: Je öfter der Plan realisiert wird, desto automatischer wird die Handlung. MCII-Forschung betont, dass Häufigkeit wichtig ist.
Sichtbarkeit: Halte deinen Plan sichtbar (z. B. auf Post-It am Spiegel, Handy-Notiz) – das erleichtert Cue-Wahrnehmung bei ADHS.
Flexibilität: Wenn der Plan morgen nicht funktioniert hat, passe ihn an – MCII ist am besten, wenn routinierte Nutzung möglich ist.
Unterstützung: Wenn möglich, teile deinen Plan mit jemandem (Freund/in, Kolleg/in, Therapeut/in) – das kann Verbindlichkeit erhöhen (insbesondere bei ADHS, wo Selbstmotivation schwanken kann).
Belohnung: Verknüpfe das Erreichen mit einer kleinen belohnenden Handlung (“Nachdem ich meine Tanzminute gemacht habe, gönne ich mir einen Tee und 2 Minuten Dankbarkeits-Reflexion”). Das stärkt die Motivation und positive Verstärkung.
Fazit
Die Meta-Analyse zeigt, dass MCII eine valide Methode zur Förderung von Zielerreichung ist. Für Menschen mit ADHS liegen starke Gründe vor, warum diese Methode besonderen Nutzen bringen kann. Sie adressiert klassische Schwierigkeiten der Selbstregulation, Planung und Umsetzung. Im Alltag kann MCII/WOOP relativ leicht integriert werden – insbesondere wenn kurz, konkret und bewusst geplant wird.
Literatur:
- Barkley, R. A. (2015). Attention-Deficit Hyperactivity Disorder: A Handbook for Diagnosis and Treatment (4th ed.). New York: Guilford Press.
- Baumeister, R. F., Vohs, K. D., & Tice, D. M. (2007). The strength model of self-control. Current Directions in Psychological Science, 16(6), 351–355. https://doi.org/10.1111/j.1467-8721.2007.00534.x
- Gawrilow, C., Morgenroth, K., Schultz, R., Oettingen, G., & Gollwitzer, P. M. (2013). Mental contrasting with implementation intentions enhances self-regulation of goal pursuit in schoolchildren at risk for ADHD. Motivation and Emotion, 37(1), 134–145. https://doi.org/10.1007/s11031-012-9288-3
- Gollwitzer, P. M. (1999). Implementation intentions: Strong effects of simple plans. American Psychologist, 54(7), 493–503. https://doi.org/10.1037/0003-066X.54.7.493
- Oettingen, G. (2012). Future thought and behaviour change. European Review of Social Psychology, 23(1), 1–63. https://doi.org/10.1080/10463283.2011.643698
- Wang, Y., Gai, X., & colleagues. (2021). A Meta-Analysis of the Effects of Mental Contrasting With Implementation Intentions on Goal Attainment. Frontiers in Psychology, 12, 565202. https://doi.org/10.3389/fpsyg.2021.565202
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