Vertrauen ist die Grundlage jeder erfüllenden Beziehung. Doch für viele Menschen stellt sich dieser Zustand nicht selbstverständlich ein. Stattdessen erleben sie einen inneren Konflikt zwischen dem Wunsch nach Nähe (Appetenz) und der gleichzeitigen Angst vor Verletzung (Aversion). Dieses Spannungsfeld wird als Appetenz-Aversion-Konflikt bezeichnet und kann dazu führen, dass Beziehungen von Unsicherheit, Rückzug oder ambivalenten Verhaltensmustern geprägt sind.
Die Polyvagal-Theorie von Stephen Porges bietet eine tiefgehende Erklärung für diese Dynamiken. Sie beschreibt, wie unser autonomes Nervensystem auf Sicherheit oder Bedrohung reagiert und damit unsere sozialen Interaktionen beeinflusst. Durch gezielte polyvagale Übungen kann der Körper in einen Zustand versetzt werden, der Vertrauen und soziale Bindung erleichtert.
Der Appetenz-Aversion-Konflikt in Beziehungen
Der Appetenz-Aversion-Konflikt beschreibt das gleichzeitige Erleben von entgegengesetzten Impulsen: das Bedürfnis nach Nähe und Geborgenheit steht der Angst vor Zurückweisung oder Kontrollverlust gegenüber. Besonders bei Menschen mit Bindungstraumata oder negativen Beziehungserfahrungen tritt dieser Konflikt häufig auf.
Symptome dieses Konflikts können sein:
- Ambivalentes Verhalten in Beziehungen (z. B. wechselnd zwischen Nähe suchen und Distanz wahren)
- Starke Unsicherheiten im Vertrauen in den Partner
- Überreaktionen auf bestimmte Beziehungsdynamiken
- Schwierigkeiten, sich emotional zu öffnen
Die Polyvagal-Theorie als Erklärungsmodell
Die Polyvagal-Theorie beschreibt drei autonome Zustände, die unser Verhalten in Beziehungen prägen:
- Soziale Verbundenheit (Ventraler Vagus-Zustand): Ein Zustand von Sicherheit, in dem Nähe möglich ist und Vertrauen entsteht.
- Kampf- oder Fluchtmodus (Sympathisches Nervensystem): Aktivierung, um auf eine wahrgenommene Bedrohung zu reagieren.
- Erstarrung/Abschaltung (Dorsaler Vagus-Zustand): Rückzug oder emotionale Taubheit als Schutzmechanismus.
Menschen mit einem starken Appetenz-Aversion-Konflikt pendeln oft zwischen diesen Zuständen, ohne länger im sicheren Zustand der sozialen Verbundenheit verweilen zu können. Dies erschwert den Aufbau von stabilem Vertrauen in Beziehungen.
Kurt Lewins Feldtheorie: Eine ergänzende Perspektive
Kurt Lewins Feldtheorie bietet eine ergänzende Sichtweise auf den Appetenz-Aversion-Konflikt, indem sie erklärt, wie Verhalten (B) als Funktion (F) von Person (P) und Umwelt (E) verstanden werden kann: B = F(P, E). Nach Lewin entsteht Verhalten durch das Zusammenspiel innerer Bedürfnisse und der wahrgenommenen Umwelt.
Ein zentrales Konzept ist der "Lebensraum" (LSp), der die subjektiv wahrgenommene Realität einer Person beschreibt. In Beziehungen bedeutet das: Nicht die objektive Situation entscheidet darüber, ob jemand Vertrauen entwickelt, sondern die individuelle Wahrnehmung und Bewertung von Sicherheit oder Bedrohung.
Lewins Personmodell beschreibt, wie Bedürfnisse und Intentionen als Spannungsfelder agieren. Ein unerfülltes Bedürfnis (z. B. nach emotionaler Sicherheit) erzeugt einen inneren Druck, der nach Lösung verlangt. Bleibt die Lösung aus, kann die Spannung auf andere, verwandte Bedürfnisse übergehen. Das erklärt, warum Menschen oft scheinbar widersprüchliches Verhalten in Beziehungen zeigen: Sie schwanken zwischen dem Wunsch nach Nähe und der Furcht vor Verletzung, je nachdem, welche Bedürfnisspannung gerade dominiert.
Das Umweltmodell beschreibt, dass Menschen durch Anziehungs- und Abstoßungskräfte (positive oder negative Valenzen) in ihrem Verhalten beeinflusst werden. In Beziehungen bedeutet das: Ein Partner kann gleichzeitig als Quelle von Sicherheit (positive Valenz) und potenzieller Bedrohung (negative Valenz) wahrgenommen werden, was das ambivalente Verhalten vieler Betroffener erklärt.
Durch die Kombination der Polyvagal-Theorie mit Lewins Feldtheorie lässt sich der Appetenz-Aversion-Konflikt umfassender verstehen: Die physiologische Reaktion des Nervensystems (Polyvagal-Theorie) trifft auf die subjektive Wahrnehmung und Motivation (Feldtheorie), wodurch sich individuelle Beziehungsdynamiken formen.
Polyvagale Übungen zur Förderung von Vertrauen
Um die Fähigkeit zur sozialen Verbundenheit zu stärken und den Appetenz-Aversion-Konflikt zu entschärfen, können folgende Übungen hilfreich sein:
- Atemübungen: Tiefe, ruhige Atmung aktiviert den ventralen Vagus und fördert ein Gefühl von Sicherheit.
- Sanfte Berührungen: Selbstberührung (z. B. die eigene Hand aufs Herz legen) oder bewusste Umarmungen können beruhigend wirken.
- Gesichts- und Stimmübungen: Summen, Singen oder bewusst freundliche Mimik fördern die Aktivierung des sozialen Nervensystems.
- Sichere soziale Interaktionen: Kleine, positive Begegnungen im Alltag (z. B. ein freundliches Gespräch mit einer vertrauten Person) helfen, Vertrauen aufzubauen.
- Achtsame Bewegung: Yoga, Feldenkrais oder sanfte Tanzformen unterstützen die Regulierung des Nervensystems.
Fazit
Vertrauen in Beziehungen entsteht nicht allein durch bewusste Entscheidungen, sondern ist eng mit der Regulation des autonomen Nervensystems verknüpft. Der Appetenz-Aversion-Konflikt zeigt sich oft als ein Hin- und Herpendeln zwischen Nähe und Distanz. Die Polyvagal-Theorie bietet hier wertvolle Erklärungen und praktische Ansätze, um das Nervensystem auf Sicherheit und soziale Verbundenheit auszurichten. Ergänzend dazu erklärt Kurt Lewins Feldtheorie, wie Verhalten aus dem Zusammenspiel innerer Bedürfnisse und Umweltfaktoren resultiert. Mit gezielten polyvagalen Übungen kann die Fähigkeit zur tiefen und stabilen Vertrauensbildung in Beziehungen gestärkt werden.
Literatur:
- Brandstätter, Veronika; Schüler, Julia; Puca, Rosa Maria & Lozo, Ljubica (2018). Motivation und Emotion. Berlin: Springer Verlag
- Porges S. W. (2021). Polyvagal Theory: A biobehavioral journey to sociality. Comprehensive psychoneuroendocrinology, 7, 100069. https://doi.org/10.1016/j.cpnec.2021.100069
Bilder:
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