Wir alle kennen Stress. Manchmal beflügelt er uns, lässt uns Herausforderungen meistern und macht uns produktiver. Manchmal aber fühlt er sich erdrückend an, raubt uns den Schlaf und beeinträchtigt unsere Gesundheit. Seit Jahrzehnten versuchen Wissenschaftler, zwischen "gutem" (Eustress) und "schlechtem" (Distress) Stress zu unterscheiden. Doch was, wenn diese Unterscheidung gar nicht so klar ist, wie wir denken? Zwei aktuelle Studien werfen genau diese Frage auf und plädieren dafür, die Begriffe Eustress und Distress komplett zu überdenken. Denn die Reaktion auf Stress ist hochindividuell, kontextabhängig und lässt sich nicht immer in die einfachen Kategorien "gut" oder "schlecht" einteilen.
Stress und Gehirnaktivierung: Der Lateralisierungsindex als Messinstrument
Eine Studie von SuJin Bak, Jaeyoung Shin und Jichai Jeong, veröffentlicht in Biosensors (2022), untersucht, ob sich Eustress und Distress anhand der Gehirnaktivierung klar voneinander trennen lassen. Die Forscher bestimmten das Stressniveau der Teilnehmer mithilfe von Alpha-Amylase im Speichel, einem bewährten Stress-Biomarker. Anschließend analysierten sie die Gehirnaktivität mittels funktioneller Nahinfrarotspektroskopie (fNIRS), während die Probanden emotionale Bilder betrachteten.
Die Ergebnisse zeigten, dass sowohl Eustress- als auch Distress-Gruppen eine erhöhte Aktivität im rechten Frontalkortex aufwiesen. Interessanterweise war die Aktivierung bei der Eustress-Gruppe am stärksten, während die Distress-Gruppe eine geringere Reaktion zeigte. Dies legt nahe, dass der sogenannte Lateralisierungsindex (LIS) potenziell als Messinstrument zur Unterscheidung von Eustress und Distress genutzt werden könnte. Allerdings bleibt unklar, ob diese Differenzierung in der Praxis ausreichend präzise ist, um langfristig angewendet zu werden.
Historische Verwirrung: Wie Hans Selye Eustress und Distress prägte
Der Begründer der modernen Stressforschung, Hans Selye, stellte in den 1930er Jahren das General Adaptation Syndrome vor. In den 1970er Jahren differenzierte er Stress in Eustress (positiver Stress) und Distress (negativer Stress). Doch seine Definitionen waren alles andere als einheitlich (Bienertova-Vasku et al., 2020).
Mal betonte er, dass Stress per se weder gut noch schlecht sei, sondern nur die Reaktion des Organismus darauf zähle. In anderen Publikationen stellte er Eustress als leistungssteigernd und Distress als gesundheitsschädlich dar.
Diese Widersprüche führten dazu, dass verschiedene Wissenschaftsdisziplinen den Begriff unterschiedlich interpretierten. In der Psychologie und Soziologie wird Eustress als positiver psychischer Zustand betrachtet, der Motivation und Leistung steigert. In der Biomedizin wird Eustress als physiologischer Mechanismus verstanden, der die Überlebenswahrscheinlichkeit verbessert. In der Klinischen Medizin werden Eustress und Distress oft als Synonyme für hohe und niedrige Intensität eines Stressors verwendet. Diese unterschiedlichen Definitionen haben dazu geführt, dass das Konzept des Eustress oft ungenau und widersprüchlich angewendet wird.
Probleme bei der Definition von Eustress und Distress
Die Unterscheidung zwischen den beiden Stressarten ist schwieriger, als es auf den ersten Blick scheint:
- Subjektive Wahrnehmung: Ob ein Stressor als positiv oder negativ empfunden wird, ist individuell verschieden. Die gleiche Situation kann von einer Person als Herausforderung und von einer anderen als Bedrohung empfunden werden.
- Zeitliche Dynamik: Ein kurzfristig positiver Stressor (z. B. ein sportlicher Wettkampf) kann langfristig negative Folgen haben (z. B. chronische Verletzungen oder Burnout).
- Mangel an objektiven Biomarkern: Biochemische Indikatoren wie Kortisol oder Herzfrequenz sind sowohl bei Eustress als auch Distress erhöht. Eine eindeutige Unterscheidung anhand physiologischer Reaktionen ist somit kaum möglich.
Wissenschaftliche Versuche zur Definition von Eustress
- Kognitive Bewertungsmodelle
Einige Forscher haben versucht, Eustress über kognitive Bewertungsprozesse zu definieren. Beispielsweise argumentieren Lazarus und Folkman (1984), dass Eustress dann entsteht, wenn eine Person einen Stressor als Herausforderung interpretiert, während Distress entsteht, wenn der Stressor als Bedrohung wahrgenommen wird. Diese Modelle sind jedoch problematisch, da sie rein subjektiv sind und keine universellen Kriterien bieten. - Physiologische Modelle
Andere Forscher haben physiologische Parameter als Unterscheidungsmerkmal vorgeschlagen:
—> Yerkes-Dodson-Gesetz: Dieses Gesetz besagt, dass ein mittleres Stressniveau die Leistungsfähigkeit optimiert, während zu wenig oder zu viel Stress die Leistung mindert. Doch auch dieses Modell ist nicht trennscharf, da das optimale Stressniveau individuell unterschiedlich ist (Benson & Allen, 1980).
—> Hormesis-Modell: In der Biologie gibt es das Konzept der Hormesis, bei dem geringe Dosen eines Stressors positive Effekte haben, während hohe Dosen schädlich sind. Die Autoren argumentieren jedoch, dass diese Theorie nicht direkt auf Eustress/Distress übertragbar ist. - Langfristige Gesundheitsauswirkungen
Eine weitere Möglichkeit, Eustress und Distress zu unterscheiden, wäre die langfristige Wirkung auf die Gesundheit. Doch auch hier zeigt sich keine klare Trennlinie:
—> Ein kurzfristig als Eustress wahrgenommener Zustand (z. B. exzessiver Sport) kann langfristig negative Auswirkungen auf den Körper haben.
—> Chronischer Distress kann unter bestimmten Bedingungen adaptive Vorteile haben (z. B. erhöhte Wachsamkeit in gefährlichen Umgebungen).
Praxisbeispiele: Die Grenzen der Dichotomie
Die Autoren (Bienertova-Vasku et al., 2020) zeigen anhand von Fallbeispielen, dass eine klare Abgrenzung zwischen Eustress und Distress oft nicht möglich ist:
- Achterbahnfahrt: Ein 25-jähriger Mann genießt eine Achterbahnfahrt als aufregendes Erlebnis. Durch Druckveränderungen im Gehirn platzt jedoch ein verborgenes Aneurysma, und er stirbt kurz danach. Obwohl die Fahrt positiv wahrgenommen wurde, war die gesundheitliche Folge fatal. Ob eine Stressreaktion gut oder schlecht ist, zeigt sich oft erst im Nachhinein.
- Investmentbanker mit Kokainkonsum: Ein 40-jähriger Investmentbanker steigert seine Leistung durch Kokainmissbrauch, trotz Schlafmangel und hoher Arbeitsbelastung. Er ist erfolgreich und wohlhabend, stirbt jedoch mit 47 an einem Herzinfarkt – ein Risiko, das er akzeptierte. War der Kokainkonsum Distress? Er verkürzte sein Leben, erhöhte aber seinen Erfolg. Die Frage bleibt: Wie definieren wir den Nutzen von Stress – durch Langlebigkeit oder Leistung?.
- Mobbing am Arbeitsplatz: Ein 25-jähriger Mann wird bei der Arbeit gemobbt, was ihn psychisch stark belastet. Dennoch bleibt er, da ihm das Arbeitsumfeld wertvolle Ressourcen bietet. Durch professionelle Hilfe verbessert er seine Bewältigungsstrategien, beginnt mit Sport und verliert erheblich an Gewicht. Langfristig führt die belastende Erfahrung zu persönlichem Wachstum und besserer Gesundheit. Ob die Situation letztlich positiv oder negativ war, hängt vom langfristigen Ergebnis ab.
Und nun?
Da die Begriffe Eustress und Distress mehr Verwirrung als Klarheit schaffen, wäre es sinnvoll, nur noch den Begriff Stress zu verwenden. Die Bewertung einer Stressreaktion sollte nicht auf einer künstlichen Dichotomie basieren, sondern auf einer differenzierten Analyse der individuellen und langfristigen Auswirkungen. Wie könnte das aussehen?
- Verzicht auf die Begriffe Eustress und Distress und stattdessen präzisere Begriffe wie „akuter Stress“, „chronischer Stress“, „adaptive Stressreaktion“ oder „maladaptive Stressreaktion“ verwenden.
- Mehr Forschung zur langfristigen Stressbewältigung und den individuellen Unterschieden in der Stressverarbeitung.
- Multidisziplinäre Perspektiven berücksichtigen, um eine bessere Integration von psychologischen, biologischen und medizinischen Erkenntnissen zu erreichen, was unter anderem in der MBM (Mind-Body-Medizin) und in der PNI (Psychoneuroimmunologie) der Fall ist.
Fazit: Brauchen wir Eustress überhaupt noch?
Die Autoren beider Studien argumentieren, dass die Begriffe Eustress und Distress nicht nur ungenau, sondern potenziell irreführend sind. Sie plädieren dafür, Stress als einen einheitlichen Prozess zu betrachten, der individuell unterschiedlich wahrgenommen und verarbeitet wird. Eine differenzierte Analyse ist einer simplen "gut vs. schlecht”-Dichotomie definitiv vorzuziehen. Stress bleibt also Stress – mal hilft er, mal schadet er, und manchmal ist er einfach nur… stressig.
Literatur:
- Bak, S., Shin, J., & Jeong, J. (2022). Subdividing Stress Groups into Eustress and Distress Groups Using Laterality Index Calculated from Brain Hemodynamic Response. Biosensors, 12(1), 33. https://doi.org/10.3390/bios12010033
- Benson, H., & Allen, R. L. (1980). How much stress is too much?. Harvard business review, 58(5), 86–92.
- Bienertova-Vasku, J., Lenart, P., & Scheringer, M. (2020). Eustress and Distress: Neither Good Nor Bad, but Rather the Same?. BioEssays : news and reviews in molecular, cellular and developmental biology, 42(7), e1900238. https://doi.org/10.1002/bies.201900238
- Lazarus, R. & Folkman, S. (1984). Stress, Appraisal, and Coping. New York: Springer
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