Für viele Menschen ist das Stehen und Gehen im Schnee eine alltägliche Herausforderung. Es kann glitschig, rutschig und anstrengend sein. Doch für Menschen mit einer visuellen Beeinträchtigung wie John M. Hull, der in seinem Werk “Im Dunkeln sehen” (1992) von seinen Schwierigkeiten als Erblindeter im Schnee spricht, wird diese Herausforderung zu einem viel komplexeren Erlebnis. Schnee ist für Hull nicht einfach ein glattes oder rutschiges Hindernis. Er beschreibt es als “den Nebel eines Blinden”, der die Orientierung völlig unmöglich macht. Die Texturen des Bodens, die den Sehenden als Wegweiser dienen, sind für ihn nicht mehr zugänglich, und das Entfernen von vertrauten Markierungen wie Bordsteinkanten und Wegabschnitten im Schnee lässt ihn unsicher werden. Doch was Hull vor allem betont, ist nicht das Problem des Rutschens, vielmehr ist es die Schwierigkeit, sich in einem Raum ohne visuelle Referenzen sicher zu bewegen. In solchen Momenten wird der Körper selbst zum zentralen Sinnesorgan.
Diese Erkenntnis von Hull eröffnet eine tiefere Perspektive auf die Bedeutung von Körperwahrnehmung und Bewegung in unserer täglichen Navigation durch die Welt. Die Feldenkrais-Methode, entwickelt von Moshe Feldenkrais, bietet hier einen wertvollen Ansatz, um die Körperwahrnehmung und die Bewegungskoordination zu schulen und zu verbessern. Sie kann besonders hilfreich sein, um den Körper in schwierigen oder unsicheren Umgebungen wie im Schnee besser zu integrieren und so das Stehen und Gehen zu erleichtern.
Propriozeption und ihre Rolle bei der Bewegungskoordination
Die Feldenkrais-Methode setzt auf die Integration und Schulung der körpereigenen Wahrnehmung, was in vielen Aspekten die Grundlage für sichereres Stehen und Gehen bildet. Ein wichtiger Teil dieser Wahrnehmung ist die Propriozeption, die Fähigkeit, die Stellung, den Tonus und die Bewegung unseres Körpers im Raum zu spüren und anzupassen. Wenn wir gehen oder stehen, passt sich unser Körper kontinuierlich an die äußeren Bedingungen an, und das funktioniert auf einer rein unbewussten Ebene. Ein Beispiel hierfür ist der Muskeldehnreflex, der automatisch aktiviert wird, wenn sich die Länge eines Muskels verändert, um die Körperhaltung zu stabilisieren.
Für jemanden wie John M. Hull, der mit der Herausforderung lebt, sich ohne visuelle Orientierung im Raum zu bewegen, ist es umso wichtiger, dass der Körper auf feine und präzise Weise auf Veränderungen in der Umgebung reagiert. Propriozeption hilft dabei, die richtigen Muskelspannungen aufzubauen, um auf wechselnde Bodenverhältnisse, wie den Schnee, zu reagieren und dabei die Körperhaltung stabil zu halten. Die Feldenkrais-Methode unterstützt diesen Prozess, indem sie durch gezielte Bewegungsübungen das Bewusstsein für die eigenen Körpersignale schärft und den Bewegungsfluss verfeinert.
Der Einfluss der taktilen Wahrnehmung
Ein weiterer wichtiger Aspekt der Bewegungskontrolle ist die taktile Wahrnehmung, das, was wir über die Haut und den Kontakt mit der Umgebung spüren. Wenn wir im Schnee gehen, liefern uns unsere Füße Informationen über die Textur und die Stabilität des Bodens. Diese taktilen Informationen werden über die Hautrezeptoren an das Gehirn weitergeleitet, das dann motorische Anpassungen vornimmt. In Hulls Fall ist es jedoch besonders herausfordernd, da er durch den fehlenden visuellen Input keine sicheren Anhaltspunkte in der Umgebung erkennen kann.
Feldenkrais-Übungen, die auf die Verbesserung der Sensibilität für solche taktilen Reize abzielen, können helfen, die Wahrnehmung für die Umwelt zu schärfen und das Gehen auf unebenem oder unbekanntem Terrain wie Schnee zu erleichtern. Durch bewusste Bewegungsübungen wird das Feingefühl für den Boden und die Bewegungsabläufe im Körper gefördert, was das Gleichgewicht und die Stabilität verbessert.
Die Bedeutung der Balance und des Gleichgewichts
Die Fähigkeit, das Gleichgewicht zu bewahren, ist besonders wichtig, wenn die vertrauten Orientierungspunkte wie Bordsteinkanten oder Gehwegmarkierungen durch Schnee verdeckt werden. Ein gut geschultes Gleichgewichtssystem ermöglicht es, auch unter schwierigen Bedingungen sicher zu gehen. Die Feldenkrais-Methode kann hier helfen, das Gleichgewicht zu stabilisieren und die Bewegungskoordination zu verbessern. Mit gezielten Bewegungsübungen wird das Bewusstsein für die eigene Körperhaltung und Bewegungsdynamik geschult, was in unsicheren Situationen wie rutschigen Oberflächen oder unerforschten Wegen hilfreich ist.
Wie die Feldenkrais-Methode helfen kann
Die Feldenkrais-Methode bietet eine wertvolle Möglichkeit, die Körperwahrnehmung und Bewegungsfähigkeit zu verbessern. Besonders in schwierigen oder unsicheren Umgebungen wie im Schnee kann sie helfen, die eigenen Bewegungsstrategien zu verfeinern und das Vertrauen in die eigene Körperwahrnehmung zu stärken. Feldenkrais-Übungen, die sich auf die Verbesserung der Propriozeption und der Balance konzentrieren, fördern eine sichere und achtsame Bewegungsweise. Dabei wird der Körper nicht nur als mechanisches System verstanden, sondern als ein feines Zusammenspiel von Wahrnehmung, Bewegung und Anpassung an die Umwelt.
Durch Feldenkrais wird es möglich, das Gleichgewicht zu stabilisieren, den Körper effizienter in Raum und Zeit zu bewegen und auf Veränderungen in der Umgebung schnell und präzise zu reagieren. So kann man nicht nur sicherer auf Schnee gehen, sondern auch im Alltag mehr Stabilität und Selbstvertrauen gewinnen.
Fazit
John M. Hulls Erfahrung mit Schnee zeigt uns, wie essenziell es ist, den eigenen Körper als Sensor für die Welt zu begreifen. Die Feldenkrais-Methode eröffnet einen Zugang zu einer präziseren Wahrnehmung und einem bewussteren Umgang mit unseren Bewegungen. Durch das Schärfen des Körperbewusstseins können wir unser Gleichgewicht und unsere Bewegungsfähigkeit verbessern und so sicherer und stabiler durch eine unsichere Welt gehen, sei es im Schnee oder in anderen herausfordernden Situationen.
Literatur:
- Hull, John M. (1992). Im Dunkeln sehen, Erfahrungen eines Blinden. München: C.H. Beck Verlag
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