Sich aushalten, es braucht Mut, sich nicht zu entkommen. “Trauma”, sagte Franz Ruppert und zuckte mit den Schultern. Gabor Maté beschreibt diese Szene in einem Restaurant in Oslo, das nicht mehr an den Ort der Reflexion erinnerte, den Henrik Ibsen dort einst schätzte, sondern an einen lärmenden Ort der Selbstflucht. Popmusik, Bildschirme, Stimmengewirr. Überforderung als Standard. Wer das Jetzt nicht aushält, betäubt es, mit Ablenkung, Leistung, Zerstreuung, endloser Selbstbeschäftigung. Wir sind eine Gesellschaft, die sich nicht mehr spürt, weil sie sich nicht mehr aushält.
Was heißt das eigentlich: sich aushalten?
Sich aushalten heißt: in sich verweilen, ohne Fluchtplan. Ohne Ablenkung, ohne Produktivität, ohne den ständigen Versuch, sich zu optimieren, zu verbessern, zu beruhigen. Es bedeutet: sich zuzumuten. Mit allem, was da ist: Langeweile, Wut, Scham, Überforderung, Sehnsucht, Leere. Der Philosoph Michael Bordt nennt das den Weg nach innen – und er sagt: “Erst wenn ich bei mir sein kann, ohne mich sofort verändern zu wollen, beginne ich zu leben” (Bordt, 2017). Das klingt einfach. Es ist radikal.
Die Kunst der Stille – ein Weg nach innen
Der norwegische Entdecker Erling Kagge (2018) hat in seinem Buch “Stille – ein Weg zum Wesentlichen” beschrieben, wie selten wir echte Stille erleben – und wie sehr wir sie gleichzeitig fürchten und brauchen. “Stille ist mehr als die Abwesenheit von Lärm”, schreibt er. “Sie ist das, was bleibt, wenn alles andere aufhört.” Doch wer sich selbst nicht kennt, dem wird Stille zur Bedrohung. Denn in der Stille wird hörbar, was im Lärm verborgen bleibt: die Stimme des eigenen Herzens, die unerledigten Gefühle, die tiefe Einsamkeit, vielleicht sogar das eigene Nicht-Wissen darüber, wer man eigentlich ist. Stille ist unbequem. Und gerade deshalb heilsam. Denn sie zwingt nicht – sie lädt ein. Zur Begegnung mit sich selbst.
Warum wir fliehen – und wie wir zurückkehren können
Wenn wir – wie Maté (2022) es beschreibt – von einem System umgeben sind, das ständig die Gegenwart überspielt, dann braucht es bewusste Gegenbewegung. Nicht als weiteren Selbstoptimierungsakt, sondern als Akt der Liebe. Denn der Ausweg ist nicht Leistung. Nicht Kontrolle. Nicht Disziplin. Der Ausweg ist Beziehung – zu sich selbst. Und diese beginnt mit dem Aushalten. Mit dem Mut, im Unbequemen zu verweilen. Mit der Bereitschaft, das eigene Innenleben nicht sofort zu therapieren, wegzuwischen, oder in Frage zu stellen. Mit dem Vertrauen, dass auch das, was sich gerade leer oder zu viel anfühlt, einen Platz haben darf.
Wie fängt man an?
Nicht mit einem großen Schritt, sondern mit einem kleinen. Eine Minute Stille. Eine bewusste Bewegung. Ein Nein zur Ablenkung. Ein Ja zum Spüren. Vielleicht sitzt du einfach da. Ohne Musik. Ohne Handy. Ohne Gespräch. Und beobachtest, was kommt. Ohne es verändern zu wollen. Und vielleicht fliehst du danach wieder. Das ist okay. Aber du hast angefangen. Du hast dich einen Moment lang ausgehalten.
Feldenkrais: Bewegte Achtsamkeit als Weg zu sich selbst
Die Feldenkrais-Methode ist eine somatische Lernmethode, die durch sanfte, bewusste Bewegungen die Selbstwahrnehmung und Beweglichkeit fördert. Durch gezielte Bewegungsabläufe wird die Verbindung zwischen Körper und Geist gestärkt, was zu mehr Selbstbewusstsein und innerer Ruhe führen kann. In der Feldenkrais-Arbeit geht es nicht um Leistung, sondern um das Erforschen und Erleben des eigenen Körpers im gegenwärtigen Moment. Diese Praxis lädt dazu ein, sich selbst mit Neugier und Offenheit zu begegnen, ohne Urteil oder Zielvorgabe. Sie unterstützt dabei, sich selbst auszuhalten, indem sie den Raum schafft, in dem man sich selbst begegnen kann – sanft, achtsam und präsent.
Kohärentes Atmen: Im Gleichklang mit dem Leben
Kohärentes Atmen ist eine Atemtechnik, bei der Ein- und Ausatmung gleichmäßig und ohne Pause erfolgen, typischerweise mit etwa fünf bis sechs Atemzügen pro Minute. Diese Methode fördert die Synchronisation von Atmung und Herzschlag, was zu einem Zustand der inneren Kohärenz führt. Sie wirkt ausgleichend auf das autonome Nervensystem und kann Stress reduzieren sowie das allgemeine Wohlbefinden steigern. Durch regelmäßiges kohärentes Atmen kann man lernen, im gegenwärtigen Moment zu verweilen und sich selbst mit mehr Gelassenheit und Akzeptanz zu begegnen. Es ist eine einfache, aber wirkungsvolle Praxis, um sich selbst auszuhalten und in Kontakt mit dem eigenen Inneren zu bleiben.
Fazit: Der Weg zurück zu sich selbst
Wir leben in einer Kultur, die uns lehrt, dass wir das Problem sind – weil wir nicht leistungsfähig, ruhig oder “gut genug” sind. Doch vielleicht sind wir nicht das Problem, sondern der Ort, an dem etwas gesehen, gehalten und gewandelt werden will. Sich aushalten heißt, diesen Ort nicht zu verlassen. Nicht, weil es leicht ist. Sondern, weil dort das Leben wartet.
Sich selbst auszuhalten bedeutet, den Mut zu haben, im gegenwärtigen Moment zu verweilen, mit allem, was ist – ohne Flucht, ohne Ablenkung, ohne Urteil. Es ist ein Akt der Selbstliebe und des Mitgefühls, der uns erlaubt, uns selbst in unserer Ganzheit zu begegnen. Praktiken wie die Feldenkrais-Methode und kohärentes Atmen bieten wertvolle Werkzeuge, um diesen Weg zu unterstützen. Sie fördern die Verbindung zwischen Körper und Geist, stärken die Selbstwahrnehmung und helfen, einen Zustand innerer Kohärenz zu erreichen.
Indem wir lernen, uns selbst auszuhalten, öffnen wir die Tür zu einem tieferen Verständnis und einer authentischeren Beziehung zu uns selbst. Es ist ein Weg der Rückverbindung, der uns zu mehr innerer Ruhe, Klarheit und Lebensfreude führen kann. Möge dieser Weg ein liebevoller und nachhaltiger sein – zurück zu dir selbst.
Literatur:
- Bordt, Michael SJ (2017). Die Kunst sich selbst auszuhalten. Ein Weg zur inneren Freiheit. Hamburg: ZS Verlag
- Kagge, Erling (2018). Stille. Ein Wegweiser. Berlin: Insel Verlag
- Maté, Gabor (2022). The myth of normal. Illness, health and healing in a toxic culture. London: Penguin
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