Wir handeln in Übereinstimmung mit unseren Selbstbild, d.h. dieses Bild, das wir von uns machen, durchzieht alle Lebensbereiche. Dieses Bild speist sich laut Moshe Feldenkrais (1990) aus drei Faktoren: Erbe, Erziehung und Selbsterziehung. Die Vererbung ist der Teil, auf den wir am wenigsten Einfluss haben. Unser Knochenbau, die Muskelzusammensetzung, die Haarfarbe, usw. sind uns innewohnend, noch bevor wir zum ersten Mal über unsere Identität nachdenken. Das genetische Erbe macht dich und mich einzigartig in unserer Erscheinung. Die Erziehung allerdings bestimmt unser Selbstbild zu einem sehr großen Teil. Da wäre zum einen die Sprache, welche uns in einem Kulturkreis ermöglicht mit anderen Mitgliedern zu kommunizieren. Die Sprache ist auch Zeuge der kulturellen Gepflogenheiten und bestimmt im großen Maße unsere Selbsterziehung. Die Erziehung macht uns zu einem Mitglied der kulturellen Gemeinschaft und erleichtert die soziale Interaktion. Zum anderen, neben der Sprache, wären die Verhaltensregeln, welche soziales Zusammensein regeln. Die Selbsterziehung als dritter Faktor ist jedoch auch bei der Erziehung mitbestimmend. Die Selbsterziehung entscheidet darüber, welche Inhalte der Erziehung wir erwerben und welche wir eventuell verwerfen. Dieser Wahlvorgang begann allerdings ein wenig früher. Direkt nach der Geburt absorbieren wir Reize der Umwelt. Je mehr das Kind heranwächst, desto mehr übt das Kind Selbsterziehung aus, d.h. es wählt zwischen bestimmten Dingen die Dinge aus, welche einen Annäherungscharakter beinhalten. Alleinig die Selbsterziehung liegt in unseren Händen, und dies auch nur zu gewissen Teilen, nicht zu 100 Prozent.

Jetzt möge man denken, Selbsterziehung hat viel mit Individualität und Authentizität zu tun, uns sozusagen zu einem einzigartigen Individuum zu werden. Das muss leider nicht so sein und ist auch teilweise nicht der Fall. Vielleicht ist es mit der Selbsterziehung in der Tat so, dass wir zu einem gewissen Teil unser Verhalten dem der anderen angleichen. Das mag unter anderem daran liegen, dass viele Menschen die Gemeinschaft über die Individualität stellen. Das ist von außen betrachtet nichts schlechtes. Diese Haltung bzw. diese Brille, die Welt zu betrachten, kann jedoch auch kippen und zwar genau dann, wenn wir in diesem Prozess, unsere eigene Stimme verlieren. In anderen Worten stellen wir die Selbsterziehung in den Dienst der Gemeinschaft und zwar nur der Gemeinschaft. Ich möchte hier sehr kurz auf die Theorie von Norbert Elias (1997) eingehen. In der mittelalterlichen Gesellschaft, welche durch Fremdzwang geprägt war, welche mit Verboten bezüglich der Affekte und Triebe einherging, war das Wort Selbstoptimierung noch unbekannt. Diese Fremdzwänge wandelten sich mit der Ausdifferenzierung von Wirtschaft, Politik und sozialen Leben. D.h. die Menschen werden abhängiger voneinander. Um Verhalten jetzt differenzierter und gleichmäßiger zu machen, braucht es das Individuum. Das Individuum, nun befreit vom staatlichen Fremdzwang, legt sich diesen nun, aufgrund einer ausdifferenzierteren Gesellschaft, als Selbstzwang auf. Mit der gesellschaftlichen Arbeits- und Funktionsteilung werden Affekte zurückgedrängt, Kontrolle von spontanen menschlichen Impulsen werden unterdrückt. Einst war es noch ein gesellschaftlicher Zwang, nun wurde dieser zum Selbstzwang. Auf ein stabiles regulierendes Über-Ich, mit Hilfe einer konstanten Selbstüberwachung und Selbstoptimierung. 

Damit dies auch alles gut funktioniert, braucht es Gefühle und Kampf. Der Konkurrenzkampf, Motor der Wirtschaft, geht auch mit Gefühlen einher und zwar dem Gefühl der Angst. Angst nicht dazuzugehören, Angst im sozialen Rang abzusteigen. Durch ein genaueres soziales Gespür der Menschen, also die Wahrnehmung was in einem selbst und in anderen Menschen vor sich geht, wurde auch der Zwang, den Menschen aufeinander ausüben, stärker. Diese immer stärker werdende Zwang, legen sich die Menschen nun selbst auf. Es ist nicht mehr die Gesellschaft die unterwirft, sondern die Menschen selbst, die sich zurückhalten. So schreibt Elias, dem Individuum werden Selbstzwänge angezüchtet, durch die mit gesellschaftlichen Sanktionen gestützten Verbote. Triebäußerungen werden zurückgedrängt. Umgeben von einer soziogenen Scham wird dies zur Gewohnheit gemacht. Jetzt ist es nicht so, dass man jemand dafür verantwortlich machen kann, denn es ist letztlich ein Zivilisationsprozess und Konkurrenzdruck und Funktionsteilung sind Ergebnisse daraus. Diese Ergebnisse fordern aber auch ein, und zwar beim Individuum. Einst regelte der Staat über Gewaltausübung das öffentliche Leben. Dies tut er jetzt nicht mehr. Die Fremdkontrolle weicht nun der Selbstbeherrschung. Diese kommt nicht erst mit 27 Jahren ins Leben, sondern wird durch Erziehung früh in die Wiege gelegt. Was, nach meiner Meinung, allerdings problematisch bei diesem Prozess ist, sind die Ängste vor einem Statusverlust, welche nun nach innen verlagert werden und somit das Verhalten steuern. Der Punkt ist, hier sprechen wir keineswegs von der Selbsterziehung nach Moshe Feldenkrais.

Auch Feldenkrais spricht von Uniformität, welche bei manchen Menschen, nicht unbedingt bei allen, sondern bei manchen Menschen zu Konflikten führt. Entweder werden eigene individuelle Tendenzen zugunsten der gesellschaftlichen Tendenzen unterdrückt, oder es werden den Individuen Werte auferlegt, die die ureigenen Antriebe und Impulse unterdrücken. Dies kann zu einem Leben hinter einer Maske führen, welche natürlich auch aufrechterhalten werden mag und dies ist ziemlich anstrengend. Es steht ja auch viel auf dem Spiel, nämlich der eigene Status, welcher an den Erfolg in einer Gesellschaft geknüpft ist. Mit diesem Erfolg ist es aber auch nicht getan, denn einmal ist keinmal. Es braucht also eine ganze Reihe von Erfolgserlebnissen, in anderen Worten, es wäre gut, die Erfolgsleiter immer weiter empor zu steigen, denn sonst würde ja auch die Maske fallen. Feldenkrais meint, manche Menschen leben ein Leben lange hinter einer Maske. Eine Maske zu tragen, nicht sich selbst zu leben, ist wie ein Leben nach vorgegebenen Mustern und Ritualen laut Fritz Perls, Gründer der Gestaltherapie (de Roeck, 1994). Es sind Klischees, erworben vom Außen, nicht die ureigenen Impulse und Emotionen. Das Leben läuft, die Menschen funktionieren im besten Sinne. Perls sieht im Klischee das erste Stadium der Selbsterziehung. Da soll es aber nicht bleiben, somit kommen wir zum zweiten Stadium, das Stadium der Rollen, oder der Spiele. Hier werden z.B. Vergleichs- oder Vorwurf-Spiele gespielt, „du bist um so viel besser, schlauer, reicher, erfolgreicher etc.“ oder „du machst um so viel weniger und hast viel mehr als ich, wo ich doch so viel mache“. Diese Spielchen können eigentlich nur in einem nie endenden Streben enden, in einem Selbstzwang, immer besser werden zu wollen, um im öffentlichen Spiel nicht an Status zu verlieren. Werden wir dadurch glücklich?

Glücklich werden wir dadurch garantiert nicht, denn letztlich betrügen wir uns selbst und spielen ein Spiel. Wir spielen jemanden, der wir einfach nicht sind. Wir bekommen zwar eine gewisse Belohnung dadurch, diese bleibt aber an der Oberfläche. In anderen Worten sind wir extrinsisch motiviert. Das mag kurzfristig gut sein, langfristig gesehen stellt es keinen wirklichen Weg zum Wohlbefinden dar. Laut Edward Deci und Richard Ryan (1985) steht intrinsische Motivation für Freude und innere Befriedigung. Hier kommt Freude aus einer Tätigkeit selbst. Das Ziel ist hier nebensächlich. Im Gegensatz dazu steht extrinsische Motivation für äußere Anreize. Das kann eine Belohnung sein aber auch eine Bestrafung, die es natürlich gilt zu vermeiden. Laut deren Selbstbestimmungstheorie ist ein Mensch genau dann intrinsisch motiviert, wenn drei grundlegende psychologische Bedürfnisse befriedigt werden. Da wäre die Autonomie: Wir möchten unser Verhalten selbst bestimmen und dies auch als etwas ansehen, was aus unserem Inneren erwächst, ohne externe Einflüsse. Kompetenz ist das zweite Bedürfnis. Ein Mensch möchte sich kompetent fühlen. Dies passiert, wenn dieser Mensch seine Kompetenzen einsetzen darf und auch kann und dadurch Selbstwirksamkeit erfährt, also Fertigkeiten anwenden und Herausforderungen meistern. Das dritte Bedürfnis ist Soziale Eingebundenheit. Wir Menschen als Rudeltiere sehen uns nach sozialen Beziehungen. Wir möchten dazugehören, ein Gefühl spüren, Teil einer Gruppe zu sein. Es scheint ja eher so zu sein, dass Autonomie, die Einbringung der eigenen Kompetenzen, sowie das Eingebundensein in einer Gruppe, viel eher zum Glücklichsein beiträgt als ein nie endendes Streben.

Ich denke zudem, wir müssen nicht darüber sprechen, dass Fremdzwang nicht wünschenswert ist. Wie ist es mit Selbstzwang? Auch diesen finde ich nicht hilfreich. Halten wir bis hier fest, Zwang, nein danke. Laut Feldenkrais entscheidet die Selbsterziehung darüber, welche Inhalte der Erziehung wir erwerben und welche wir eventuell verwerfen. Die Aussage ist spannend, so erinnert sie mich doch an den Begriff Autopoiese von Humberto Maturana (1994). Autopoiese bedeutet Selbstgestaltung, oder Selbstorganisation, bzw. Selbstentfaltung. Wir bleiben hier bei dem Wort Selbstgestaltung. Bei dieser Selbstgestaltung wird die Geschichte der Gattung Mensch, sowie die eigene weitergeschrieben, jedoch nicht im Sinne eines Buches, sondern einer immer kohärenten Innerlichkeit. Das soll meinen, ein Mensch reagiert genau in der Art und Weise auf die Umwelt, wie es diesem Menschen gegeben ist, d.h. ein Mensch nimmt auf seine Art und Weise wahr, bewegt sich auf seine Weise, interpretiert und erklärt auf seine Weise. Nichts neues kommt in diesen Menschen von außen hinein, doch neues mag aus ihn heraus entstehen, allerdings nur auf Grundlage dessen, was vorher schon da war. Mit dem Begriff Selbstentfaltung würde ich dann davon ausgehen, dass etwas neues sich aus mir heraus entfaltet. Ich finde diese Wortwahl hat etwas sehr künstlerisches. Also, nichts neues kommt in den Menschen von außen hinein, doch neues mag aus ihn heraus entstehen, auf Grundlage dessen, was vorher schon da war. Maturana nennt dies strukturdeterminierte Systeme, d.h. diese sind von außen nicht beeinflussbar. Sie regieren „immer im Sinne der eigenen Struktur. So kann ich nicht steuern, wie meine Worte wirken: Jeder liest, was er oder sie liest, dafür trage ich keine Verantwortung! … Dabei obliegt es jedoch allein mir, keinen Unsinn zu verzapfen, denn ich bin selbst verantwortlich für das, was ich schreibe – bloß bin ich nicht verantwortlich für das, was Sie lesen“ (Maturana, 1994, S. 36). Was nun?

Lasst uns driften! Laut Maturana findet ein lebendes System, auch Mensch genannt, den richtigen Weg durch das Driften. Damit meint er ein flexibles Gleichgewicht. Er meint ein Spiel mit den Strukturen, die sich ständig organisieren und anpassen. Das Spiel endet eindeutig mit dem Tod. Was meint er mit Struktur? Er meint dich, alles was dich ausmacht, alles was ich sehen kann. Was aus dieser Struktur hervorgeht, nennt Maturana Verhalten und Feldenkrais Funktion. Ich nenne es Leben. Dieses Driften, auch Leben genannt, findet immer im Hier und Jetzt statt. Und ja, es mag eine Hintergrundbeleuchtung geben. Nennen wir dies Vergangenheit, vor dieser wir mit einer speziell gefärbten Brille in die Welt blicken. Nenn wir dies Zukunft. Das Tätigsein, Leben oder auch Bewegen findet dagegen im Hier und Jetzt statt. Dies wäre auch gleichzeitig die Antwort auf die Frage, was denn nun? Es gibt eine Hintergrundbeleuchtung und eine speziell gefärbte Brille. Sie stellen den Rahmen dar. Der Rahmeninhalt ist das Hier und Jetzt mit der jeweiligen Erfahrung. Wenn wir jetzt in Übereinstimmung mit unseren Selbstbild handeln, so würde ich mich für dich wirklich freuen, wenn diese Handlungen aus einer liebevollen Selbstfürsorge herrühren, nach Feldenkrais aus Selbsterziehung, nach Maturana aus Selbstentfaltung, nach Deci und Ryan aus intrinsischer Motivation. Für mich bedeutet es Selbstentwicklung, Entwicklung hin zu einem authentischen Leben, hin zu mehr Verbindung.

„Der Zwang ist schlimm; doch es besteht kein Zwang, unter Zwang zu leben.“ Epikur 

Literatur: 

  • Deci, E. L. & Ryan, R. M. (1985). Intrinsic motivation and self-determination in human behavior. New York: Plenum.
  • De Roeck, Bruno-Paul (1994). Gras unter meinen Füssen. Eine ungewöhnliche Einführung in die Gestaltherapie. Reinbek: Rowohlt Taschenbuch Verlag
  • Elias, Norbert (1997). Über den Prozess der Zivilisation. Soziogenetische und psychogenetische Untersuchungen. Frankfurt am Main: Suhrkamp
  • Feldenkrais, Moshe (1990). Awareness through Movement. San Francisco: Harper Collins
  • Maturana, Humberto (1994). Was ist Erkennen. München: Piper

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