Wir handeln in Übereinstimmung mit unseren Selbstbild. Dieses Selbstbild besteht aus vier Komponenten: Bewegung, Empfindung, Gefühl und Gedanke (Feldenkrais, 1990). Um denken zu können, muss ich wach sein. Wachsein bedeutet auch, meine Position im Schwerefeld wahrzunehmen. Um fühlen zu können, braucht es eine gewisse Körperwahrnehmung, d.h. Gefühle sind mit dem Körper verbunden. Fühle ich etwas, empfinde ich auch etwas. Manchmal mag das nicht so sein, da der Körperzugang fehlt, das Gefühl ist jedoch immer noch da. Um zu empfinden, braucht es laut Feldenkrais Interesse, um wahrzunehmen, was in einem passiert. Um sich zu bewegen, braucht es zumindest ein Gefühl, einen Gedanken oder eine Empfindung, die die Bewegung begleiten. Das Selbstbild ist nie statisch. Es ist nicht so, dass ich einmal ein Bild erstelle und das war es dann. Das Selbstbild ist dynamisch, so wie Heraklits Fluss. Man kann, wie Heraklit sagt, nie in den gleichen Fluss steigen. So verhält es sich auch mit unseren Selbstbild und dann passiert etwas. Das Selbstbild ändert sich zwar von Handlung zu Handlung, aber mehr und mehr entstehen Gewohnheiten.
Handlungen: individuell und sozial
Und, wie auch schon öfters erwähnt, Gewohnheiten sind etwas Gutes. Sie können aber auch abträglich sein, indem immer gleiches Verhalten irgendwann mal zu Schmerz, Stress oder Krankheit führt. Das Spannende ist, ein Neugeborenes kann fast alles was ein Erwachsener auch tut: atmen, essen, verdauen, Stuhlgang erledigen. Laut Feldenkrais sind dies individuelle Handlungen. Es gibt auch soziale Handlungen. Diese kann ein Neugeborenes nicht, denn diese entstehen im kulturellen Sozialisierungsprozess. Eine soziale Handlung wäre demnach eine Tätigkeit in einer Kultur, z.B. einen Brief schreiben. Das setzt einiges voraus: Schreiben, Verständnis von Logistik, das Wie und das Was des Inhalts des Briefes. Ein Neugeborenes kann dies offensichtlich nicht und vielleicht kann es diese Tätigkeit nie, weil es vielleicht in einer komplett anderen Kultur aufwächst. Bis hier können wir festhalten. Gewohnheiten gibt es auf einer sozio-kulturellen Ebene und auf einer individuellen Ebene. Was hat jetzt Feldenkrais mit Gewohnheiten zu tun?
Der Homunkulus
Mit der Feldenkrais Arbeit arbeiten wir primär am senso-motorischen Kortex. Warum tun wir das? Wir verfolgen ein funktionales Bild, d.h. auf der Großhirnrinde gibt es spezielle Areale, welche spezielle Muskeln und Muskelbereiche abbilden. Dieses Bild auf der Großhirnrinde spricht nur die absichtlichen Handlungen an. Dieser Homunkulus (jedes Areal steht für einen muskulären Bereich) wurde von Wilder Penfield (1959) ins Leben gerufen. Penfield, ein Hirnchirurg, stimulierte dazu das menschliche Gehirn mit Elektroden, was Bewegungen und Empfindungen auslöste. Das war für ihn wichtig, um abzuschätzen, ob es bei einer Hirnoperation zu Komplikationen kommen könnte. Penfield machte dies unzählige Male und fand dabei heraus, dass gewisse muskuläre Bereiche gewisse Bereiche in der Großhirnrinde ansprechen. Daraufhin erstellte er ein Bild, in dem er diese Körperbereiche gewissen Hirnarealen zuordnete. Der Homunkulus war geboren. Wichtig bei diesem Bild ist, dass die Körperteile nicht nach ihrer eigentlichen Größe abgebildet werden, sondern nach ihrer Funktion.
Selbstbild < Potential
Nach ihrer Funktion also, d.h. ein Neugeborenes nimmt primär durch Lippen, Mund und Daumen Kontakt mit der Welt und mit sich auf. Daher sind diese Bereiche auf dem Homunkulus größer abgebildet. Je älter das Neugeborene wird, desto mehr ändert sich auch dieser Homunkulus, dennoch bleiben die größer abgebildeten Bereiche erhalten, d.h. sie bleiben so groß. Es gibt z.B. Menschen, welche nie lernten zu schreiben, d.h. dieser Bereich auf dem Homunkulus ist kleiner ausgeprägt. Jemand der mit beiden Händen schreiben kann, wird demnach ein größeren Bereich auf dem Homunkulus haben. Der Homunkulus ändert sich also. Das Selbstbild ändert sich auch. Das Selbstbild basiert auf den Dingen, die wir regelmäßig nutzen. Jetzt ist es aber auch so, dass unser Selbstbild unserem Potential hinterher hinkt.
Potentialentfaltung hat mit Lernen zu tun
Unser Potential ist also größer als unser Selbstbild. Das ist ja einerseits echt gut, denn das birgt ein immenses Entwicklungspotential, sofern ein Mensch es andererseits auch erkennt und schließlich umsetzt. Wie kommt es nun das wir dem Potential hinterherhinken? Laut Feldenkrais hat dies etwas mit unserer Auffassung von Lernen zu tun. Eine Sprache lernen, ermöglicht uns mit anderen zu kommunizieren, uns mitzuteilen, Teil einer Gemeinschaft zu sein. Dazu brauche ich keine Kenntnisse von Shakespeare und Goethe. Diese Kenntnisse mir anzueignen, dauert zum Einen eine gewisse Zeit und ermöglicht es diesem Menschen, auf einen höheren Level zu kommunizieren. So lässt sich dies wieder auf vieles anwenden. In unserer Gesellschaft braucht es leider nicht viele Menschen, die wie Shakespeare reden, wie Monet malen, wie Stevie Wonder singen, oder wie Pavel Dmitrichenko tanzen. Von daher lernen viele Menschen gewisse Teilbereiche und arbeiten dann für eine sehr lange Zeit in diesen Bereichen. Solche Bereiche sind z.B. Wirtschaftswissenschaften, Ingenieurwissenschaften, Informationstechnologie, aber auch Medizin. In anderen Worten sind sie zufrieden mit dem Bild, dass sie von sich haben. Und in noch anderen Worten, sie sind ein nützliches Mitglied einer Gesellschaft. Aber mit Potentialentfaltung hat dies nichts zu tun.
Anpassung geht auf Kosten der Spontaneität
Wenn ein Mensch sein Potential nicht entfaltet, so stellt dies keinen Abbruch dar. In anderen Worten: Dieser Mensch wird trotzdem leben. Er wird sich wahrscheinlich ein wenig anpassen, etwas tun, um vom Außen etwas zu bekommen, z.B. Anerkennung, Lob, Wertschätzung. Es ist ja derzeit so, sobald ein Mensch einen gewissen Job ausführt, der mit einer gewissen Entlohnung einhergeht und einer gewissen Stellung, also dem Ansehen in einer Wertehierarchie, so besteht überhaupt kein Anlass, sein Potential zu entwickeln. Wie kam es denn dazu? Höchstwahrscheinlich liegen diesem Verhalten gewisse Erfahrungen aus der Kindheit zugrunde. Ein Kind wird für das, was es tut oder auch nicht tut, belohnt und bestraft. Das ist ganz klar eine Leistungsorientierung und die kommt unserer Leistungsgesellschaft sehr zu gute. Mit Spontaneität laut Feldenkrais hat dies nichts zu tun. Deci und Ryan (1985) würden da wahrscheinlich zu hundert Prozent zustimmen. Es ist extrinische Motivation, also etwas tun, um etwas zu bekommen. Laut Deci und Ryan untergräbt dieses Verhalten die intrinsische Motivation, also etwas aus eigenen Antrieb zu tun. Dieser eigene Antrieb ist aber so immens wichtig, denn er sagt uns etwas über unsere innersten Regungen, über unsere Spontaneität. Somit kann eine Überanpassung die Spontaneität zum Verstummen bringen und das ist sehr traurig.
Alfie Kohn
Es ist sehr spannend, denn dies zuvor genannte Information ist wirklich nicht neu. Genauer gesagt, wissen wir dies schon seit 1993, höchstwahrscheinlich auch schon vor dieser Zeit. 1993 erschien ein interessantes Buch von Alfie Kohn, einen amerikanischen Erziehungswissenschaftler. Manche nennen ihn den amerikanischen Jesper Juul. In seinem Buch “Punished by Rewards” (1993) stellt Kohn Belohnungen in Frage. Kohn sagte, Belohnungen sind nicht nur nicht effektiv sondern verhindern eine gesunde Entwicklung, indem diese Belohnungen die intrinsische Motivation untergraben. Belohnungen werden demnach von Menschen anderen Menschen aus manipulativen Gründen gegeben. Es sind hier wieder die Interessen derer im Vordergrund, die belohnen, nicht die Interessen derer, die belohnt werden. Es wird ein Fokus hergestellt, ein Ergebnisfokus. Die Handlung scheint nebensächlich zu sein, nur das Ergebnis zählt. Das lässt sich jedes Jahr beobachten. Junge Menschen machen ihr Abitur und weinen am Ende, da sie statt der 1.0 nur eine 1.4 schafften. Wo mag diese Traurigkeit wohl herkommen? Ich lasse die Frage mal offen.
Bewertungen, Erwartungen, Wettbewerb
Sich nicht auf den Weg als Ziel zu konzentrieren ist heute gang und gäbe. Man kann den Einzelnen dafür auch keine Vorwurf machen, denn es scheint eher eine fast weltweite Hintergrundbeleuchtung zu sein. Eine Beleuchtung, welche nur das Wachstum im Sinne von Wirtschaftswachstum sieht. Und dazu zählen nun mal Bewertungen, Erwartungen und Wettbewerb. Leider geht bei dieser Haltung oder Orientierung das intrinsische Interesse an der Sache verloren. Dies hat nicht nur Auswirkungen auf das Individuum, sondern auch auf die Beziehungen. Mit dieser Haltung ist Kooperation, zwischenmenschliche Nähe und somit auch Vertrauen nicht möglich. Mit dieser Haltung freut sich der Sympathikus, der Ast im vegetativen Nervensystem, welcher für Aktivität und Aktion wichtig ist, aber auch für Kampf. Ständig mit anderen im Wettbewerb sein, sich beweisen müssen, alles zu bewerten, nur auf das Ziel zu schielen, Leistung bringen zu wollen, wütend sein falls die Erwartungen nicht in Erfüllung gehen, ist das Gegenteil von sich sicher fühlen (Dana, 2018). Genau diese Sicherheit bräuchten wir aber für eine gesunde Entwicklung, hin zu mehr Verbindung, hin zu Echtheit und hin zu Spontaneität.
Ein anderer Fokus
Und jetzt, lassen wir nun alle Erwartungen, Bewertungen und Belohnungen los oder verdammen wir sie? Das wäre möglich und sehr extrem, doch das kann es auch nicht sein. Es braucht eine Fokusverschiebung laut Alfie Kohn, von Wettbewerb hin zu Kooperation. Es braucht mehr intrinsische Motivation (Kohn, 2018; Deci & Ryan, 1985). Es braucht Autonomie und ein wirkliches Ziel, bzw. einen wirklichen Grund etwas tun zu wollen. Dieser wirkliche Grund, etwas tun zu wollen, ist nicht an äußere Belohnungen gebunden, sondern an diesen inneren authentischen Impuls, sich wirklich mit einer Sache zu befassen. Eltern und deren Kinder sind gut beraten, sich mit Kohn zu befassen und vielleicht die Brille zu wechseln, hin zu Förderung von Neugierde und einer Liebe zum Lernen und weg von Belohnung und Bestrafung. Es braucht also einen anderen Fokus. Kommen wir wieder zurück zu Feldenkrais. Sehr oft frage ich mich, warum Menschen eigentlich Feldenkrais machen. Ein starker und weit verbreiteter Grund ist die Schmerzreduktion. Das ist ok, doch was passiert wenn die Schmerzen weg sind, kommen diese Menschen dann wieder oder praktizieren sie weiter? Die Antwort ist, manche ja, manche nein. Die, die weiter praktizieren, werden magische Dinge erleben. Das waren die Worte meiner Lehrerin Angel Di Benedetto. Sie nannte es die Feldenkrais Magie.
Selbstliebe
Wie geht es nun weiter? Ein Mensch möchte also sein Selbstbild verbessern. Laut Feldenkrais steht dabei als erstes die Würdigung des eigenen Selbst an, unabhängig davon ob damit ein produktiver Nutzen für die Gesellschaft einhergeht. Diese Würdigung muss unabhängig sein und den inhärenten Wert des Menschen sehen. Diese Menschen erreichen laut Feldenkrais ein Level an Selbstentwicklung, der den meisten Menschen verborgen bleibt. Diese anderen Menschen arbeiten sehr stringent und leider mit purer Willenskraft, um großartige Ziele zu erreichen, vergessen sich meist dabei auf ihren Weg und verhärten dadurch. Das ist auch voll in Ordnung. Es ist nunmal eine individuelle Entscheidung. Doch manchmal führen diese Entscheidungen zu chronischen Krankheiten, Arbeitsplatzverlust und existentiellen Sorgen. Was nun? Selbstliebe gegenüber der ganzen Person.
Nicht Teile, sondern das Ganze
Ich schrieb, gegenüber der ganzen Person. Wenn mir jetzt eine Aktivität nicht gefällt, ändere ich nicht primär diese Aktivität, sondern schaue mir das Selbstbild dahinter an und arbeite daran, ändere somit die Dynamik des Selbstbildes. Die Aktivität wird sich dementsprechend mit ändern. Nehmen wir Beispiele:
- Wie sitze ich?
- Wie stehe ich?
- Wie gehe ich?
- Wie liege ich auf dem Boden?
- Wie nehme ich meinen Körper wahr?
In unserer Kultur sitzen wir auf Stühlen. Ok, woanders gibt es keine Stühle. Ist das jetzt schlecht? Ich würde eher dazu tendieren zu sagen, dass es gut ist. Denn dann sitze ich z.B. auf dem Boden und muss mich notwendigerweise mit meinen Hüftgelenken auseinandersetzen. Dann stelle ich vielleicht fest, dass meine Hüftgelenke sich dank meiner Sitzgewohnheiten auch angepasst haben und es mir gar nicht möglich ist, auf dem Boden zu sitzen. Vielleicht sitze ich da eine Weile, stehe dann auf und stelle fest, dass das Aufstehen sehr anstrengend war. Dann will ich loslaufen und merke, dass mein Körper noch gar nicht bereit dafür ist. Dann bin ich total fertig, will mich hinlegen und merke, dass ich gar nicht auf dem Boden liegen kann. Mir tut einfach alles weh. Die Wahrnehmung ist dabei leider nur auf den Teilen, die nicht funktionieren, die Probleme machen, die Schmerzen oder Spannungen hervorrufen. Jetzt könnte ich provokant fragen: Wie viel von Dir, von deinem Körper, nimmst du wirklich war?
Komplettierung ist Selbstliebe
Laut Feldenkrais besteht ein komplettes Selbstbild in einer Bewusstheit aller Gelenke des Skeletts und deren Verbindungen durch Muskeln, sowie der kompletten Oberfläche des Körpers. Wie schon bereits erwähnt, wenn wir eine Position ändern, oder eine Aktivität, so ändert sich auch das Selbstbild. Das, was uns täglich dient, ist in unserem Bild. Das, was wir nicht brauchen, nutzen wir auch nicht, und somit ist es nicht in unserem Bild. Die Art und Weise wie ich mich gebrauche, wie ich laufe, stehe, meine Schultern halte, meinen Kopf orientiere, meine Wirbelsäule nutze, wie ich mich generell ausdrücke, basieren auf diesen Selbstbild. Wenn ich mich künstlich aufblase, oder eine Maske trage, so mag ich in einem sozio-kulturellen Umfeld gewisse Vorteile haben. Mir tue ich damit keinen Gefallen. Und ich bin der einzige, der dies weiß, was von mir echt ist und was gespielt. Wenn ich jetzt das Selbstbild ändern möchte, komme ich besser voran und mir dadurch auch näher, sofern ich an dem Bild arbeite und nicht an partikularen Einzelaktivitäten.
“Fortschritt bzw. Verbesserung, und somit eventuell auch Glück, entsteht durch eine konstante und stufenweise Veränderung von Variablen. Diesen Prozess nenne ich Lernen.”
Dieses Lernen wünsche ich Dir von ganzen Herzen. Auf das du deinem Potential näher kommst und es in die Welt bringen magst.
Literatur:
- Dana, Deb (2018). The Polyvagal Theory in Therapy. Engaging the rhythm of regulation. New York: W. W. Norton & Company, Inc.
- Deci, E. L. & Ryan, R. M. (1985). Intrinsic motivation and self-determination in human behavior. New York: Plenum.
- Feldenkrais, Moshe (1990). Awareness through Movement. San Francisco: Harper Collins
- Kohn, Alfie (2018). Punished by Rewards: The Trouble with Gold Stars, Incentive Plans, A's, Praise, and Other Bribes. Boston: Houghton Mifflin Company
- Penfield, Wilder (1959). The interpretive cortex; the stream of consciousness in the human brain can be electrically reactivated. Science (New York, N.Y.), 129(3365), 1719–1725. https://doi.org/10.1126/science.129.3365.1719