Die folgenden Zeilen stammen von Jacqueline C. Lair, einem tief verunsicherten Menschen auf der Suche nach dem Selbst. Es die persönliche Geschichte von Jacqueline, welche eine Therapie in der Klinik in Bad Herrenalb bei Walther H. Lechler macht. Es ist eine Geschichte, nicht sehr bekannt, für manche Menschen eventuell sogar verstörend, dennoch unglaublich tiefgreifend, denn sie macht deutlich, was nicht nur Jacqueline braucht, sondern was viele von uns suchen und so dringend brauchen.

“Während ich den Aufzugknopf drücke, fällt mir ein Schwur ein, den ich geleistet habe, ehe ich zehn Jahre alt war. Ich schwor, daß ich niemals irgend jemanden brauchen würde. Daß mich niemand zu lieben brauchte und daß ich niemals so viel Gefühl investieren würde, daß mich irgend jemand oder irgend etwas verletzten würde. Man braucht nicht viel Grips dazu, um zu merken, daß damit der Verlauf meines Lebens vorgezeichnet war. Ich war noch keine zehn und war schon einsam. Es war eigenartig. So sah es in meinem Inneren aus, während ich mich nach außen sehr konventionell benahm. Die Anspannung, die es mich gekostet hat, meine arme Seele all diese Jahre zu behüten, gehört mit zu den Dingen, die mich umbringen (Lair & Lechler, S. 54, 1983).”

Als ich diese Zeilen las, stoppte ich kurz. Ich konnte da mitgehen, sehr gut mitgehen. Niemand mehr brauchen, nicht mehr aufmachen, um nicht verletzt zu werden. Das kenne ich. Woher rührt dieser Glaubenssatz, niemand mehr zu brauchen, niemanden rein zu lassen? Wahrscheinlich aus nicht gerade tollen Beziehungserfahrungen. Am Ende des Tages ist es ein Schutzmechanismus, welcher wahrscheinlich eine lange Geschichte hat. Eine Geschichte durchzogen von gefährlichen Signalen, statt Signalen von Sicherheit, Reziprozität und Resonanz, welche schließlich zu Verbindung führen. Das Ergebnis aus immer wiederkehrenden Signalen von Gefahr ist ein dysreguliertes Nervensystem und ein Schutzmechanismus durch Verbindungsabbruch (Dana, 2018).

Walther H. Lechler schreibt folgendes:

“Jeder, der in eine Klinik kommt, glaubt, daß ihm etwas fehlt, daß er in einer Krise steckt. Und wenn man es als Mangel oder Krise bezeichnet, muß es eine Krankheit sein. Und wenn man krank ist, muß es Heilung geben. Aber ich nenne es Hunger und Durst. Und für Hunger und Durst gibt es keine Kur. Du mußt essen und trinken. Du mußt ausreichend Nahrung zu dir nehmen. Und das ist es, was uns auf der emotionalen Ebene fehlt. Selbst auf der geistigen Ebene ernähren wir uns nicht ausreichend. Das ist keine Krankheit, sondern ein Zustand des Un-Behagens, ein Zustand des Mangels. (…)

Wir haben gelernt, einen hohen Preise für ein bißchen Liebe zu bezahlen. Was wir in dieser Welt nicht gelernt haben, ist zu nehmen. Wir haben gelernt zu geben, und wir haben gelernt zu empfangen, was uns gegeben wird. Aber wir wissen nicht, daß wir auch nehmen dürfen. Die Bibel sagt: > Geben ist seliger als Nehmen. < Doch in unserer Klinik müssen viele von uns zunächst einmal lernen > Nehmen ist seliger <, denn nur ein Mensch, dessen eigene Bedürfnisse erfüllt sind, kann wirklich geben. (…)

Wir können nicht geben, was wir nicht haben, genauso wenig wie unsere Eltern uns nicht geben konnten, was sie selbst nicht hatten (Lair & Lechler, S. 33, 1983).”

Die Kur bei Hunger und Durst ist also Essen und Trinken. Wie aber gleichen wir dann etwas aus, was unsere Eltern, welche es selbst nicht besser wussten und konnten und vielleicht auch nicht wollten, nicht gegeben haben? Aus prozess- und embodimentfokussierter-psychologischer Sichtweise könnten wir uns nachbeeltern. Wie könnte dies genau aussehen?

Es könnte mit einer emotionalen Differenzierung beginnen. Diese emotionale Differenzierung beinhaltet eine korrektive Erfahrung, welche diese parafunktionalen Beziehungsmuster auflöst. Parafunktional deshalb, weil einst ein Erlebnis mit seinen dazugehörigen Verhaltensweisen funktional war. Das Verhalten war einst hilfreich, ist es jetzt allerdings nicht mehr. Diese emotionale Differenzierung beinhaltet z.B. die Bewusstwerdung, dass die Eltern ihr bestes gegeben haben und es einfach nicht besser konnten, es nicht besser wussten oder vielleicht auch nicht besser wollten. Fakt ist, es gehört der Vergangenheit an. Die alternative Erfahrung wäre im Hier und Jetzt verankert und ist somit nicht einem ständigen Suchen nach Gründen in der Vergangenheit verhaftet. Verhaftet sprichwörtlich. Es gleicht in der Tat so, als würde man sich selbst Handschellen anlegen, auch wenn dies nicht bewusst und gewollt der Fall ist.

Dabei bekommt Berührung und Augenkontakt eine entscheidende Bedeutung. Der Augenkontakt in einer therapeutischen Beziehung kann  eine lindernde Wirkung haben. In PEP (Prozess- und Embodimentfokussierte Psychologie) sprechen wir von visuellen Bonding. Die Stimme des Therapeuten wirkt dabei entspannungsinduzierend. Wir sprechen hier vom vokalen Bonding. Zusätzlich die Selbstberührung, d.h. das Beklopfen bestimmter Körperpunkte, insbesondere im Gesicht und an der Hand, wirkt spannungsregulierend.

Abschließend möchte ich hinzufügen, dass diese Nachbeelterung sehr oft über längere Zeiträume in psychotherapeutischen Behandlungen stattfindet. Jetzt stell dir mal vor, du stellst dich vor den Spiegel, legst deine Hand auf deine Brustgegend und sprichst in einer liebevollen und verständnisvollen Weise mit dir. Was könnte da wohl passieren? Die Antwort darauf ist, wir wissen es nicht genau, bevor wir es nicht ausprobieren. Der Spiegel belügt dich nie, er bildet dich nur ab. Mehr kann er gar nicht. Die Frage wäre, was du reingibst, also was du dem Spiegel zum spiegeln gibst. 

Literatur:

  • Dana, Deb (2018). The Polyvagal Theory in Therapy. Engaging the rhythm of regulation. New York: W. W. Norton & Company, Inc.
  • Lair, Jacqueline C. & Lechler Walther H. (1983). Von mir aus nennt es Wahnsinn. Protokoll einer Heilung. Stuttgart: Kreuz Verlag

Bilder:

  • Foto von Roman Kraft (Unsplash)