Aufmerksamkeit und Gewohnheit. Zwei sehr wichtige Begriffe in der Feldenkrais Welt. Sie sind weder negativ noch positiv behaftet, lediglich Konzepte, deren Verständnis von großer Wichtigkeit ist. Dazu ein kleines Beispiel.

Etwas anders tun

In einer Feldenkrais Klasse liegen wir normalerweise am Boden und führen von dort Bewegungen aus. So sage ich den Teilnehmern, sie sollen ihr rechtes Bein vom Liegen zum Stehen bringen. Dafür gibt es natürlich viele verschiedene Wege. Ich kann das Bein gerade nach oben ziehen, den Fuß dabei am Boden liegen lassen oder ihn zusätzlich in die Luft heben. Ich kann das Bein jedoch auch über die Außenseite nach oben ziehen, der Fuß bleibt dabei passiv und wird am Boden entlang gezogen. Ich forme somit einen Halbkreis und schließlich steht das rechte Bein. Beide Möglichkeiten sind machbar, die eine jedoch erfordert eine höhere Muskelaktivierung der Rückenstrecker, was dazu führen kann, dass die Lendenlordose verstärkt wird. Dies kann bei manchen Menschen mit einem Bandscheibenvorfall oder chronischen Rückenleiden zu Schmerzen führen und gerade in diesem Kontext macht der Unterschied den Unterschied. Etwas anders zu tun ist von gewissen Vorteil. Mit “anders” meine ich, um die Worte von Moshé Feldenkrais zu benutzen, etwas frei von parasitären Zusatzhandlungen zu tun.

Die gut koordinierte Handlung

Ich möchte hier noch einmal kurz die vier Prinzipien einer gut koordinierte Handlung erwähnen:

  1. Abwesenheit von Anstrengung
  2. Abwesenheit von Widerstand
  3. Ununterbrochene Atmung
  4. Anwesenheit von Reversibilität

Parasitäre Zusatzhandlungen

Die parasitären Zusatzhandlungen erhöhen den Widerstand einer gut koordinierten Handlung. Dies zu verstehen ist wichtig in Verbindung mit dem Feldenkrais Prinzip „Abwesenheit von Widerstand“. Parasitäre Bewegungen sind immer Teil unserer Bewegungen. Niemand von uns ist perfekt. Das macht uns Menschen aus. Nehmen die parasitären Bewegungen in einer Handlung überhand, so boykottieren diese die Effizienz der Handlung. Über Zeit gehen diese parasitären Bewegungen in Fleisch und Blut über, sie werden zur Gewohnheit. Erstmal zur Gewohnheit geworden, ist es eine wahre Herausforderung diese wahrzunehmen und zu ändern, bzw. zu eliminieren. Beim Lernen einer neuen Handlung bzw. Tätigkeit, sei es das Fahrradfahren, das Klavierspielen, der Handstand etc. geht alles gut, sofern die Handlung von parasitären Bewegungen befreit ist. Das ist es meistens nie. Wir bewegen uns auf einem Kontinuum zwischen Perfektion und der Unfähigkeit eine Handlung überhaupt auszuführen.

Unterschied zwischen einem Genie und einem Nicht-Genie

Hier möchte ich anbringen, dass der Unterschied zwischen einem Genie und einem Nicht-Genie darin besteht, dass der Erstgenannte ein ziemlich gut ausgearbeitetes Bild von sich hat, von dem was er will und wie er es ausführt und eine ziemlich gut funktionierende Feinmotorik, genau zum richtigen Zeitpunkt die richtigen Muskeln zu aktivieren. In anderen Worten, parasitäre Bewegungen waren Teil seines Entwicklungsprozesses und er ist daran gewachsen und wurde immer besser, bis er schließlich auf dem Kontinuum dem Grad der Perfektion gefährlich nahe rückte. Parasitäre Bewegungen müssen nicht unser Leben bestimmen!

Gewohnheit und Aufmerksamkeit

An dieser Stelle möchte ich eine Passage von Walter Benjamin einbinden. Ein Absatz aus seinem Buche “Denkbilder”:

"Gewohnheit und Aufmerksamkeit.

Die erste aller Eigenschaften, sagt Goethe, ist die Aufmerksamkeit. Sie teilt jedoch den Vorrang mit der Gewohnheit, die ihr vom ersten Tage an das Feld bestreitet. Alle Aufmerksamkeit muß in Gewohnheit münden, wenn sie den Menschen nicht sprengen, alle Gewohnheit von Aufmerksamkeit verstört werden, wenn sie den Menschen nicht lähmen soll. Aufmerken und Gewöhnung, Anstoß nehmen und Hinnehmen sind Wellenberg und Wellental im Meer der Seele. Dieses Meer aber hat seine Windstillen. Daß einer, der ganz und gar auf einen quälenden Gedanken, auf einen Schmerz und seine Stöße sich konzentriert, dem leisesten Geräusche, einem Murmeln, dem Flug eines Insekts zur Beute werden kann, den ein aufmerksameres und schärferes Ohr vielleicht gar nicht vernommen hätte, steht außer Zweifel. Die Seele, so meint man, läßt sich um so leichter ablenken, je konzentrierter sie ist. Aber ist dieses Lauschen nicht weniger das Ende als die äußerste Entfaltung der Aufmerksamkeit — der Augenblick, da sie aus ihrem eigenen Schoße die Gewohnheit hervorgehen läßt? Dies Schwirren oder Summen ist die Schwelle, und unvermerkt hat die Seele sie überschritten. Es ist, als wolle sie nie mehr in die gewohnte Welt zurück, sie wohnt nun in einer neuen, in der der Schmerz ihr Quartiermacher ist. Aufmerksamkeit und Schmerz sind Komplemente. Doch auch Gewohnheit hat ein Komplement, und dessen Schwelle übertreten wir im Schlaf. Denn was im Traume sich an uns vollzieht, ist ein neues und unerhörtes Merken, das sich im Schoße der Gewohnheit losringt. Erlebnisse des Alltags, abgedroschene Reden, der Bodensatz, der uns im Blick zurückblieb, das Pulsen des eigenen Blutes — dies vorher Unvermerkte macht — verstellt und überscharf — den Stoff zu Träumen. Im Traum kein Staunen und im Schmerze kein Vergessen, weil beide ihren Gegensatz schon in sich tragen, wie Wellenberg und Wellental bei Windstille ineinander gebettet liegen (Benjamin, S. 107 f., 1974).

Waren dies nicht sehr schöne und tiefgründige Worte? Die Aufmerksamkeit und die Gewohnheit bedingen einander. Es geht hier sehr gut hervor, dass ein Leben voller Aufmerksamkeit an Utopia grenzt, genauso so wie ein Leben voller Gewohnheit zu Trott werden kann. Seine Fühler von Zeit zu Zeit auf die Ausführung von den alltäglichen Tätigkeiten zu richten, kann umwälzende Neuerungen mit sich bringen. Denn nun machen wir uns zum Thema unserer Aufmerksamkeit und mit genauer Zensur, lernen wir die vielen verschiedenen Facetten einer Tätigkeit inklusive deren Optimierung kennen. Wir lernen das der Unterschied den Unterschied macht, mag er auch noch so klein sein. Parasitäre Bewegungen müssen nicht sein!

Abschließende Worte

Beenden möchte ich diesen Artikel mit ein paar Zeilen von Walter Benjamin. Zeilen über den guten Schriftsteller. Tauschen Sie bei Bedarf einfach den Schriftsteller gegen den Buchhalter, den Interimsmanager, dem Bäcker, dem Gärtner, dem Schneider etc. aus.

“Der gute Schriftsteller sagt nicht mehr als er denkt. Und darauf kommt viel an. Das Sagen ist nämlich nicht nur der Ausdruck sondern die Realisierung des Denkens. So ist das Gehen nicht nur der Ausdruck des Wunsches, ein Ziel zu erreichen, sondern seine Realisierung. Von welcher Art aber die Realisierung ist: ob sie dem Ziel präzis gerecht wird oder sich geil und unscharf an den Wunsch verliert — das hängt vom Training dessen ab, der unterwegs ist. Je mehr er sich in Zucht hat und die überflüssigen, ausfahrenden und schlenkernden Bewegungen vermeidet, desto mehr tut jede Körperhaltung sich selbst genug, und desto sachgemäßer ist ihr Einsatz. Dem schlechten Schriftsteller fällt vieles ein, worin er sich so auslebt wie der schlechte und ungeschulte Läufer in den schlaffen und schwungvollen Bewegungen der Glieder. Doch eben darum kann er niemals nüchtern das sagen, was er denkt. Es ist die Gabe des guten Schriftstellers, das Schauspiel, das ein geistvoll trainierter Körper bietet, mit seinem Stil dem Denken zu gewähren. Er sagt nie mehr als er gedacht hat. So kommt sein Schreiben nicht ihm selber, sondern allein dem, was er sagen will, zugute (Benjamin, S. 135 f., 1974).

Literatur:

  • Benjamin, Walter (1974). Denkbilder. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag