Wenn ich zu Dir sage, jetzt gähne doch mal, was denkst du dann? Wenn du in der Öffentlichkeit bist und gähnen musst, hältst du deine Hand vor dem Mund? Mit offenen Mund zu gähnen, zählt laut soziokulturellen Regeln zu den Verhaltensweisen, die als unhöflich abgestempelt werden. So schreibt Provine (1986), es ist langsam an der Zeit den Glaubenssatz, Gähnen sei ein Zeichen von Langeweile, ad acta zu legen. Denn Gähnen hat viel mehr zu bieten, als wir zu denken vermögen. Gähnen steckt ja auch an. Sind sich die, die sich da dann angähnen, sympathischer? Hmm, höchstwahrscheinlich. Wir gähnen aus unterschiedlichen Gründen. Was auch immer der Grund ist. Heute soll es darum gehen, dem Gähnen eine besondere Stellung in unserem Leben einzuräumen. Vielleicht bringt dich dieser Artikel ja zum Gähnen. Falls ja, Glückwunsch, alles richtig gemacht. Falls nein, gähn doch mal.

Die Atemlehrerin Carola Spitz

Manchmal gähnen wir aufgrund von Müdigkeit, manchmal gähnen wir auch aufgrund von Langeweile. Langeweile führt dazu, dass die Atemzüge flacher werden bis zu dem Punkt, wo das Gähnen als Notfallmaßnahme uns wieder in unseren normalen Atemfluss bringt. Die Aus- sowie die Einatmung sind beim Gähnen stark vertieft. Das Gähnen stellt sich von alleine wieder ein, sobald sich ein Gleichgewicht zwischen Sauerstoff und Kohlendioxid ergeben hat. Carola Speads (1992) empfiehlt, dass Gähnen einfach nur zuzulassen, den Mund dabei weit zu öffnen, den Kopf nicht in den Nacken zu legen, den Nacken lang werden zu lassen. Falls die Augen feucht werden und tränen, lass es zu, denn es ist gut so. Sobald das Gähnen von alleine zum Stillstand kommt, vergleiche deine Atmung jetzt mit der von vor dem Gähnen? Was hat sich geändert?

Zapchen Somatics und Gähnen

Laut Cornelia Hammer (2020) ist Gähnen eine Methode, die dich entspannt und wacher macht. Zudem erhöht Gähnen die Fähigkeit zur Resonanz, also mit anderen mitzuschwingen. Gerade dann wenn deine Selbstkritik mal wieder die Oberhand gewinnt, gähne was das Zeug hält, denn wir wissen ja bereits, dass der Körper Einfluss auf den Kopf hat, sowie auch der Kopf Einfluss auf den Körper hat. Ständige Selbstkritik, man sei nicht perfekt, man erlaube sich keine Fehler usw., wirken sich stresserzeugend und stressverstärkend auf den Körper aus. Ach wie toll, dass diese körperliche Stresserfahrung gut über das Gähnen reguliert werden kann.

Was sagt die Neurotheologie dazu

Gähnen zählt sogar zur Hitliste der Entspannungsmethoden. Laut Newberg und Waldman (2010) steht Gähnen auf Platz 5 und kann mit anderen Entspannungsmethoden locker mithalten. Es aktiviert neuronal gewisse Bereiche im Gehirn, welche für die Entstehung von Gefühlen wesentlich ist, insbesondere der Empathie, und somit bei sozialen Interaktionen wichtig sind. Denn bei sozialen Interaktionen sind Spiegelneurone sehr wichtig. Im Scheitellappen (ein Teil der Großhirnrinde, der sich oben am Kopf befindet) sitzt der sogenannte Precuneus. Der Precuneus ist wichtig für Bewusstsein, Selbstreflexion und die Erinnerungsfähigkeit. Ergo, Gähne unterstützt den Precuneus. Newberg und Waldman (2010, S. 215f.) listen in ihrem Buch eine ganze Reihe von Vorteilen auf. Lese diese mal durch und frage dich, welche davon du bereits kanntest.

  1. Gähnen stimuliert Wachsamkeit und Konzentration
  2. Gähnen optimiert die Gehirntätigkeit und den Stoffwechsel
  3. Gähnen fördert die kognitiven Funktionen
  4. Gähnen erhöht den Abruf von Erinnerungen
  5. Gähnen steigert das Bewusstsein und die Fähigkeit, in sich hineinzuhören
  6. Gähnen mindert Stress
  7. Gähnen entspannt alle Körperteile
  8. Gähnen fördert die freiwillige Kontrolle über Muskeln
  9. Gähnen steigert athletische Fähigkeiten
  10. Gähnen ermöglicht die Feinabstimmung deines Zeitgefühls
  11. Gähnen fördert Einfühlungsvermögen und soziales Bewusstsein
  12. Gähnen steigert Vergnügen und Sinnlichkeit

Und noch mal Zapchen Somatics

Für Julie Henderson (2010) ist Gähnen eine der leichtesten und besten Dinge, die du für dich tun kannst. Gähnen entspannt den Rachen, den Gaumen, den oberen Nacken und die Hirnbasis. Die Hirn- und Rückenmarksflüssigkeit kommt durch das Gähnen wieder ins Gleichgewicht. Das hält das Gehirn flexibel und reguliert Stress, in dem es die Verstandestätigkeit herunterfährt. Die Speichelproduktion wird angeregt, somit wird auch die Verdauung verbessert. Und!!! Ganz wichtig, es hilft bei der Produktion von den Neurotransmittern Serotonin und Melatonin. Serotonin ist tagsüber gut, denn es macht gute Laune. Melatonin hilft abends, besser einzuschlafen. Also, gähne was das Zeug hält, auch tagsüber. Atme laut Julie Henderson tief ein, dann öffne den Mund weit, hebe den Gaumen an und mache ein Gähngeräusch. Wenn es nicht gleich beim ersten Mal klappt, probiere es immer wieder, bis sich ein natürliches Gähnen einstellt.

Gähnen, polyvagal betrachtet

Und, brauchst du noch mehr Gründe? Was sagt denn die Polyvagal Theorie zum Gähnen? Beim Gähnen wechseln wir von einem Stresszustand in einen Entspannungszustand. Dieser Entspannungszustand hilft uns bei unserem allgemeinen Wohlbefinden, sowie auch bei sozialen Interaktionen, denn Soziales läuft meist dann besser, wenn wir uns sicher fühlen. Sicher fühlen wir uns dann, wenn wir entspannt im Körper sind, keine Gefahr wahrnehmen (also keinen Stress spüren) und uns mit uns selbst und anderen verbunden fühlen. Vielleicht kann Gähnen seinen Beitrag dazu leisten. Dazu eine Übung von Rosenberg (2017). Viel Spaß damit.

Du brauchst dafür eine Matte am Boden. In anderen Worten, mache es Dir bequem. Lege dich auf den Rücken. Verschränke die Finger der Hände miteinander und bringe sie hinter den Kopf, so dass der Kopf in den Handinnenflächen ruht. Deine Hände halten dabei den Kopf. Nun bewege nur deine Augen nach links und dann nach rechts. Schaue sozusagen über deine Schulter nach hinten und oben. Bewege die Augen nur in dem Rahmen, der dir möglich ist. Leichtigkeit ist das Prinzip dabei. Bitte drehe dabei nicht den Kopf, sondern schaue nur mit den Augen. Schaue nach links über die Schulter. Bleibe dort, gerne für längere Zeit, also 30 Sekunden oder länger. Atme und warte auf ein Regulationszeichen deines Körpers. Das könnte Schlucken sein, oder Seufzen, aber auch Gähnen. Wenn du gähnen musst, lass es zu und genieße es so gut du kannst. Dann komme wieder zur Mitte mit den Augen, warte kurz und schaue dann nach rechts, so weit es leicht ist und warte auch dort auf ein Regulationszeichen. Komme dann wieder zurück zur Mitte und genieße den neuen Zustand.

Gähnen hilft bei Schlafstörungen, Klopfen auch

Schlafstörungen haben mannigfaltige Gründe. Diese werden wir hier nicht abdecken. Darüber gibt es unzählige Bücher. Das Klopfen bei PEP (Prozess- und Embodimentfokussierte Psychologie) nach Michael Bohne dient dabei der Stressreduktion. Die Sätze, welche dabei ausgesprochen werden, als Beruhigung für den Verstandesapparat. Jetzt ist es ja so, dass nicht viele Menschen auf die Idee kommen, bei Schlafstörungen zu klopfen. Es hilft aber. Ich machte bis jetzt öfters die Erfahrung in der Klinik mit Patientinnen, dass Klopfen das Stresserleben enorm reduziert. Beim Klopfen wird aktiv an das Schlafproblem gedacht. Eigentlich kontraproduktiv, oder? Falsch gedacht. Durch den Fokus auf das Schlafproblem und das Klopfen wird dieser Stress, welcher durch Nicht-Schlafen ausgelöst wird, reduziert. Es kommt somit zu einer neuen Erfahrung, zu einer Entkopplung auf Nervensystemebene, d.h. eigentlich kann ich nicht schlafen, jetzt klopfe ich und nehme Entspannung war. Entspannung und Spannung vertragen sich nicht so gut, vor allem dann nicht, wenn sie zeitgleich auftreten. Also, wenn Entspannung eintritt, kann Spannung (= die Gedanken) weniger anrichten, im Sinne von, den Schlaf rauben. Was sich nach einem oder mehreren Klopfdurchgängen einstellt, ist ein Gähnen. Dieses Gähnen wirkt tiefenentspannend und schafft wieder eine Verbindung zum Körper. Der Körper sendet Signale von Müdigkeit. Wir nehmen diese wahr und schaffen es dann eventuell innerlich umzuschalten.

So, ich denke, dass war einiges zum Gähnen, mit einigen Tipps. Gleiche Worte wie zu Beginn, gähn doch mal.

Literatur:

  • Hammer, Cornelia (2020). Im Körper zu Hause sein. Mit Zapchen Somatics zu Leichtigkeit und Wohlbefinden. Heidelberg: Carl-Auer Verlag
  • Henderson, Julie (2010). Embodying Well-Being. Bielefeld: AJZ Verlag
  • Klein, Gudrun und Bohne, Michael (2022). Bitte schlafen! Klopfen als Selbsthilfe bei Schlafstörungen. Heidelberg: Carl-Auer Verlag
  • Newberg, A. und Waldman M. R. (2010). Der Fingerabdruck Gottes. Wie religiöse und spirituelle Erfahrungen unser Gehirn verändern. München: Kailash
  • Provine, Robert Raymond (1986). Yawning as a stereotyped action pattern and releasing stimulus. Ethology. 1986;72:109–22.
  • Rosenberg, Stanley (2017). Accessing the Healing Power of the Vagus Nerve: Self-Help Exercises for Anxiety, Depression, Trauma, and Autism. Berkeley: North Atlantic Books
  • Speads, Carola (1992). Ways to better breathing. Rochester, Vermont: Healing Arts Press

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