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Die stille Herausforderung der digitalen Askese

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In einer Welt, in der sich Kommunikation, Unterhaltung und Information zunehmend ins Digitale verlagern, erscheint der Versuch, auf Social Media oder das Smartphone zu verzichten, fast wie ein spiritueller Entzug. Stille, die früher mit Muße und innerer Sammlung assoziiert wurde, wird heute häufig als Leere erlebt, die es schnell zu füllen gilt – sei es mit Instagram-Reels, TikTok-Videos oder den neuesten Nachrichten in sozialen Netzwerken. Der Reflex, zur nächsten Ablenkung zu greifen, scheint beinahe zwanghaft. Doch was macht Social Media so anziehend – und zugleich problematisch? Welche psychologischen Effekte sind wissenschaftlich nachgewiesen? Und welche Strategien helfen, sich gesund davon abzugrenzen?

Zwischen digitalem Nutzen und psychischer Last

Lass uns zuerst einmal auf die Vorteile von Social Media eingehen. Social Media sind aus dem modernen Alltag nicht mehr wegzudenken – und das nicht ohne Grund. Sie ermöglichen:

  • Soziale Vernetzung: Menschen können über große Distanzen hinweg in Kontakt bleiben und neue Beziehungen knüpfen.
  • Informationsaustausch: Inhalte werden niedrigschwellig verbreitet, wodurch sich etwa politische oder gesellschaftliche Bewegungen schnell organisieren lassen.
  • Selbstausdruck und Identitätsbildung: Besonders Jugendliche nutzen Social Media zur Selbstdarstellung und zur Entwicklung ihres Selbstkonzepts.

Darüber hinaus zeigen Studien positive Zusammenhänge zwischen der Nutzung sozialer Medien und dem subjektiven Wohlbefinden – allerdings vor allem dann, wenn diese Medien zur aktiven Kommunikation genutzt werden, nicht zum passiven Konsum .

Die Schattenseiten: Nachteile und Risiken

Trotz der genannten Vorteile warnt die Studie auch vor problematischen Effekten:

  • Vergleichsprozesse und Selbstwertprobleme: Insbesondere die selektive Selbstdarstellung anderer auf Social Media führt zu verzerrten Selbstvergleichen, die Neid, Unzufriedenheit und geringes Selbstwertgefühl begünstigen .
  • Suchtartige Nutzung: Die permanente Verfügbarkeit, das variable Belohnungssystem (z. B. Likes) und soziale Reaktionspflichten führen bei vielen zu übermäßiger Nutzung.
  • Beeinträchtigung mentaler Gesundheit: Exzessive Nutzung wurde in mehreren Studien mit erhöhtem Risiko für Depressionen, Angststörungen und Schlafstörungen in Verbindung gebracht – insbesondere bei Jugendlichen.

Allerdings relativiert die Studie die alarmistischen Narrative vieler Medienberichte. Die Effekte auf Wohlbefinden und psychische Gesundheit seien in der Regel „klein bis moderat“, jedoch individuell sehr unterschiedlich.

Was die Studie konkret herausgefunden hat

Die Metaanalyse der Autoren über 114 Einzelstudien kommt zu dem Schluss, dass Social Media nicht pauschal als „schädlich“ eingestuft werden können (Appel et al., 2020). Entscheidend sind:

  • Art der Nutzung: Passive Nutzung (scrollen, beobachten) wirkt sich negativer aus als aktive (interagieren, posten).
  • Individuelle Disposition: Menschen mit bereits geringerem Selbstwert oder höherem sozialen Vergleichsbedürfnis sind stärker gefährdet.
  • Kontext und Zielsetzung der Nutzung: Wer Social Media gezielt für soziale Beziehungen oder kreative Zwecke einsetzt, kann sogar profitieren.

Empfehlungen für den Einzelnen

Die Studie selbst sowie weiterführende Forschung legen nahe, dass reflektierter Umgang der Schlüssel ist. Folgende Maßnahmen sind hilfreich:

  • Nutzungsbewusstsein schaffen: Mithilfe von Apps oder Tagebüchern die eigene Bildschirmzeit protokollieren.
  • Digitale Diät statt Totalverzicht: Feste Zeiten für Social Media festlegen (z. B. „kein Scrollen vor dem Frühstück“).
  • Aktiv statt passiv nutzen: Fokus auf Interaktion statt Konsum.
  • Push-Benachrichtigungen deaktivieren: Weniger Trigger = weniger Impulsnutzung.
  • Soziale Vergleiche hinterfragen: Sich immer wieder daran erinnern, dass Online-Profile oft keine Realität abbilden.

Möglichkeiten der „Flucht“ vor Social Media

„Flucht“ bedeutet hier nicht unbedingt Rückzug, sondern bewusste Gegenbewegung zur Dauerverfügbarkeit. Konkrete Vorschläge:

  • Digital Detox Retreats: Zeitweise Handy-Abstinenz in einem unterstützenden Umfeld (z. B. Klosteraufenthalte, Natururlaube).
  • Monotasking üben: Statt paralleler Reize wieder lernen, sich auf eine Tätigkeit zu konzentrieren – ob Lesen, Spazieren, Kochen.
  • Analoge Kommunikationsformen pflegen: Briefe, Telefongespräche oder persönliche Treffen.
  • Stille wieder erlernen: Achtsamkeitsübungen, Meditation oder einfach bewusstes Sitzen ohne Input – um die Schwelle zur Langeweile zu senken.
  • Zweckbindung des Smartphones: Bewusst trennen zwischen nützlicher Funktionalität (z. B. Kalender, Kamera) und Ablenkungspotenzial.

Schluss: Zwischen Selbstbestimmung und Sogwirkung

Die Frage, ob Social Media unser Leben ruinieren, lässt sich nicht pauschal beantworten. Sie sind weder grundsätzlich gut noch schlecht – entscheidend ist die Art und Weise, wie wir mit ihnen umgehen. Die Studie von Appel, Marker und Gnambs zeigt differenziert, dass es auf Nutzungsmuster, Persönlichkeit und Kontext ankommt. Wer sich dieser Faktoren bewusst wird und Strategien für bewussteren Konsum entwickelt, kann Social Media als Werkzeug nutzen, statt sich davon vereinnahmen zu lassen. Vielleicht ist es also gar nicht die Stille, die unerträglich ist – sondern die Begegnung mit sich selbst in dieser Stille. Wer diese aushält, entdeckt unter dem digitalen Lärm womöglich etwas Wertvolleres: echte Verbindung, innere Ruhe und Selbstwirksamkeit.

Literatur:

  • Appel, M., Marker, C., & Gnambs, T. (2020). Are social media ruining our lives? A review of meta-analytic evidence. Review of General Psychology, 24(1), 60–74. https://doi.org/10.1177/1089268019880891

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