Hast du je darüber nachgedacht, was deine Augen und deine Stimme über dich verraten? John M. Hull, der in seinem Werk “Im Dunkeln sehen” (1992) eindrucksvoll seine Erfahrungen als Blinder beschreibt, gibt uns tiefe Einblicke in die Welt jenseits des Sehens. Diese Erfahrungen lassen sich auf faszinierende Weise mit der Polyvagal-Theorie verbinden, einer Theorie, die erklärt, wie unser Nervensystem Kommunikation und Sicherheit steuert. In diesem Artikel tauchen wir gemeinsam ein, um zu verstehen, wie Augen und Stimme nicht nur Ausdruck unserer Gefühle, sondern auch Schlüssel zur Verbindung mit anderen sind.

Gesichter und Stimmen - Hulls Reise ins Dunkel

John M. Hull beschreibt in berührenden Worten, wie er nach dem Verlust seines Augenlichts die Gesichter der Menschen in seinem Leben erlebte, oder besser gesagt, nicht mehr erlebte. Manche Menschen blieben mit einem klaren Gesicht in seiner Erinnerung, andere, die er erst nach seiner Erblindung kennenlernte, blieben für ihn “gesichtslos”. “Das Gesicht ist bloß der Ort, von dem die Stimme herkommt," schreibt er und betont, wie zentral die Stimme für ihn geworden ist: “Ich lerne immer mehr über die erstaunliche Fähigkeit der menschlichen Stimme, die Persönlichkeit zu zeigen.”

Hulls Worte zeigen uns, dass die Stimme nicht nur ein Mittel zur Kommunikation ist, sondern auch eine Brücke, die uns emotional und sozial miteinander verbindet.

Augen als Tor zur Seele - Die Perspektive der Polyvagal-Theorie

Laut der Polyvagal-Theorie (Porges, 2010) sind unsere Augen ein Schlüssel zu sozialer Interaktion. Der Blickkontakt, das rhythmische Bewegen der Augen und der Ausdruck, der in ihnen liegt, können Sicherheit und Vertrauen vermitteln. Hast du schon einmal bemerkt, wie ein weicher, zugewandter Blick dich entspannen kann?

In stressigen Situationen verändert sich jedoch unsere Wahrnehmung: Die Augen suchen nach Gefahren, der Blick wird starr oder weicht aus. In der Traumatherapie oder Hypnose wird gezielt mit langsamen Augenbewegungen gearbeitet, um Entspannung zu fördern. Durch die Aktivierung der vagalen Bremse können Augen eine beruhigende Wirkung auf das Nervensystem entfalten.

Stimmen als Resonanz des Inneren

“Der Ton macht die Musik”, heißt es, und tatsächlich steckt in der Stimme weit mehr, als wir auf den ersten Blick (oder besser: das erste Hören) wahrnehmen. Hull beschreibt eindrucksvoll, wie er Emotionen wie Müdigkeit, Freude oder Angst allein aus der Stimme seiner Mitmenschen herausspürt.

Die Polyvagal-Theorie erklärt, dass die Stimme durch die Aktivität des Vagusnervs gesteuert wird. Die Atmung, der Kehlkopf und die Gesichtsmuskeln beeinflussen, wie wir klingen und damit, wie wir auf andere wirken. Langsames, ruhiges Sprechen oder Singen kann nicht nur die Zuhörer beruhigen, sondern auch den Sprecher selbst.

Begegnungen neu denken

Für Hull war es eine große Herausforderung, Menschen ohne visuelle Hinweise kennenzulernen. Doch er entdeckte, dass die Stimme intime Details verrät, die oft unbewusst sind. “Mein Wissen von dir beruht auf dem, was wir zusammen erlebt haben, und nicht darauf, wie du aussiehst,” schreibt er.

In der Polyvagal-Theorie wird betont, wie wichtig liebevolle Präsenz und achtsame Kommunikation für die Regulation des Nervensystems sind. Dein Blick, deine Stimme und dein Atem können deinem Gegenüber signalisieren: Du bist sicher. Du bist willkommen.

Was wir von Hull und der Polyvagal-Theorie lernen können

  1. Achte auf deinen Blick: Ein weicher, zugewandter Blick schafft Verbindung. Lerne, die Augen als Werkzeuge der Beruhigung zu nutzen.
  2. Fühle in die Stimme hinein: Wie klingt deine Stimme, wenn du dich entspannt fühlst? Wie klingt sie, wenn du gestresst bist? Experimentiere mit langsamerem Sprechen und beobachte, was passiert.
  3. Sei präsent: Deine liebevolle Präsenz, dein Atmen, dein Lächeln, deine Gesten, sind stärkere Kommunikationsmittel, als Worte es je sein könnten.

John M. Hull und die Polyvagal-Theorie zeigen uns, wie tief Augen und Stimme in unsere Beziehungen eingebettet sind. Sie erinnern uns daran, dass wahre Verbindung nicht durch das Sehen, sondern durch das Fühlen entsteht. Vielleicht ist es genau diese Einsicht, die uns dabei helfen kann, einander wirklich zu begegnen.

Literatur:

  • Hull, John M. (1992). Im Dunkeln sehen: Erfahrungen eines Blinden. München: C.H. Beck.
  • Porges, Stephen W. (2010). The Polyvagal Theory: Neurophysiological Foundations of Emotions, Attachment, Communication, and Self-Regulation.

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