Ich bin eindeutig ein Liebhaber der Lektüre von Max Frisch. In dieser Lektüre schreibt Frisch über Charaktere, welche sich selbst zu finden versuchen. Es spricht dabei immer wieder von Bildern. Bilder, die der Charakter sich selbst gibt oder Bilder, die der Charakter von der Umgebung bekommt, ob er will oder nicht. Alle Charaktere von Frisch haben etwas gemeinsam. Es ist die Beschäftigung mit der Identität. Laut Frisch können diese Charaktere erst dann ein Leben in Würde führen, wenn sie sich selbst erkennen, mit den Sonnenseiten, sowie den Schattenseiten. Von daher ist es dem Menschen auferlegt, sein wahre Identität zu finden, um mit sich und seiner Umgebung in Frieden zu leben.

Als erstes nimmt sich ein Mensch selbst wahr, er erfährt sich selbst, eingebettet in einem sozialen Feld. In diesem Feld füllt er eine soziale Rolle aus, die ihm entspricht oder auch nicht. Als nächstes kämpft der Mensch damit, seine Wahrnehmung dieser Rolle, dieser Identität zu akzeptieren. Diese Wahrnehmung der gelebten und von außen gewollten Identität kann gewiss diskrepant zur eigenen wirklichen Identität sein, da es vom sozialen Feld so erwünscht ist. Es ist also erwünscht, diese spezifische Rolle einzunehmen. Um diese Entfremdung zu sich selbst zu überwinden, ist es dem Menschen auferlegt, sich selbst zu entwerfen. Wenn der Mensch sich nun auf den Weg begibt, sich selbst zu entwerfen, können Konflikte entstehen. Das können Konflikte mit der sozialen Gruppe sein, in der der Mensch eingebettet ist. Laut Frisch besteht ein Konflikt darin, mehr zu scheinen als zu sein, also ein Bild vorzugeben, das nicht der Realität entspricht. Dieses Bild entsteht aus der sozialen Rolle heraus und kommt entweder aus Eigenzwang oder aus Gruppenzwang. Dies erinnert mich an eigene Tendenzen, einer gewissen Rolle, von der ich dachte, dass ich sie habe, gerecht zu werden, ergo, ein gewisses Verhalten an den Tag zu legen. Eine weiterer Konflikt besteht darin, sich selbst zu stigmatisieren. Darunter könnte auch das psychologische Konzept der erlernten Hilflosigkeit fallen, welches ein Mensch eher unbewusst nutzt, um auch Macht über Menschen auszuüben. Der Mensch macht sich ganz klein, um ganz groß rauszukommen. Eine letzter Konflikt mit der sozialen Gruppe, ist die Rechtfertigung dysfunktionalen Verhaltens in der Vergangenheit, welches prädisponierend für die gegenwärtigen Erlebens- und Verhaltensmuster fungiert.

„Man kann alles erzählen, nur nicht sein wirkliches Leben; diese Unmöglichkeit ist es, was uns verurteilt zu bleiben, wie unsere Gefährten uns sehen und spiegeln, sie, die vorgeben, mich zu kennen, sie, die sich als meine Freunde bezeichnen und nimmer gestatten, daß ich mich wandle.…“ (Frisch, 1960)

Diese Zeilen sind ziemlich aussagekräftig. Sie erinnern mich an eigene Erfahrungen der Wut mit Freunden. Ich wollte mich entwickeln und hatte das Gefühl, sie würden es nicht zulassen, hielten an einem alten Bild von mir fest, spiegelten mir also das alte Bild, wobei ich doch das neue Bild leben wollte, das Bild, welches ich in dieser Zeit am Entwerfen war. Eine Lösung war, mich für kurze bzw. auch längere Zeit von gewissen Menschen zu verabschieden, um meiner eigenen Entwicklung treu zu bleiben, und zu staunen, welche neuen Züge des Bildes ich entdecken durfte.

Was steckt eigentlich hinter diesen Charakteren bei Max Frisch? Es handelt sich bei Frisch um orientierungslose, angstgeprägte und von sich selbst entfremdete Charaktere. Die Orientierung fehlt ihnen, weil sie aus Angst ihre wahre Identität nicht zu verwirklichen vermögen, entweder weil andere es ihnen aufgezwungen haben oder weil sie es sich selbst aufgezwungen haben. Dies führt letzten Endes in die Entfremdung. Was kann es also sein, was ein Mensch täglich lebt? Was ist echte Substanz, aus dem Menschen selbst, was ist Fiktion?

“Jede Geschichte ist eine Erfindung. … Jedes Ich, das sich ausspricht, ist eine Rolle. … Unsere Gier nach Geschichten, … Vielleicht sind’s zwei oder drei Erfahrungen, was einer hat, … , das ist’s, was einer hat, wenn er von sich erzählt, überhaupt wenn er erzählt: Erlebnismuster - aber keine Geschichte. … Man kann sich selbst nicht sehen, das ist’s, Geschichten gibt es nur von außen, …, daher unsere Gier nach Geschichten. … Jeder Mensch erfindet sich früher oder später eine Geschichte, die er für sein Leben hält, sage ich, oder eine ganze Reihe von Geschichten.” (Frisch, 1964)

Dieser letzte Satz stellt die Quintessenz des Romans Meine Name sei Gantenbein dar. In diesem Roman probiert der Erzähler Geschichten an wie Kleider. Es dreht sich hier um einen Möglichkeitsspielraum verschiedener Identitäten. Gantenbein erinnert mich an meine verschiedenen Entwürfe von komischen Charakteren, mit welchen ich Kurzgeschichten entwarf: John, Lukas mit der Hornhaut, Old Man from the streets of Philadelphia. Neben diesen gibt es aber noch eine weitaus gewaltigere Form von Charakteren, welche meine ganzen Erlebens- und Verhaltensmuster prägten. Anfangs gab es eine Identifizierung mit Hermann Hesse. Er war für mich für kurze Zeit wie eine Vaterfigur und damals strebte ich danach, so wie er zu werden, kreativ, nachdenklich, spirituell und aber auch eigenbrötlerisch.

Auch im Roman Stiller (Frisch, 1960) ist der Hauptcharakter eine von sich entfremdete Person. Entfremdet aufgrund der Tatsache, da er sich mit den Bildern, die die soziale Gruppe ihn aufdrückt nicht identifizieren kann. Er versucht zu fliehen, vor sich selbst und den Erwartungen anderer und fliegt nach Amerika. Doch auch hier scheint ein Neuanfang nicht zu gelingen. Die Flucht vor sich selbst scheitert. Er nimmt seine Identität überall hin mit, mit all ihren Unzulänglichkeiten. Mein Umzug in die USA ist jetzt über 10 Jahre her, ich war damals 28, und Stiller lass ich vor meiner Abreise. Auch ich konnte nicht fliehen. Flucht unmöglich, das eigene Schicksal holt einem immer wieder ein.

"Ich glaube nicht an Fügung und Schicksal, als Techniker bin ich gewohnt, mit den Formeln der Wahrscheinlichkeit zu rechnen.” (Frisch, 1957)

Das sind die Worte von Walter Faber, ein weiteres Werk Frisch´s. Diese Worte sollen einen Glauben darstellen, das Leben vollständig berechnen zu können. Berechnen zu können, um das Leben vollständig zu begreifen. Nur das was man sieht, zählt, objektiv sozusagen. Das visuell wahrnehmbare ist beschreibbar und dafür werden Gesetze der Kausalität angewandt. Das bedeutet jedoch auch, dass diese Welt hermetisch abgeschlossen ist, nichts von außen kommt herein. Es gibt keine Störfaktoren. Dies erinnerte mich an meine eigene Philosophie der Implikationen. Ich wollte, oder versuchte es zumindest, den Menschen im Detail zu verstehen, so dass ich alle Schritte voraussehen konnte, vorausberechnen konnte. Jetzt im Rückblick war dies damals ein Zeichen einer ganz großen Angst. Angst, sich dem Leben voll und ganz hinzugeben, den wie es so schön heißt, nichts ist so beständig wie die Veränderung. Jetzt gewinnt Walter Faber angesichts des Todes Zugriff zum Leben. Ich finde das so spannend, denn es erinnert mich an sehr dunkle Zeiten in meinem Leben. Zeiten, in denen ich dem Tod sehr nahe war, und somit auch dem Leben. Es schien genau das zu brauchen, bei mir, für kurze Zeit. Eine Art Erdung, eine Art Orientierung. Daher entstand vor weit über 10 Jahren mein eigener Spruch:

Learn how to die - Learn how to live

Der Mittelpunkt von „Der Mensch erscheint im Holozän“ (Frisch, 1981) ist ein einsamer Mann, der Wissen zusammenträgt, als er bemerkt das sein Gedächtnis nachlässt. Die große Erkenntnis dieses Werkes besteht darin, dass die Natur nicht auf die von der Menschheit zusammengetragenen Erkenntnisse angewiesen ist. Ich erinnere mich an meinen intellektuellen Start mit ca. 19 Jahren. Ich begann zu lesen, später holte ich mein Abitur nach, dann studierte ich Psychologie. Ich schrieb ganz viel. In anderen Worten, ich fasste ganz viel zusammen. Vor nicht allzu langer Zeit nahm ich eine neue Angst war. Die Angst betrifft die Tatsache, das ein Menschenleben, mein Menschenleben zu kurz ist, um all das Wissen zusammenzutragen. Und auch wenn ich mich dem annähern sollte, wozu soll es gut sein. Diese Frage und mein mich Einlassen darauf, eine Antwort finden zu wollen, paralysierte mich fast sprichwörtlich. Ich saß fast komatös in der Wohnung und wusste nicht mehr aus noch ein. Dieses Gefühl der Angst wird auch sehr stark durch meine Philosophie der Implikationen befördert, nämlich alles verstehen zu wollen, alle Zusammenhänge verstehen zu wollen. Doch dieses Projekt gleicht einer Sisyphusarbeit. Es wird nie ein Ende finden, und darin liegt natürlich auch ein Reiz.

In Montauk schreibt Frisch (1981), das Leben sei langweilig und nur noch das Schreiben ermögliche ihm Erfahrung. Dieser Satz ging bei mir sehr tief, ich lese viel und ich schreibe auch. Beim Schreiben habe ich bemerkt, dass ich mich teilweise neu erfinde. Wobei neu erfinden stimmt nicht so ganz. Es gleicht eher einem Finden, einem Finden von Teilen, die da sind, aber unterhalb der Wahrnehmungsschwelle lagen und die durch diesen Prozess ans Tageslicht befördert wurden. Jetzt kann/darf ich diese Teile näher betrachten und daraus lernen. Am Ende des Buches geht Frisch auf das Todesbewusstsein ein, welches etwas anderes ist, als das Älterwerden. Das Todesbewusstsein, so wie ich es lese, bedeutet eine Vertiefung des Bewusstseins zum Leben. Und nun sind wir wieder beim Sterben lernen, Leben lernen angekommen. Wie geht das jetzt, bzw. gibt es dafür eine Anleitung?

Die folgenden Gedanken gehen zurück auf meinen alten Freund Peter Wieland, welcher mir diese, damals als die Stufen der Philosophie, nahelegte. Ich tauschte bei diesen Stufen das Pronomen “Es” mit “Ich” aus und fügte als fünfte Zeile die letzte Zeile von Erich Fried´s (1997) Gedicht ein. Folgend das Gedicht von Erich Fried:

"Was es ist
Es ist Unsinn sagt die Vernunft 
Es ist Unglück sagt die Berechnung 
Es ist nichts als Schmerz sagt die Angst 
Es ist aussichtslos sagt die Einsicht 
Es ist lächerlich sagt der Stolz 
Es ist leichtsinnig sagt die Vorsicht
Es ist unmöglich sagt die Erfahrung 
Es ist was es ist sagt die Liebe" (Fried, 1997)

Es ist was es ist, sagt die Liebe. Das ist wirklich wunderschön, denn in diesem Zustand erfahre ich Leichtigkeit, Gelassenheit, Sanftmut. In anderen Worten: Ich gebe mich dem Leben hin und genieße es, lebe es, umarme es, wie auch immer es ist. Das Gegenteil wäre Überidentifikation. Unter Überidentifikation verstehe ich ausnahmslose Fixierung auf etwas bestimmtes. Ein Beispiel hierfür wäre eine Person, die sich nur über Leistung definiert, was dazu führt, extrem viel zu arbeiten, um eventuell der Welt zu zeigen, wie großartig sie ist. Fällt diese Leistung jetzt weg, könnte ein Problem entstehen und diese Person fällt in ein tiefes Loch der Leere. Eine weitere Person definiert sich nur durch Äußerliches, einen makellosen Körper, teuere Kleidung, etc. Wird es nun, durch das Älterwerden schwer, diesen makellosen Körper aufrecht zu erhalten, oder durch einen finanziellen Einbruch schwer, sich diese teuren Kleider zu kaufen, könnte auch hier ein Problem entstehen. Eine Person kann sich aber auch darüber identifizieren, nur für andere zu leben, also dem klassischen Helfersyndrom gerecht zu werden. Vielleicht führt dies in den Burnout. Wir wissen es nicht. Es sind lediglich Thesen. Es gibt unzählige Beispiele dafür, wie eine übermäßige Identifikation zu Leiden führt, bzw. führen kann.

Mit dem Dreierschritt im Hinterkopf, Leiden-Lieben-Leben, könnte ich mich dem Ganzen so annähern. Ein Mensch lebt nicht, also leidet, weil er sich, das Leben und die Welt nicht wirklich liebt. Ich könnte dieses Leiden identifizieren und einen Gegenpol ausfindig machen und mich anhand der fünf Stufen des Seins der Liebe und dem Leben annähern. Ziel dieser fünf Stufen ist es, zu sehen, zu verstehen und auch zu erfahren, das ich mehr bin als nur “so”, oder "so oder so”, oder, "so und so”. Ziel ist es, zu erfahren, das ich “ganz ehrlich” voll in Ordnung bin, so wie ich bin.

Ich bin so!DogmaIch bin nur ok, wenn ich etwas leiste.
Ich bin so oder so!AmbivalenzIch kann entweder viel leisten, oder nur gar nichts tun.
Ich bin so und so!AmbiguitätIch kann arbeiten und schlafen, um mich zu erholen.
Alles andere klammere ich aus.
Ich bin so und so und …!IntegrationIch kann arbeiten, schlafen und Freude im Leben empfinden.
Ich bin!LiebeIch bin ok und denke nicht mehr darüber nach.

Diese gleiche Abfolge lässt sich aber nicht nur auf das Selbst anwenden, sondern auch auf die Welt mit all ihren Tatsachen, z.B. "es ist so = Wir leben im Kapitalismus". Ob das jetzt gut oder schlecht ist, oder beides, oder mehr als beides, lasse ich jetzt mal offen. Diese Sichtweise des "es ist so" führt dazu, meinen Standpunkt zu verteidigen, sobald er angegriffen wird und das ist etwas, was ich ständig beobachte. Menschen diskutieren bzw. reden nicht miteinander, sondern verteidigen ihre Standpunkte. Es bleiben aber immer noch Punkte und nicht das berühmte Feld von dem der Dichter Rumi spricht, in dem sich zwei Lebewesen begegnen. 

“Jeder möchte ein Herr dieses Lebens sein, keiner mag dienen; daran aber ginge mehr Leben zugrunde als am Verzicht auf eine Freude, den man einem Kind auferlegt. Es sind zu wenige, welche die Kraft haben, ohne Gehorsam auszukommen, und ein eigenes Ziel; allen andern ist es wohler so, sie leisten mehr, indem sie gehorchen. In Freiheit, jedes für sich, verderben sie auf eine ganz durchschnittliche Art und Weise, und damit ist niemand gedient, zuletzt ihnen selbst!” (Frisch, 2010)

Wenn es überhaupt eine Anleitung gibt, dann würde ich mir diese Entwicklung der fünf Stufen zu Herzen führen. Herr des Lebens sein bedeutet dann auch, eine eigene Stimme zu finden, wieder Kind zu werden, diesen anfänglichen Entdeckergeist der Welt zu reaktivieren. Ist es nicht genau das, was Kinder besonders gut können, im Moment sein, oder vollkommen in der Liebe sein mit dem, was sie da gerade tun. Liebe würde ich als eine Verbindung sehen und zugleich ein Loslassen von Identifikationen. Wie auch Hans Jürg Lüthi (1981) über das Werk von Frisch schreibt, ist nur die Liebe fähig das Bildnis aufzulösen, so sage ich, ist nur die Liebe fähig, die Identifikationen hinter sich zu lassen und offen zu sein, für all das was da ist und noch kommen mag.

“Es ist bemerkenswert, dass wir gerade von dem Menschen, den wir lieben, am mindesten aussagen können, wie er sei. Wir lieben ihn einfach. Eben darin besteht ja die Liebe, das Wunderbare an der Liebe, dass sie uns in der Schwebe des Lebendigen hält, in der Bereitschaft, einem Menschen zu folgen in allen seinen möglichen Entfaltungen. Wir wissen, dass jeder Mensch, wenn man ihn liebt, sich wie verwandelt fühlt, wie entfaltet, und dass auch dem Liebenden sich alles entfaltet, das Nächste, das lange Bekannte. Vieles sieht er wie zum ersten Male. Die Liebe befreit es aus jeglichem Bildnis. Das ist das Erregende, das Abenteuerliche, das eigentlich Spannende, dass wir mit den Menschen, die wir lieben, nicht fertigwerden: weil wir sie lieben; solang wir sie lieben.” (Frisch, 1950)

Abschließend frage ich dich. Welches Bild hast du von Dir? Wie ändert es sich? Gibt es klare und verschwommene Teile? Und, gab es auch Situationen oder Zeiten, in dem du dein Bild komplett vergessen hast? Falls dies angenehme Situationen waren, freue ich mich für dich.

Literatur

  • Fried, Erich (1997). Gedichte. München: dtv
  • Frisch, Max (1981). Der Mensch erscheint im Holozän. Frankfurt am Main: Suhrkamp
  • Frisch, Max (2010). Die Schwierigen oder J´adore ce qui me brûle. München: Carl Hanser
  • Frisch, Max (1957). Homo Faber. Frankfurt am Main: Suhrkamp
  • Frisch, Max (1964). Mein Name sei Gantenbein. Frankfurt am Main: Suhrkamp
  • Frisch, Max (1981). Montauk. Frankfurt am Main: Suhrkamp
  • Frisch, Max (1960). Stiller. Stuttgart Zürich Salzburg: Europäischer Buchklub
  • Frisch, Max (1950). Tagebuch 1946-1949. Frankfurt am Main: Suhrkamp
  • Lüthi, Hans Jürg (1981). Max Frisch. München: Francke Verlag