"Menschen brauchen keine Werkzeuge, die ihnen die Arbeit abnehmen. Menschen brauchen Werkzeuge, mit denen sie arbeiten können." Ivan Illich

Wir leben in einem Zeitalter der Information. Das ist ja einerseits gut, andererseits scheint unser Gehirn mit der schieren Menge an Information nicht mehr klar zu kommen. Es ist sprichwörtlich überlastet. Was nun?

Kognitiv apokalyptisch

2022 ist ein Buch erschienen: Kognitive Apokalypse von Bronner. Apokalypse? Dachte ich an das Ende der Zeit, an einen Weltuntergang? Hat sich eine Assoziation eingeschlichen? Eventuell. Aber darum dreht es sich nicht. Kein Untergang, sondern eher eine Offenbarung einer Blickweise. Eine Blickweise auf unsere freie Gehirnzeit. Wir haben laut Bronner heute achtmal so viel Freizeit wie 1800. Die große Frage, die sich jetzt stellt, ist, wie gehen wir mit unserer freien Hirnzeit um? Einst nahm die Industrialisierung dem Menschen schwere körperliche Arbeit ab. Nun nimmt die Digitalisierung dem Menschen stupide alltäglich sich wiederholende Arbeit ab. Wenn das mal nicht Fortschritt ist. Laut Bronner wird diese Freizeit heute nicht mit Sinnvollem, sondern mit kognitiven Unsinn verschwendet. Es läuft darauf hinaus, dass sich der digitale Kapitalismus auf eine kognitive Apokalypse hinentwickelt. Damit greift Bronner auch Ideen aus der kritischen Theorie nach Adorno, Horkheimer und Marcuse auf.

Kognitiv revolutionär

In den 1950er Jahren ereignete sich die kognitive Revolution. Das bedeutete ein Rückgang der behavioristischen Strömung hin zu der sogenannten black box. Die black box, alles was sich in unserem Gehirn und im Denken abspielt, rückte nun vermehrt in die Aufmerksamkeit. Der Geist wurde mit der Computermetapher umschrieben, er könne nur schrittweise Informationen verarbeiten, eben wie ein Computer. Noam Chomsky, ein Sprachwissenschaftler kritisierte die Sichtweisen von Burrhus Frederic Skinner zum Behaviorismus. Zu dieser Zeit führte auch Edwin Colin Cherry (1953), ein Kognitionswissenschaftler, Experimente zu Aufmerksamkeitsprozessen durch.

Wissenschaftler wie Cherry stellten sich die Frage, wie gut der Geist mit eingehenden Informationen umgehen kann. Was passiert z.B. wenn jemand mehrere Reize akustischer Art empfängt, worauf konzentriert sich die Person? Cherry führte dazu ein Experiment durch. Teilnehmern wurden zwei Botschaften gleichzeitig präsentiert. Eine Botschaft ans linke Ohr, die andere ans rechte Ohr. Die Teilnehmer wurden gebeten, sich nur auf eine der Botschaften zu fokussieren. Dies nennt sich ein dichotisches Hörexperiment. Cherry fand folgendes heraus: Wenn Menschen ihre Aufmerksamkeit auf die Botschaft (d.h. entweder linkes oder rechtes Ohr) richten, nehmen sie nicht mehr bewusst die andere Botschaft wahr. Was Teilnehmer berichteten waren Dinge wie: Unterschied zwischen männlich und weiblicher Stimme und das etwas gesagt wurde; was gesagt wurde blieb verborgen.

Neville Moray (1959) führte dazu, ähnlich wie Cherry, auch ein Experiment durch und konnte die Ergebnisse bestätigen. Er fügte dem Experiment noch etwas entscheidendes hinzu. Die Teilnehmer bekommen, wie auch in Cherrys Experiment, zwei Nachrichten, eine ans linke und eine ans rechte Ohr und werden gebeten sich auf eine Nachricht, z.B. linkes Ohr, zu fokussieren. Jetzt hat Moray dem Nicht-Fokus-Ohr den Namen des Teilnehmers präsentiert. Ein Drittel der Teilnehmer konnte den Namen erkennen. Das heißt, es ist möglich selektiv zuzuhören und trotzdem eine spezifische Nachricht heraushört, z.B. den eigenen Namen oder auch Wörter wie “Achtung”, “es brennt”, etc. 

Cherry und Moray untersuchten Aufmerksamkeitsprozesse auditiver Natur. Daniel Simons und Christopher Chabris (1999) untersuchten Aufmerksamkeitsprozesse visuelle Natur. Sie kreierten dafür eine Szene von 75 Sekunden mit zwei Teams mit jeweils drei Spielern. Eine Mannschaft (weiß gekleidet) spielte mit einem Basketball. Die andere Mannschaft (schwarz gekleidet) tat dies nicht. Nach 45 Sekunden erschien eine weitere Person, als Gorilla verkleidet, und lief durch das Bild für ca. 5 Sekunden. Diese ganze Szene wurde aufgenommen und Teilnehmern vorgespielt. Diese sollten den Basketball verfolgen und die Würfe im weißen Team zählen. Nach Beendigung der 75 Sekunden wurde sie gefragt, ob etwas ungewöhnlich war. Die Hälfte der Teilnehmer berichteten nicht von dem Gorilla. Dieses Experiment zeigt, wie einfach es nicht, etwas anderes was jedoch vor den Augen liegt, nicht zu bemerken, sofern ein starker Fokus auf ein Ereignis besteht. Diese Unaufmerksamkeitsblindheit bestätigt die begrenzte Verarbeitungskapazität des Gehirns.

Die Arbeit abnehmen

Wir alle haben unsere eigenen Modi, wie wir Aktivitäten ausführen, angefangen von der Art und Weise wie wir atmen, stehen, sitzen, gehen, eine Flasche zum Mund führen, die Zähne putzen, eine Gurke schneiden, in den Rückspiegel schauen, einen Brief schreiben, etc. Die Art und Weise wie wir all diese Dinge ausführen, obliegt jeden einzelnen Menschen. Jetzt lässt sich allerdings noch ein gravierender Unterschied abzeichnen. Der Unterschied besteht zwischen dem Wort bedienen und dem Wort hantieren. Diese alltäglichen Gewohnheiten unterliegen natürlich auch einem Wandel der Zeit. Vor nicht allzu langer Zeit haben Menschen ihre Wäsche am Fluss auf einem Waschbrett gerubbelt. Heute füllen sie eine Waschmaschine und drücken dann einen Knopf. Welcher Knopf nun gedrückt wird, wird fast zu einem kleinem Studium, denn es wäre sinnvoll, vorab die Bedienungsanleitung zu studieren, um nicht deinen geliebten Wollpullover auf Kindergröße schrumpfen zu lassen. Anstatt den Drehknopf der Heizung auf eine bestimmte Zahl zu stellen oder den Thermostat für die komplette Wohnung zu bedienen, ging man vor nicht allzu langer Zeit in den Keller und schaffte Holz und Kohle heran, um anzuschüren. Du kannst dies beliebig erweitern. Anstatt Kaffee aufzubrühen, drückst du eventuell einen Knopf am Vollautomaten. Anstatt selbst zu musizieren, drückst du eventuell auf einen Knopf an der Stereoanlage und die schönsten Töne erklingen.

Jetzt kannst du dich folgendes fragen. Herrschen eventuell die Dinge über mich? Denn wenn du das Ding nicht bedienen kannst, bist du ihm grundlos ausgeliefert. Es muss dem Ding ein Studium der Bedienungsanleitung vorangehen. Du magst jetzt einwenden, dass dies doch bequem wäre. Ich stimme Dir zu. Hat diese Bequemlichkeit eventuell einen Preis? Ja, Bequemlichkeit kostet. Die Geräte, welche du bedienst, kosten Geld. Dieses Geld musst du dir hart erarbeiten. Diese Geräte gehen eventuell regelmäßig kaputt. Dann brauchst du wiederum Geld für Reparaturmaßnahmen. Oder du schaffst dir gleich ein neues Gerät an. Für dieses Geld arbeitest du dann wieder viel. Du arbeitest für das Level der Bequemlichkeit, welches du haben möchtest. Das hört sich fast so an, als möchte ich all diese Bequemlichkeiten per Knopfdruck abschaffen? Sie schafften ja schließlich Freiraum für die wichtigen Dinge des Lebens. Was ist wichtig im Leben? Was ist Dir wichtig im Leben? Vielleicht genießt du das menschliche Miteinander, zusammensitzend unter einem Kastanienbaum in einem Cafe. Ich meine damit nicht, in ein Cafe zu gehen, um dort am Smartphone herumzuspielen, sondern wirklich das menschliche Miteinander. Ich bin mir sicher, Dir fallen noch hundert andere Beispiele ein.

Bedienen und Hantieren

Keine Sorge, wie schon gesagt, ich möchte diese Dinge nicht per Knopfdruck abschaffen, sondern dir lediglich einen Unterschied aufzeigen. Der Unterschied besteht zwischen dem Wort bedienen und dem Wort hantieren. Mittlerweile dürfte klar sein, wie sich eine Waschmaschine bedienen lässt und sich Wäsche rubbeln lässt, also wie du mit ihr hantieren kannst. Wenn ein Mensch mit etwas hantiert, benutzt er entweder seine Hände, oder ein Werkzeug. Feldenkrais ist auch ein Werkzeug, wenn auch ein ganz anderes. Es ist ein Werkzeug oder ein Medium, hin zu sich selbst. Mit Achtsamkeit und Bewegungen im Feldenkrais-Modus, lernst du dich selbst näher kennen. Du lernst deine feinsten Gewohnheiten kennen. Du findest heraus, wie du dich jeden Tag bewegst und du stehst nun vor der einmaligen Chance, dies zu ändern oder alles beim Alten zu lassen. Ich will dir noch ein Beispiel geben. Wenn dir der Kopf weh tut, greifst du dann zur Tablette oder regulierst du die Kopfschmerzen auf andere Art und Weise herunter? Bedienst du dich oder hantierst du mit dir? Ich weiß, manchmal ist dies schwierig, zum Beispiel in einem Business-Meeting auf dem Boden eine Feldenkrais-Lektion zu absolvieren, mag ein wenig komisch aussehen. Doch was ist mit all der Zeit vor bzw. nach diesem Business-Meeting. 

Was nun?

Laut Illich brauchen wir also Werkzeuge, mit denen wir arbeiten können, und damit ist nicht das Smartphone gemeint. Bei Feldenkrais lernen wir einen anderen Umgang mit uns, wir lernen uns tiefer kennen. Bronner schreibt in seinem Buch über die Entscheidung, was wir mit unserer freien Zeit anfangen können, um nicht in einer kognitiven Apokalypse zu enden. Kognitionswissenschaftler fanden heraus, dass die Fokussierung auf mehrere Dinge gleichzeitig als schwer machbar zu sein scheint. Ist jetzt, heute, alles schlecht und droht der Untergang? Ich denke, wir übertreiben mal wieder ein wenig. Es ist heute bestimmt nicht alles schlecht, aber es ist auch nicht alles gut. Es ist, wie immer mal, eine Mischung. So frage ich dich, welche Bestandteile gibst du dieser Mischung bei?

Literatur:

  • Bronner, Gérald (2022). Kognitive Apokalypse. Eine Pathologie der digitalen Gesellschaft. München: C.H. Beck
  • Cherry, E. C. (1953). Some experiments on the recognition of speech, with one and with two ears. Journal of the Acoustical Society of America, 25, 975–979.
  • Moray, N. (1959). Attention in dichotic listening: Affective cues and the influence of instructions. Quarterly Journal of Experimental Psychology, 11, 56–60.
  • Simons, D. J., & Chabris, C. F. (1999). Gorillas in our midst: Sustained inatten- tional blindness for dynamic events. Perception, 28, 1059–1074.