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Der narrative Mensch

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Der Mensch ist auch ein erzählendes Wesen. Diese Erkenntnis durchzieht unterschiedlichste wissenschaftliche Bereiche. Hinter dem Begriff Narration verbirgt sich weit mehr als das bloße Erzählen von Geschichten. Es geht um die grundlegende Fähigkeit des Menschen, Erfahrungen sprachlich und körperlich zu strukturieren, Bedeutung zu erzeugen und Identität zu formen.

Dabei wird in jeder Fachrichtung ein anderer Aspekt beleuchtet: Während in der Psychotherapie das Erzählen therapeutische Wirkung entfaltet, steht in der Psychologie die Konstruktion des Selbst im Vordergrund. Die Embodimentforschung wiederum macht deutlich, dass jede Erzählung auch eine verkörperte Dimension hat. Trotz dieser unterschiedlichen Schwerpunkte eint alle Perspektiven die Überzeugung, dass Narration ein zentrales Werkzeug menschlicher Sinnbildung ist.

Narration in der Psychotherapie

In der Psychotherapie bezieht sich Narration auf den Prozess, in dem Patient:innen ihre persönlichen Erlebnisse und Lebensgeschichten erzählen und dabei versuchen, Sinn in ihren Erfahrungen zu finden. Dabei wird das Erzählen als therapeutisches Mittel genutzt, um Konflikte, Traumata oder belastende Ereignisse zu rekonstruieren, neu zu deuten und in einen verständlichen Zusammenhang zu bringen. Folgende Aspekte stehen hier im Vordergrund.

Sinnfindung und Neuorientierung: Durch das Erzählen wird es möglich, einen kohärenten Lebensbogen zu konstruieren, der auch widersprüchliche Erlebnisse integriert. Dies fördert die psychische Stabilität, da die Patient:innen ihre Biografie als zusammenhängend und verständlich erleben.

Ressourcenaktivierung: Narrative Ansätze in der Psychotherapie legen oft einen Fokus darauf, positive, ressourcenreiche Teile der eigenen Lebensgeschichte hervorzuheben, um dadurch neue Perspektiven und Bewältigungsstrategien zu entwickeln.

Neukontextualisierung von Erlebnissen: Indem belastende oder traumatische Ereignisse in einen größeren persönlichen Kontext eingebettet werden, können sie umgedeutet und in ein entwicklungsförderndes, integriertes Selbstbild eingeordnet werden.

Narration in der Psychologie

In der Psychologie wird Narration vor allem als ein grundlegender Mechanismus betrachtet, durch den Menschen ihre Identität und ihr Selbstkonzept entwickeln. Hierbei stehen vor allem folgende Punkte im Vordergrund:

Selbstnarrative: Menschen konstruieren ihre Identität durch Geschichten, die sie über sich selbst erzählen. Diese Selbstnarrative beinhalten nicht nur Fakten, sondern auch emotionale und bewertende Aspekte, die Einfluss darauf haben, wie ein Individuum sich selbst und seine Lebenswelt wahrnimmt.

Trotz der situativen Wandelbarkeit unserer Identität erleben wir unser Selbst meist als kohärent und kontinuierlich. Dieses Erleben verdankt sich wesentlich unseren autobiografischen Erinnerungen, die wir zu Selbstnarrativen verweben. Diese Geschichten verbinden Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, schaffen Sinn, integrieren Ziele und bewältigen Brüche. Dabei sind sie subjektiv, selektiv und kulturell geprägt – etwa in ihrer Ausrichtung auf individuelle Selbstverwirklichung im Westen oder auf soziale Einbettung im Osten. Studien zeigen, dass bestimmte narrative Themen – etwa Erlösung – in bestimmten Kulturen häufiger vorkommen. Selbstnarrative helfen uns, Veränderungen zu integrieren und uns trotz aller Widersprüchlichkeit als dieselbe Person zu begreifen (McAdams, 2008).

Kognitive Verarbeitung: Narrative helfen dabei, Erfahrungen zu strukturieren und kognitiv zu verarbeiten. Sie bieten Rahmen, um komplexe und oftmals chaotische Lebensereignisse zu ordnen und in ein sinnvolles Muster einzuordnen.

Soziale Konstruktion: Erzählungen sind auch sozial verankert. In der Interaktion mit anderen werden Lebensgeschichten ausgehandelt und geteilt, wodurch kollektive und kulturelle Bedeutungen entstehen, die das individuelle Selbstverständnis prägen.

Ein besonders einflussreicher Vertreter dieser Sichtweise war der amerikanische Psychologe Jerome Bruner. In seinem Werk Acts of Meaning (1990) argumentierte er, dass Menschen ihre Welt primär durch narrative Formen verstehen – nicht durch abstrakte logische Strukturen. Geschichten bieten einen kontextualisierten Zugang zur Realität, der sowohl kulturell geprägt als auch individuell ausgestaltet ist. Bruner zufolge sind es die Erzählungen, durch die Menschen Sinn stiften, Handlungen interpretieren und ihr Selbst im sozialen Raum verorten. Damit lieferte er eine wichtige Grundlage für das Verständnis von Narration als identitätsbildendem Prozess in der Psychologie.

Narration in der Embodimentforschung

Die Embodimentforschung legt den Fokus darauf, dass nicht nur kognitive und sprachliche Prozesse, sondern vor allem auch körperliche Erfahrungen zentral sind, um Bedeutung zu konstruieren. Hier wird Narration vor allem folgendermaßen verstanden.

Verkörperte Erfahrung: Narration umfasst nicht nur das gesprochene oder geschriebene Wort, sondern auch nonverbale, körperliche Ausdrucksformen wie Gestik, Mimik und Bewegung. Diese körperlichen Elemente tragen wesentlich dazu bei, wie Geschichten erlebt und erinnert werden.

Integration von Körper und Geist: In der Embodimentforschung wird betont, dass Erlebnisse immer sowohl im Körper als auch im Geist verankert sind. Das bedeutet, dass das Erzählen von Geschichten stets auch eine sensorische und emotionale Komponente hat – etwa in Form von körperlichen Empfindungen, die beim Erinnern oder Neubewerten von Ereignissen auftreten.

Das Selbst als verkörperter, intersubjektiver und narrativer Prozess: Diese Idee wird besonders eindrücklich durch den Philosophen und Psychiater Thomas Fuchs vertreten, der in seiner phänomenologischen Psychiatrie das Gehirn als ein „Beziehungsorgan“ beschreibt. Fuchs argumentiert, dass das Selbst nicht als isolierte innere Instanz verstanden werden kann, sondern sich immer in einem verkörperten Prozess zwischen Körper, Umwelt und anderen Menschen bildet. Narration ist hier kein rein innerer Vorgang, sondern ein Prozess, der im sozialen und körperlichen Kontext eingebettet ist. Somit entsteht Identität als ein dynamischer, körperlich erfahrbarer und relationaler Prozess (Fuchs, 2010).

Felt Sense und Felt Shift: Bedeutung als verkörperter Prozess

Ein besonders eindrückliches Beispiel dafür, wie tief Narration in somatisches Erleben eingebettet ist, liefert die Arbeit des Philosophen und Psychotherapeuten Eugene T. Gendlin. In seiner wegweisenden Theorie des Focusing beschreibt Gendlin (1997), dass Veränderung und Sinn nicht allein durch kognitives Nachdenken entstehen, sondern durch einen direkten Bezug zum körperlich empfundenen Erleben – dem sogenannten felt sense.

Der felt sense ist ein vages, oft schwer zu benennendes, aber deutlich spürbares körperliches Empfinden, das sich auf eine bestimmte Lebenssituation, ein Problem oder eine innere Haltung bezieht. Dieses Empfinden enthält implizites Wissen – eine Art „Bedeutung in roher Form“, die sich dem bewussten Zugriff erst allmählich öffnet. Durch achtsames Innehalten, sprachliche Annäherung und das Verweilen beim Erlebten kann sich die Bedeutung dieses felt sense klären. Wenn dies gelingt, zeigt sich oft ein sogenannter felt shift – ein spürbarer Wechsel im inneren Erleben: Der Atem geht tiefer, Spannung löst sich, neue Einsichten tauchen auf. Gendlin beschreibt dies als körperlich erfahrbaren Indikator dafür, dass eine zuvor diffuse oder festgefahrene Erfahrung in einen neuen Sinnzusammenhang eingebettet wurde.

Narration – verstanden als das In-Worte-Fassen von innerem Erleben – spielt in diesem Prozess eine zentrale Rolle. Sie ist kein rein kognitiver Vorgang, sondern ein körperlich vermittelter, schöpferischer Akt: Im Wechselspiel von gespürtem Empfinden und Sprache entsteht Bedeutung. So gesehen sind Geschichten, die Menschen über sich und ihre Erfahrungen erzählen, nicht einfach lineare Berichte, sondern lebendige Prozesse der Sinn- und Selbstbildung, tief verwurzelt im Körper.

Diese Perspektive hat weitreichende Implikationen für Psychotherapie, Coaching und Beratung: Veränderung geschieht nicht allein durch Einsicht, sondern durch das leiblich gespürte Verstehen – durch ein inneres „Ja, genau das ist es“, das sich nicht nur denken, sondern vor allem spüren lässt.

Zusammenfassung

Zusammengefasst lässt sich sagen, dass Narration in der Psychotherapie als therapeutischer Prozess genutzt wird, um Lebensgeschichten zu rekonstruieren und Heilungsprozesse zu initiieren. In der Psychologie bildet das Erzählen von persönlichen Geschichten einen zentralen Bestandteil der Identitäts- und Sinnkonstruktion. Die Embodimentforschung erweitert diesen Ansatz, indem sie aufzeigt, dass Narrative stets auch körperliche Dimensionen beinhalten, die wesentlich zur Verarbeitung und Neubewertung von Erlebnissen beitragen. Alle diese Perspektiven unterstreichen, wie essenziell das Erzählen ist, um Erlebnisse zu strukturieren, zu verstehen und letztlich in einen sinnvollen Zusammenhang zu bringen.

Reflexionsfragen (für Interessierte)

  • Welche Geschichten erzähle ich mir immer wieder – und wie beeinflussen sie mein Selbstbild?
  • Wann spüre ich beim Erzählen einen „felt shift“ – und was bedeutet das für mich?
  • Gibt es Erlebnisse, die ich körperlich noch nicht integriert habe, obwohl ich sie schon oft erzählt habe?

Übung: Erzählen & Spüren

Erzähle dir selbst oder einer vertrauten Person eine Geschichte über ein prägendes Erlebnis. Nimm dabei bewusst wahr:

  • Welche Worte fühlen sich stimmig an?
  • Wo im Körper spürst du Resonanz, Spannung oder Erleichterung?
  • Was verändert sich, wenn du etwas umformulierst?

Literatur:

  • Bruner, J. (1990). Acts of Meaning. Cambridge, MA: Harvard University Press.
  • Fuchs, T. (2010). Das Gehirn – ein Beziehungsorgan: Eine phänomenologisch-ökologische Konzeption. Stuttgart: Kohlhammer.
  • Gendlin, E. T. (1997). Focusing: Das Entscheidende ist das Körpergefühl. München: Kösel
  • McAdams, D. P. (2008). Personal narratives and the life story. In O. P. John, R. W. Robins, & L. A. Pervin (Eds.), Handbook of personality: Theory and research (pp. 242–262). New York: Guilford.

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