Das Bild ist also nicht das Land. Es war in der Tat noch nie der Fall und höchstwahrscheinlich wird dies auch nie der Fall sein. Stop! Wobei ich natürlich nicht weiß, was in 500 Jahren der Fall sein wird. Für jetzt aber, könnte man sagen, das Bild ist nicht das Land. Und dies könnte eventuell in ein paar Monaten immer noch der Fall sein, wer weiß, was die Neurowissenschaften entdeckt in den nächsten Jahrzehnten. Dieses Bild kann leider auch, und davon möchte ich hier schreiben, auch Konsequenzen mit sich bringen. Diese Konsequenzen können mit narzisstischen Tendenzen einhergehen. Dazu gleich mehr.

Woher nehme ich diesen Spruch “Das Bild ist nicht das Land”?

Ich nehme diesen Spruch bzw. diesen Gedanken aus dem Konstruktivismus. Der Konstruktivismus beschreibt in Kürze, dass wir uns Bilder von der Realität machen, diese jedoch nicht die Realität darstellen. Ich könnte es mal so sagen, wir nähern uns der Realität an. Es ist wie eine Landkarte. Eine Landkarte in unserem zentralen Nervensystem, in unserem Gehirn. Diese Annäherung entspricht eher einer Interpretation. Und genau hier liegt der entscheidende Punkt. Interpretation ist nicht Realität. Interpretation ist abhängig von der Wahrnehmung. Unsere Wahrnehmung wird durch jede Sekunde unseres Leben geprägt. Entwicklungspsychologisch gesprochen wären dies dann die Erlebens- und Verhaltensmuster. Handlungen, also Verhaltensmuster, basieren sozusagen auf diesem Bild, aber nicht dem Land. Verhaltensmuster basieren auf dem, was wir wahrnehmen, was nie der kompletten Realität nahekommt. So viel erst einmal dazu.

Machen wir weiter. Wenn ich von Bild spreche, kommt mir der Begriff “Bildnis” und der kommt von Max Frisch. Ich feiere ihn, neben Hermann Hesse, Siegried Lenz, Albert Camus und anderen. Frisch schreibt darüber in einen seiner Tagebücher. Hier ein kurzer Auszug.

Das Bildnis und Max Frisch

“Es ist bemerkenswert, dass wir gerade von dem Menschen, den wir lieben, am mindesten aussagen können, wie er sei. Wir lieben ihn einfach. Eben darin besteht ja die Liebe, das Wunderbare an der Liebe, dass sie uns in der Schwebe des Lebendigen hält, in der Bereitschaft, einem Menschen zu folgen in allen seinen möglichen Entfaltungen. Wir wissen, dass jeder Mensch, wenn man ihn liebt, sich wie verwandelt fühlt, wie entfaltet, und dass auch dem Liebenden sich alles entfaltet, das Nächste, das lange Bekannte. Vieles sieht er wie zum ersten Male. Die Liebe befreit es aus jeglichem Bildnis. Das ist das Erregende, das Abenteuerliche, das eigentlich Spannende, dass wir mit den Menschen, die wir lieben, nicht fertigwerden; weil wir sie lieben, solang wir sie lieben. (…) Unsere Meinung, dass wir das andere kennen, ist das Ende der Liebe, jedesmal, aber Ursache und Wirkung liegen vielleicht anders, als wir anzunehmen versucht sind – nicht weil wir das andere kennen, geht unsere Liebe zu Ende, sondern umgekehrt: weil unsere Liebe zu Ende geht, weil ihre Kraft sich erschöpft hat, darum ist der Mensch fertig für uns. Er muss es sein. Wir können nicht mehr! Wir künden ihm die Bereitschaft, auf weitere Verwandlungen einzugehen. Wir verweigern ihm den Anspruch alles Lebendigen, das unfassbar bleibt, und zugleich sind wir verwundert und enttäuscht, dass unser Verhältnis nicht mehr lebendig sei. "Du bist nicht", sagt der Enttäuschte oder die Enttäuschte, „wofür ich Dich gehalten habe." Und wofür hat man sich denn gehalten? Für ein Geheimnis, das der Mensch ja immerhin ist, ein erregendes Rätsel, das auszuhalten wir müde geworden sind. Man macht sich ein Bildnis. Das ist das Lieblose, der Verrat.” (Frisch, 1950, S. 31f.)

Ich liebe diese Zeilen. Sie wurden mir so oft zu teil. Ich weinte. Und wieder rühren sie in mir Tränen. Tränen aus der Tiefe. Jetzt wo ich dies schreibe. Es ist einfach so unglaublich gut, was Max Frisch da schreibt. So unglaublich gut. Weinst du auch, wenn du das liest? Was macht es mit Dir? Die Liebe, ja die Liebe, sie befreit uns von dem Bildnis. In der Tat. Sie bringt Ruhe mit sich, sie bringt Gelassenheit und vor allem eins, Demut. Vielleicht auch Mut zur Demut. Ganz viel Mut zur Demut. 

Wir machen uns also Bilder. Diese Bilder sind Annäherungen an die Realität. Ja, ich kann es nicht leugnen, Annäherungen, nicht mehr und auch nicht weniger. Und die Liebe vermag zu helfen, dieses Bild loszulassen, oder diesem Bild nicht dem Stempel der Objektivität anzulasten. Jetzt machen wir uns nicht nur Bilder, sondern geben diese Bilder auch weiter. Ist das jetzt gut oder schlecht? Gute Frage.

Wir übertragen auch Bilder

Robert Havighurst (1972) sieht Entwicklung als einen Lernprozess. Dieser erstreckt sich über die komplette Lebensspanne. Der Mensch wird dabei als aktiver Lerner angesehen. Aktiv in dem Sinne, dass er mit der Umwelt im Austausch steht. In dieser Entwicklung stellen sich Aufgaben. Havighurst hat dazu ein Modell aufgestellt, welches in Altersbereiche aufgeteilt ist. Diese Entwicklungsaufgaben entspringen aus drei Quellen: da wären biologische Reifungsprozesse, kulturelle Normen bzw. Erwartungen und individuelle Ziele bzw. Werte. So gibt es z.B. das frühe Erwachsenenalter (von 23-30 Jahren), welches mit folgenden Aufgaben einhergeht: Heirat, Geburt von Kindern, sowie Arbeit und Lebensstil festlegen. Viele Menschen kommen diesen Dingen nach und das ist auch total in Ordnung. Menschen finden sich und gehen eine Beziehung ein und zeugen Kinder.

Jetzt ist es allerdings manchmal auch so, dass Eltern für ihre Kinder alles geben, also das Beste wollen für ihre Kinder. Dieses Beste kommt aus dem gesammelten Erfahrungsschatz dieser Eltern. Dieses Beste ist somit subjektiv, gebunden an diese beiden Menschen. Diese beiden Menschen haben ein Bild. Emotionale Vorstellungen untermauern dieses Bild und dies beeinflusst die Beziehung zum Kind. Was macht dies nun mit dem Eigensinn des Kindes?

Das Eigenleben des Kindes

Jedes Kind lebt in seiner ganz eigenen Weise. Jedes Kind ist einzigartig in seiner Art. In dieser einzigartigen Art möchte dieses Kind natürlich auch gefördert werden. Aber auch, gefordert werden. Denn durch Forderung, Reibung und Widerstand entsteht ein Mensch, ein erwachsener Mensch. 

So schreibt Hesse. “Jede Art ist ebenso richtig wie jede andre Art, jede ist ein Stück Leben. Sie sollten vielmehr fragen: Da ich nun einmal so bin wie ich bin, da ich diese Bedürfnisse und Probleme in mir habe, die so vielen andern scheinbar ganz erspart bleiben - was muß ich tun, um dennoch das Leben zu ertragen und womöglich etwas Schönes aus ihm zu machen? Und die Antwort darauf wird, wenn Sie wirklich auf die innerste Stimme hören, etwa so sein: Da du nun einmal so bist, solltest du andre wegen ihres Anderssein weder beneiden noch verachten, und sollst nicht nach der Richtigkeit deines Wesens fragen, sondern sollst deine Seele und ihre Bedürfnisse ebenso hinnehmen wie deinen Körper, deinen Namen, deine Herkunft etc.: als etwas Gegebenes, Unentrinnbares, wo man Ja sagen und wofür man einstehen muß, und wenn auch die ganze Welt dagegen wäre.” (Hesse, 2002, S. 9f.)

Ja sagen zur Individualität, zur Individuation, zum ganz eigenen Dasein, komme was wolle, und wenn die ganze Welt dagegen ist. Ich verziehe kurz die Mundwinkel. Die ganze Welt dagegen? Das könnte ein wenig anstrengend sein, ein wenig! Wenn Eltern jetzt allerdings ihr Vorstellungen, ihr Bild, auf das Kind übertragen, so kann manchmal vieles schief gehen. Schief kann hier sprichwörtlich verstanden werden. Schief im Sinne von nicht gerade. Schief im Sinne von nicht zu sich stehend. Stehend im Sinne von standhaft, aufrecht, sich bejahend, mit allen Facetten. Mit allen Facetten, denn dann braucht es keine Fassade mehr. Was meine ich damit?

Narzisstisches Leid

Eltern übertragen also ihre Erwartungen auf die Selbststeuerung des Kindes, was sich in folgenden Aspekten zeigen könnte (Eidenschink, 2024, S. 32):

  • Unsere Tochter ist die Klügste = Überlegenheit.
  • Ist sie nicht zauberhaft = Bewunderung.
  • Er hat so unglaublich viele Talente, wir wissen gar nicht wohin damit = Entgrenzung.
  • Er kann viel mehr als alle anderen in seiner Altersklasse = Großartigkeit.

Was passiert nun? Da sind nun die Eltern, welche sich ein Bild gemacht haben, bzw. an einem Bild festhalten, und zwar ihrem Bild. Wir hatten anfangs gesagt, das Bild ist nicht das Land. Das Bild entspricht nicht der Realität. Das Bild der Eltern ist das, was die Eltern für richtig halten. Aber hält dies auch das Kind für richtig? Hmm, wahrscheinlich nicht, doch womöglich hat das Kind überhaupt kein Mitspracherecht, denn das Kind passt sich notwendigerweise an. Das machen Kinder nun mal, auch wenn ihnen unrecht getan wird, sie passen sich an. Das ist eine Überlebensstrategie. 

Das es sich hier nicht um Erziehung handelt, sondern um Unterwerfung, muss ich glaube ich nicht erwähnen. “Das Kind lernt, dass ihm gefallen muss, was man ihm angedeihen lässt. Es muss nehmen, ohne selbst gewollt zu haben” (Eidenschink, 2024, S. 34). Vielleicht möchte das Kind malen und künstlerisch tätig sein, doch es wird zum Sport gezwungen. Vielleicht möchte es mit anderen spielen, doch es muss Unkraut jäten und im Garten mitarbeiten. Vielleicht möchte es lieber rosa anziehen als Junge, doch es wird schief angesehen, die Kleidung wird weggesperrt und es bekommt, so wie es sich gehört, nämlich blau. 

Jetzt ist es ja so, dass Kinder ihre Eltern nicht enttäuschen möchten, denn Enttäuschung geht einher mit Schamgefühlen. Und welches Kind möchte sich schon schämen. Was hier aberzogen wird, ist die eigene Stimme, die sich gerade entwickelt. Die eigene Stimme entwickelt sich im Austausch mit der Umwelt. In der Entwicklungspsychologie nennen wir das Exploration. Exploration schafft einen Kennenlernen des Selbst. Es schult die Selbstwahrnehmung. Es schafft Differenzierung, d.h. Fremdwahrnehmung. Unterscheiden, was mag ich, was mögen die anderen, und beides ist in Ordnung. Das Kind wird nun erwachsen und will von anderen, dass diese die Welt genau so sehen, wie es selbst die Welt sieht. Und wen dem nicht der Fall ist? Dann, na ja, dann könnte dies ziemlich viel Konfliktpotential mich sich bringen. Konflikte mich sich und der Umwelt, Konflikte in menschlichen Interaktionen.

Ich schrieb vorher von Facetten und von Fassaden. Fassadenkompetenz soll meinen, dahinter ist etwas, ein einzigartiger Mensch mit vielen Facetten. Die Fassade blockt dies allerdings ab. Die Fassade gibt ein Bild von sich, welches nicht echt ist, welches nicht dem Inneren entspricht, doch das Innere ist sehr oft verborgen, denn es wurde so geformt, durch den Willen der Eltern. Sind die jetzt schuldig? Nein, sind sie nicht. Sie taten es, wie es nun einmal war. 

Und nun?

Menschen machen sich Bilder und sie geben diese Bilder auch weiter. Ist das jetzt gut oder schlecht? Weder noch. Es ist wie es ist. Wenn ein Mensch sich dessen bewusst ist, entsteht ein Raum zwischen Reiz und Reaktion. Es besteht die Möglichkeit in diesem Raum, anders zu handeln. Dieser Raum ist ein Innehalten, ein Wahrnehmen durch Ruhe, ein Entdecken der inneren Stimme. Dieser Raum macht den Unterschied, welcher den Unterschied macht. Es fängt mit einem Erkennen an. Dieses Erkennen ist manchmal an Langsamkeit gebunden, denn wer langsam geht, entdeckt mehr, viel mehr. Und vielleicht ist es genau wie Max Frisch sagte, es ist die Liebe, die uns in der Schwebe des Lebendigen hält.

Literatur:

  • Eidenschink, Klaus (2024). Es gibt keine Narzissten! Nur Menschen in narzisstischen Nöten. Heidelberg: Carl Auer Verlag
  • Frisch, Max (1950). Tagebuch 1946-1949. Frankfurt am Main: Suhrkamp
  • Havighurst, Robert J. (1972). Developmental tasks and education. Boston: Addison-Wesley Longman Ltd.
  • Hesse, Hermann (2002). Eigensinn macht Spaß. Frankfurt am Main: Suhrkamp

Bilder:

  • Foto von Vince Fleming auf Unsplash