Streit gibt es in vielen Beziehungen. Manchmal ist der Streit so groß, dass er die Beziehung belastet. Manchmal ist er noch größer, dass es schier unmöglich scheint, diesen Graben zu überbrücken. Gestritten wird über kleine Dinge, sowie auch über große Dinge. Was ist klein? Wohnung ohne oder mit Teppich. Was ist groß? Impfen lassen oder nicht impfen lassen zwecks Covid. Ja, in der Tat, die Covid Zeit hat so manche Überraschungen mit sich gebracht. Manche lassen sich impfen, manche eben nicht. Jeder hat dazu eine Meinung, bzw. eine Ansicht. Problematisch wird es genau dann, wenn diese Ansicht für 100 % wahr genommen wird. D.h. alles andere wird nicht gelten gelassen. Ach ja, noch etwas. Was klein oder groß ist, unterliegt weniger einer objektiven Bewertung, sondern einer subjektiven Bedeutung. Daher sage ich folgendes:

„Sei umsichtig mit den Ansichten“

Ansichten sind Standpunkte. Jetzt kann jemanden mehrere Ansichten haben, somit mehrere Standpunkte haben. Oder jemand hat keine Ansichten. Was erscheint dann? Vielleicht Bewusstheit, Präsenz, Gewahrsein. Wenn dem so ist, so würde ich mich so sehr für dich freuen.

Sich gewahr zu sein, bedeutet so viel wie, sehen und nicht bewerten, nicht einteilen, nicht urteilen, einfach nur stehen lassen. Ist das möglich? Ja, das ist möglich. Ich habe es selbst erfahren, ich habe es erlebt und ich mache das. Jedoch nicht immer. Immer wieder falle ich auch in diese Falle. Und wenn ich dann da drin bin, scheint es wenig Ausweg zu geben, außer die Distanzierung, welche dazu führt, wieder zu entspannen und eventuell eine andere Ansicht anzusehen. 

Standpunkte sind immer auch Punkte. Also ein Punkt, auf dem ein Mensch steht und von dem dieser Mensch die Welt und das Leben betrachtet. Standpunkte, ergo Punkte, sind nur Teile des Raums. Wenn auch sehr kleine Teile, geben sie doch Orientierung und Begrenzung. Orientierung aufgrund Begrenzung. Begrenzungen sind sinnvoll und manchmal sogar heilend, doch manchmal grenzen sie so sehr ein, dass Lebendigkeit weicht.

Vor längerer Zeit wurde mir ein Buch geschenkt, von Gary Douglas und Dain Heer (2012). In diesem Buch wird über verschiedenste Dinge gesprochen. Es handelt von der Freiheit. Was mich interessierte, ist das Kapitel mit den Ansichten. In der Tat fand ich dieses Kapitel sehr interessant.

Sie schreiben: „Es geht nicht darum, was du beschlossen hast, was eine interessante Ansicht sein sollte, es geht um jeden einzelnen Gedanken, jedes einzelne Gefühl, jede einzelne Emotion, die du hast!” (Douglas & Heer, 2012)

Erinnere dich mal an Kinder. Kinder haben diese Ansicht noch, Erwachsene nicht mehr, leider. Bei der Feldenkrais Arbeit ist diese Sichtweise sehr hilfreich, nämlich immer wieder einen frischen Geist zu haben, die Dinge zu betrachten. Wir nennen das Zen Geist – Anfänger Geist.

Jetzt möchte ich, dass sich jemand ändert. Wird das funktionieren? Wird mein Gegenüber sich ändern? Wie soll das funktionieren? Nehmen wir das Beispiel mit Covid, die Impfung. Gehen wir davon aus, du bist mit jemanden befreundet und ihr habt diametrale Ansichten. Du bist für die Impfung, dein Gegenüber gegen die Impfung. Jeder von beiden ist sehr von der Ansicht überzeugt, und hat natürlich die besten Gründe, wissenschaftlich versteht sich. Auf beiden Seiten kann man alles wissenschaftlich sehr gut beweisen. Und nun werden Argumente ausgetauscht. Es wird hitzig, es wird lauter, es wird aggressiver, die Beziehung droht zu zerbrechen, im schlimmsten Fall fliegen die Fäuste. Das letzte hoffe ich doch mal nicht, aber es ist ja nicht so, als wäre dies noch nie vorgekommen. So, ich möchte also, das jemand sich ändert. Wie geht das nun weiter?

In dem ich mein Gegenüber zwinge, eventuell mit Gewalt? Nein, keine gute Idee. Mein Gegenüber mag vielleicht mitgehen, doch ist es keine freie Wahl. Vielleicht, in dem ich meine Gegenüber manipuliere? Auch keine gute Idee. Mein Gegenüber wird sehr wahrscheinlich mitgehen, doch es ist immer noch keine freie Wahl. In dem ich meinem Gegenüber Optionen anbiete? Gute Idee, was ist, wenn keine Option dabei ist, die dem Gegenüber gefällt? In dem ich einfach nur ich bin und die Dinge sein lasse. Wahrscheinlich die beste Idee, denn hier kann eine freie Wahl entstehen.

Herr Douglas und Herr Heer propagieren die interessante Ansicht. Wie vorher schon erwähnt, es geht nicht darum, was du beschlossen hast, was interessant ist und was eben nicht, sondern eher darum, Offenheit zu leben. 

„Viele Menschen denken, dass sie anderen näherkommen können, indem sie ein großes Problem haben, das nicht gelöst werden kann. Also musst du fragen: „Versuche ich ein Problem zu lösen, das diese Person nicht zu lösen wünscht? Was geht hier wirklich vor?“Das ist der ganze Sinn der interessanten Ansicht. Wenn du dieses Werkzeug benutzt, kannst du sehen, was wirklich vor sich geht. Wenn du keine interessante Ansicht hast, wirst du eine Ansicht wählen, die das Gewahrsein eliminiert, das du darüber haben könntest, was wirklich vor sich geht. Wenn du das tust, kannst du nur aus dieser einen Sicht heraus sehen; du kannst nicht sehen, was sich tatsächlich ereignet.“ (Douglas & Heer, 2012, S. 47f.)

Eine interessante Ansicht schafft einen Raum von Leichtigkeit. Eine interessante Ansicht ist auch, zu realisieren, dass ich nur mich ändern kann. Ich habe in der Welt Mitspracherecht, indem ich meine Gewohnheiten ändere, sofern ich das möchte. Also, beim nächsten Mal, wenn dir etwas nicht passt und du vielleicht gerade keine Energie hast für endlose Diskussion, sage doch einfach, “das ist eine interessante Ansicht”, und beobachte in dir, was passiert. Wichtig dabei ist, keine Hintergedanken dabei zu haben, sondern sich einfach diesen Prozess hinzugeben, also diesen Satz auszusprechen.

Du kannst ja auch gerne mal eine Trockenübung machen, d.h. vielleicht siehst du etwas in den Nachrichten, was dich tierisch auf die Palme bringt. Spreche doch einfach mal laut den Satz aus, “das ist eine interessante Ansicht” und beobachte dich. Vielleicht stellst du Wut fest, Wut gegenüber dem anderen Menschen, der eine andere Ansicht hat. Jetzt wäre die Frage, willst du weiter in dieser Wut leben? Ganz ehrlich, willst du das wirklich, dann viel Spaß damit. Lebe weiter in der Wut. Du wirst wahrscheinlich alle Konsequenzen dafür auch einstecken müssen, und diese wird es ganz bestimmt geben, wie auch immer sie ausfallen. 

Was mache ich denn nun, wenn mein Gegenüber wütend wird, wenn ich diese Sichtweise anwende? Eine Ansicht haben, bedeutet einen Standpunkt haben, bedeutet Farbe bekennen, bedeutet angreifbar sein, denn Punkte sind angreifbar. Jetzt ist es so, dass manche Menschen regelrecht darauf aus sind, Standpunkte anzugreifen, es ist ihre Lebensaufgabe. Eine interessante Ansicht haben ist jedoch schon eine Präsenz, welche mehreres gelten lässt. Es ist nicht explizit an Sprache gebunden und das ist der wichtige Punkt. Es ist eine Verkörperung, eine Präsenz, eine Haltung, die nonverbal super wirkt.

„Der ganze Sinn der interessanten Ansicht ist, dass du eine Wahl hast.“ (Douglas & Heer, 2012, S. 70)

In der Tat, du hast wirklich die Wahl. Genau diese Wahl schafft einen Abstand. Genau dieser Abstand lässt dich aufatmen und nicht in den verbalen Krieg ziehen. Genau dieser Abstand schafft Distanzierung, schafft Abgrenzung, dies zwar nicht über Nacht, doch immer wieder angewandt, könnten sich eingefahrene Glaubenssätze verflüssigen und sich vielleicht sogar auflösen. Warum? Ich würde mal sagen, für ein friedlicheres Leben. Für mehr Freiheit und schließlich auch für mehr Verbindung.

Vielleicht ist es wie mit der Brille im Bild. Du wechselst die Brille und plötzlich, boom, ist alles anders. Auf die neue Brille.

Literatur:

  • Douglas, Gary M. & Heer, Dr. Dain (2012). Die Zehn Schlüssel zur absoluten Freiheit. Stafford: Access Consciousness Publishing LLC

Bilder:

  • Foto von Bud Helisson auf Unsplash